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Ehre, Männlichkeit und Sex

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Sicherlich einmal deshalb, weil diese Geschichten am Hof des Kaisers spielten und von den „Vornehmsten am Hofe“ handelten, was von den einfachen und nicht als vornehm geltenden Frauen und Männern aus den mittleren und unteren sozialen Schichten entsprechend hämisch und kritisch kommentiert wurde. Sie sahen das als nicht nur unmoralisch, sondern auch als unehrenhaft an. Konkret als Verstoß gegen die innere Ehre im Sinne von Ehrbarkeit.27 Auf sie waren die bürgerlichen Kritiker des sexuellen Verhaltens der höheren Stände besonders stolz, weshalb sie ihre innere Ehre der äußeren Ehre der adligen Standesherren gegenüberstellten und Letztere zugleich infrage stellten. Dies mit immer größerem Erfolg. Schließlich wurde und musste das sexuelle Verhalten der Angehörigen der Oberschicht auch von diesen selbst als moralisch anstößig und unehrenhaft im Sinne der inneren Ehre empfunden werden.

Gemeint waren vor allem die außerehelichen Beziehungen von Frauen, die, anders als die von Männern, verpönt waren, und die homosexuellen Handlungen von Männern, die unter strenger Strafe standen. Beseitigen oder auch nur eindämmen hatte man aber beides nicht können. Davon zeugen sowohl die – internen – Akten der Polizei und der Justiz wie die – öffentlichen – Berichte in den Zeitungen. Hier sowie nicht zuletzt auch in der Literatur findet man zahlreiche und zum Teil auch mit Lust am sexuellen Detail geschriebene Geschichten von untreuen Ehefrauen und unmoralischen Homosexuellen.

Was sich jetzt während und nicht zuletzt auch wegen der Kotze-Affäre änderte, war die Art und Weise, wie über die männliche und weibliche Sexualität berichtet wurde und dass sie so verurteilt wurde. Konkret: Warum wurde die Gräfin Hohenau nicht nur des Ehebruchs bezichtigt, warum wurde sie darüber hinaus auch noch als „mannstoll“ beschimpft; und warum wurden Graf Hohenau und die anderen Homosexuellen am Hofe Wilhelms II. nicht nur als kriminell, sondern zudem noch als „entartet“ angesehen? Zurückzuführen ist beides auf einen veränderten Diskurs über die männliche und weibliche Sexualität, die jetzt gewissermaßen entdeckt wurde. Die außerehelichen Affären der Erbprinzessin Charlotte von Meiningen wurden auf ihre Porphyrie-Erkrankung zurückgeführt.28 Diese Stoffwechselkrankheit würde nämlich, so wurde ernsthaft argumentiert, eine sexuelle Erregtheit hervorrufen, welche bei Frauen zu einer „Mannstollheit“ führe, die ebenfalls als krankhaft angesehen wurde.

Das allgemeine Streben von Frauen nach einer sexuellen und politischen Gleichstellung mit Männern wurde nicht als gesellschaftlicher Konflikt begriffen, sondern auf eine individuelle Störung zurückgeführt, die diese Frauen (angeblich) in ihrer Sexualität hatten. Das auffällige Verhalten der Frauen wurde als krank betrachtet und als Hysterie klassifiziert. Studierte und/oder sexuell aktive Frauen (zu denen die Gräfin Hohenau ohne Zweifel gehörte) galten schlicht als hysterisch.29

Diese männlichen Abwehrbemühungen waren jedoch bekanntlich und Gott sei dank nicht erfolgreich. Die Frauen wehrten sich und kritisierten die sexuelle Doppelmoral. Einige von ihnen schlossen sich sogar der Frauenbewegung an, die damals jedoch noch sehr schwach und zudem in einen bürgerlichen und proletarischen Flügel gespalten war.30 Dennoch wurde sie von vielen Männern aus allen sozialen Schichten als Bedrohung empfunden. Daher wurden alle Abweichungen von der von Männern dekretierten sozialen und sexuellen Norm (wie das wiederum bei der Gräfin Hohenau der Fall war) so scharf und kompromisslos kritisiert und verdammt.

Dabei scheute man sich nicht, Frauen, die wie die Gräfin Hohenau sexuelle Beziehungen zu mehreren Männern unterhielten, als Prostituierte zu beschimpfen. Dies konnte dazu führen, dass die Namen dieser Frauen in Prostituierten-Dateien aufgenommen wurden und sie selbst von der Polizei verhaftet und von Gerichten zu häufig langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.31 Einige dieser Prostituierten oder der Prostitution auch nur verdächtigte Frauen wurden in die alten Irrenhäuser und neuen Psychiatrien verbracht, wo sie äußerst brutalen „Therapien“ unterworfen wurden. Galt ihr sexuelles Verhalten doch als „krankhaft“ oder erblich bedingt. Für Kriminalbiologen wie den Italiener Cesare Lombroso war die Prostituierte das weibliche Gegenstück zum „geborenen Verbrecher“.32

Männer, die wie die Grafen Hohenau, Prinz Aribert von Anhalt und die Mitglieder des von Philipp Eulenburg angeführten Liebenberger Kreises Homosexuelle waren oder der Homosexualität auch nur verdächtigt wurden, konnten aufgrund des (nur für Männer und nicht für lesbische Frauen geltenden) Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs (s. S. 34) wie gemeine Verbrecher behandelt und zu teilweise langwierigen Gefängnisstrafen verurteilt werden.33 In der damaligen Sexualwissenschaft wurde ihr sexuelles Verhalten zudem nicht nur als „widernatürlich“ gebrandmarkt, sondern auch als „krankhaft“ angesehen, weshalb man allen Ernstes eine Ausbreitung der Homosexualität fürchtete, die zu der auch aus anderen Gründen befürchteten „Dekadenz“ beitragen würde.34

Doch nun regte sich sowohl an der Bestrafung wie an der Pathologisierung der Homosexualität Kritik. Sie kam sowohl von einigen liberaleren Juristen und aufgeklärteren Ärzten und Psychiatern wie von Homosexuellen, die sich zu ihrer Homosexualität bekannten und Organisationen bildeten, welche sich zusammen mit den kritischen Juristen, Ärzten und Psychiatern (von denen einige selber homosexuell waren) gegen die Kriminalisierung und Pathologisierung der Homosexuellen wandten.35 Erfolgreich war das alles nicht. Jedenfalls zunächst nicht. Von einer wirklichen Schwulenbewegung konnte ebenfalls noch nicht gesprochen werden. Dennoch sahen sich viele (nicht-homosexuelle) Männer von der mehr imaginierten als realen Schwulenbewegung in ihrer Männlichkeit bedroht und reagierten darauf, indem sie den Homosexuellen allgemein ihre Männlichkeit absprachen, sie als „dekadent“ einstuften und in ihnen eine eminente Gefahr für den inneren Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft sahen.36

Insgesamt ist festzustellen, dass die „schmutzigen Geschichten“, welche über das Sexleben der Damen und Herren am Hof Kaiser Wilhelms II. erzählt und kolportiert wurden, keineswegs so harmlos und unfreiwillig komisch waren, wie das auf den ersten Blick anmutet. Sie sind Beweis und Beispiel dafür, dass und wie sich die allgemeinen Vorstellungen und Verhaltensweisen von Ehre, Männlichkeit und Sex in einem Veränderungsprozess befanden.

Dass sich diese „schmutzigen Geschichten“ unter den „Vornehmsten bei Hofe“ abspielten, ist kein Argument, diese allgemeine Schlussfolgerung infrage zu stellen. Schließlich waren Hof und Hofgesellschaft in der letzten und nach dem letzten Kaiser genannten wilhelminischen Phase des Kaiserreichs immer noch, ja gerade jetzt auch in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht stilbildend. Hinzu kam jedoch auch die politik- und sozialgeschichtliche Bedeutung des Hofes und der Hofgesellschaft. Daher ging es, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, bei den „schmutzigen Geschichten“ unter den „Vornehmsten bei Hofe“ auch um Ehre, Männlichkeit und (adliges) Klassenbewusstsein.

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