Читать книгу Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war - Wolfgang Teltscher - Страница 6

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Was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte, wusste er nicht. Es lohnte sich auch nicht, darüber nachzudenken, denn es war nicht mehr viel davon übrig. Also saß er in seinem alten VW und döste vor sich hin. Nachts stellte er oft sein Auto auf diesem Gelände um das alte Gebäude ab. Das kostete nichts und ersparte ihm die Suche nach einem Parkplatz. Sein Zuhause war eine Zweizimmerwohnung mit Kochnische in einem unspektakulären älteren Haus, dessen andere Zimmer von dem Eigentümer bewohnt wurden. Ein Parkplatz war nicht Teil seiner Miete. Er würde gern so komfortabel wie die meisten Leute in Remagen wohnen, konnte sich eine bessere Wohnung jedoch wegen ständiger finanzieller Engpässe nicht leisten. Zu den wenigen Freuden, die sein bisheriges Leben lebenswert gemacht hatten, gehörten zwei Freundinnen, aber beide Beziehungen hatten nur kurz angedauert. Das hatte vor allem an ihm selbst gelegen, das hatte er ohne Bedauern akzeptiert, er hatte einer Frau nämlich nicht bieten können, was sie von ihrem Mann erwarten durfte. Er hatte sich daher damit abgefunden, allein durch das Leben zu gehen. Natürlich wäre es schön, jemanden für regelmäßigen Sex zu haben, aber was nicht war, war halt nicht, und für den Notfall gab es ja auch andere Möglichkeiten.

Er blickte durch die Windschutzscheibe. Es fing an zu nieseln, ein weiterer Grund, im Auto sitzen zu bleiben. Der Mai war vor einer Woche gekommen, die Nächte waren jetzt mild genug, dass man es ohne laufenden Motor und Heizung im Wagen aushalten konnte.

Das alte Gebäude, das vor ihm aufragte, sollte vor dem Krieg eine Klosterschule gewesen sein. Das war lange vor seiner Zeit gewesen. Aus den oberen Stockwerken müsste man damals freie Sicht auf den Rhein gehabt haben, das war bestimmt romantisch. Heute wurde die Sicht durch Bäume versperrt, die über die Jahre unkontrolliert in die Höhe gewachsen waren. Auf der anderen Seite des Gebäudes führte eine Bundesstraße den Hang entlang, daneben Eisenbahngleise, auf denen ununterbrochen Passagier- und Güterzüge nach Bonn im Norden oder Koblenz im Süden ratterten. Dieser Verkehr hatte von der Romantik am Rhein nicht viel übrig gelassen.

Bis zum Ende des Krieges war das Haus von den Nazis für einen gemeinnützigen Zweck zweckentfremdet worden, gemeinnützig jedenfalls im Sinne der Nazis. Was sich genau während des Krieges hinter seinen Mauern abgespielt hatte, hatten die Menschen in der Gegend weitgehend aus ihrer Erinnerung gelöscht. Kurz nach dem Krieg hatte sich angeblich eine Hosenfabrik vorübergehend darin niedergelassen, deren Fabrikgelände in Köln durch Bomben dem Erdboden gleichgemacht worden war. Ob das stimmte, konnte er nicht beschwören, aber es interessierte ihn auch nicht. Auf jeden Fall war das Haus Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre von der Bundeswehr übernommen worden.

Außer den Musterungen, die darin stattfanden, hatte die Bundeswehr damals ein Institut hier eingerichtet, das mit Medizin und Statistiken zu tun hatte. Soldaten, Ärzte und Zahlenreihen, eine komische Mischung, er konnte sich darunter nichts Rechtes vorstellen. Der Komplex war in dieser Zeit von einem Gitter umgeben und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich gewesen.

Nachdem der Kalte Krieg vorbei war, und die Bundeswehr sich neu organisieren musste, hatte sich das Institut offensichtlich erübrigt. Das große Haus und das dazugehörende Gelände gammelten nun seit Jahren vor sich hin. Die Zukunft des Anwesens lag im Dunklen, so dunkel, wie es der heutige Abend war. Das war ihm nur recht. Solange hier keiner wohnte oder arbeitete, konnte er sein Auto unbehelligt auf dem Gelände abstellen. Niemanden kümmerte es, dass das Einfahrtstor zur Straße offen stand, denn es gab hier nichts mehr zu holen, für das es sich lohnte, ein Tor zu verschließen.

Sein Blick fiel auf die steile felsige Wand, die sich hinter und seitlich des Gebäudes in die Höhe zog. Sie war mit Büschen überwachsen, wirkte unheimlich und bedrohlich. Er parkte sein Auto stets nahe der Felswand am Ende des Grundstücks, aber er war noch nie auf die Idee gekommen, den Hang in näheren Augenschein zu nehmen. Er hatte keine Sorge, dass sein Auto gestohlen werden könnte, dafür war es zu alt, verbeult und zerkratzt. Wenn es trotzdem jemand stehlen sollte, hoffte er, würde die Versicherung ihm dafür mehr zahlen, als es noch wert war.

Er schreckte auf. Eine Person ging an seinem Auto vorbei. Er duckte sich in seinen Sitz, weil er keine Lust hatte, entdeckt zu werden und eine Diskussion führen zu müssen, ob er hier parken durfte oder nicht. Die Person leuchtete den Boden mit einer Taschenlampe ab, ein runder Lichtfleck torkelte vor ihr her. Es war ein Mann, so viel konnte er erkennen. Der Mann ging an dem Auto vorbei auf den Hang zu, er schien das Auto nicht wahrzunehmen, und falls doch, ignorierte er es. Er wusste offensichtlich nicht, dass er beobachtet wurde, und schaute weder nach links noch nach rechts. Dann verschwand er nur wenige Meter entfernt zwischen den Sträuchern. Vielleicht war das ja der Platz, wo er manchmal zum Pinkeln hinging, wenn er es nicht bis nach Hause schaffte.

Der Mann im Auto wartete darauf, dass der Fremde wieder aus den Büschen hervorkam. Nichts geschah. Er fragte sich, ob er vielleicht eingeschlafen und es nur ein Traum gewesen war, als er glaubte, eine Person gesehen zu haben.

Nein, sagte er sich, ich habe deutlich das Licht der Taschenlampe gesehen, wie es auf dem Boden entlang gehüpft und dann zwischen den Büschen verschwunden ist. So etwas träumt man nicht.

Er war nervös und entschied sich, erst einmal eine Zigarette zu rauchen. Minuten verstrichen und immer noch tat sich nichts. Es war, als hätte sich der andere Mann in Luft aufgelöst. Es musste also einen Weg geben, der hinter den Sträuchern an dem Hang entlang ging oder einen Tunnel, der in den Hang hinein führte. Der Mann im Auto war sich sicher, dass er keinen Geist gesehen hatte. Geister haben keine Taschenlampen.

Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war

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