Читать книгу look back - Wolfgang Wirth - Страница 3
Prolog
ОглавлениеEs war kein verheißungsvolles Klopfen. So klopfte keiner, der auf einen Kaffee oder einen Pernod vorbeikam.
Sonst klang alles wie gewohnt an diesem sonnigen Maimorgen. Die Vögel zwitscherten durch das offene Fenster von den blühenden Obstbäumen im Garten. Die Autos knatterten auf der Rue de l’Auvergne und das gelegentliche Hupen ihrer Signalhörner störte schrill die sonst so friedliche Szenerie.
Es war eigentlich ein ganz normaler Morgen, so wie jeder andere. Aber nicht für den alten Jean-Pierre, denn dieser Morgen hatte bereits einige Ereignisse hervorgebracht, die alles andere als normal waren. Gestern schon fing alles so erfolgversprechend an. Die ganze Nacht hatte der hagere alte Mann an seinem Werktisch gearbeitet, nachdem er am Vorabend den Durchbruch förmlich gespürt hatte. Jahre der Forschung, des Experimentierens, der Aufopferung für sein ganz persönliches Projekt. Die Entdeckung, die die Welt verändern könnte. Nur ob zum Guten war Jean-Pierre noch nicht ganz klar. Darüber grübelte er, seitdem er an seiner Erfindung gearbeitet hatte. Seitdem er diese alten Aufzeichnungen gesehen und das wirre Gefasel seines russischen Nachbarn von Kristallen im Garten gehört hatte. Seitdem er genau diese Kristalle in dem Gartenversteck des greisen Russen und deren Geheimnis entdeckt hatte. Seitdem er die Puzzleteile entziffert und mit mikroskopisch, chirurgischer Feinarbeit all die Schräubchen und Zahnrädchen zusammengesetzt hatte.
Und ganz besonders seit diesem Morgen, nachdem er seine Erfindung, dieses Wunderwerk an mehreren Beispielen erfolgreich ausprobiert hatte.
Da lag es nun, sein Schmuckstück. Jean-Pierre sah es liebevoll an, seine dünnen aber immer noch nicht zittrigen Finger streichelten jedes Teilchen seines Werkes. Es war nicht wirklich verziert mit Gold und Silber wie die anderen Exemplare dieser Zeit, dabei auch noch relativ groß und wuchtig, sonst aber eher schlicht. Auffällig war jedoch die offene Mechanik mit dem ungewöhnlichen Spiegel im Zentrum, die das ganze eher wie eine winzige Maschinerie erscheinen ließ, als ein Exemplar zeitgenössischen Herrenschmucks. Nur die warnenden Worte des russischen Wirrkopfes aus dem Nachbarhaus hatte er zu seinem Gedenken in kunstvoller Form auf den Rand graviert. Dabei hatte dieser Jean-Pierre eindringlich von seinem Vorhaben abbringen wollen, er sollte nicht in Gottes Handlungen eingreifen, jeder Mensch sollte sich nur auf seine eigenen Erinnerungen konzentrieren. Aber der alte Uhrmacher war wie besessen von dem Gedanken, etwas Einzigartiges zu erschaffen, etwas, was die Welt noch nicht gesehen hatte. Etwas, was vielleicht die Welt auch etwas friedlicher machen könnte, eventuell aber auch genau das Gegenteil bewirken könnte.
Seitdem Cartier vor kurzem das Tragen solcher Uhren am Handgelenk modern gemacht und sein alter Kollege Harwood eine Automatik hierfür erfunden hatte, war es angesagt, solche Prachtexemplare nicht mehr in der Westentasche zu verstecken, sondern seinen Wohlstand, Klasse und Eleganz etwas offener zur Schau zu stellen.
Aber dieses Prachtstück unterschied sich von allem bisher Dagewesenen. Nicht nur, dass es auch ein achtstelliges Datum anzeigen konnte, die wirkliche Revolution lag in einer kleinen zusätzlichen Funktion einer zweiten Krone, die mit der reinen Zeitmessung nur noch wenig zu tun hatte.
Neben seiner kleinen Enkelin hatte der alte Mann nur einem Menschen sein Geheimnis bisher in Teilen offenbart. Seinem alten Freund und Gönner Jacques Renard, einem Pariser Juwelier, den er vor zehn Jahren kennengelernt hatte, als er aus Genf an die Seine gekommen war. Jean-Pierre hatte für ihn gearbeitet, aber obwohl seine Arbeit für den Juwelier seit einiger Zeit nicht mehr so umfangreich war, hielt dieser doch an ihm fest, nicht zuletzt auch aus Interesse an seiner wissenschaftlichen Tüftelei. Jacques hatte erkannt, welches Talent in dem hageren Uhrmacher steckte. Sie waren auch privat eng verbunden und sie konnten über Alles miteinander reden. Und so erfuhr Jacques auch von dem Durchbruch in Jean-Pierres Forschung, besonders als es in der letzten Nacht so aussah, als hätte es der alte Tüftler endlich geschafft. Jean-Pierre war zu Jacques hinübergelaufen und voller Euphorie von seiner Entdeckung erzählt. Sie sprachen nur kurz miteinander, aber Jacques erschien an diesem Abend so abwesend, so reserviert, anders als gewöhnlich. Aber mehr Gedanken daran zu verschwenden schien dem alten Schweizer unnötig, wo er doch gerade mitten in der Entdeckung des Jahrhunderts steckte und schnell zurück zu seiner Arbeit wollte, um sie endgültig zu testen.
Erst jetzt, als es unten abermals heftig an seine Tür pochte, kamen diese Gedanken zurück und er stellte instinktiv eine Verbindung dieser Ereignisse her, wunderte sich plötzlich über Jacques’ Interesse an seiner Arbeit und deren Unterstützung. Bei näherem Nachdenken erschien Jean-Pierre das Ganze aber doch zu absurd.
Das Hämmern an die Tür wurde kräftiger. Wer konnte das nur sein? Die Polizei hätte bestimmt das Klopfen mit einem Ruf oder einer Aufforderung bekräftigt. Eventuelle Gläubiger hatte er nicht. Hatte das alles mit seiner Entdeckung zu tun? Wollte ihm etwa jemand seinen Erfolg streitig machen? Aber wer konnte davon wissen? Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, alles schien sich zu drehen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste nur, die Uhr musste in Sicherheit gebracht werden. Aber wenn sie nun doch jemand fände? Nein, das durfte nicht passieren. Sie musste zerstört werden, bevor sie in falsche Hände geriet. Trotz all seiner Bedenken, war ihm bisher nie der Gedanke gekommen, dass dieser Moment so schnell kommen könnte. Insofern hatte er auch keinen vorbereiteten Plan.
Das Klopfen wurde lauter und wilder – jetzt rüttelte jemand an der Tür. Es klang nicht so, als würde dieser Jemand lange auf ein freundliches Öffnen der Türe warten. Jean-Pierre musste handeln. Aber die Uhr komplett zu zerstören bedeutete den Verlust jahrelanger Arbeit, sollte er das riskieren? Er nahm die Apparatur und schraubte die zweite Krone vorsichtig ab – den Mechanismus und den Spiegel wollte er dann nun doch nicht beschädigen. Vielleicht war ja doch alles nur falscher Alarm. Er legte die Krone zu den anderen Kleinteilen, die auf seinem Arbeitstisch herumlagen und lief mit der Uhr schnellen Schrittes auf den Flur, um ein geeignetes Versteck fernab des Arbeitszimmers zu entdecken. In diesem Moment flog unter lautem Krachen die Haustür auf. Splitter flogen durch den Eingangsraum und zwei Männer stürmten in das Haus. Vom oberen Treppenabsatz sah der Uhrmacher die Szenerie und es durchfuhr ihn augenblicklich massive Angst und lähmte sein Bewusstsein. Die Eindringlinge riefen nun laut seinen Namen. Dadurch rappelte er sich wieder auf und kletterte schnell auf den Dachboden. Eine alte Kiste, die mit nicht mehr benötigten Spielsachen seiner längst aus dem Haus ausgezogenen Tochter gefüllt war, schien ihm in der Eile als Notunterbringung geeignet. Er schob die Uhr schnell unter das Kleid einer alten Puppe, verschloss die Kiste und warf eine alte, verstaubte Wolldecke darüber. Später würde er sich dann überlegen müssen, wo er ein ideales und sicheres Versteck zu suchen hätte.
Schnell kletterte er den Stieg in den ersten Stock wieder herab. Auf dem Flur angekommen stand ihm unvermittelt einer der in dunkle Mäntel gekleideten Männer gegenüber.
„Wo ist sie?“, stieß dieser barsch aus.
„Wovon sprechen sie?“, war alles, was der Schweizer stotternd herausbrachte. „Und was wollen sie in meinem Haus?“
Statt einer Antwort rief der Mann seinen Kumpanen herbei und schnappte Jean-Pierre beim Revers. Dieser sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie die andere Hand des finsteren Eindringlings zu einer Faust geballt auf ihn einkrachte. Weitere Schläge folgten an den Kopf, in die Magengrube und als er zusammengesunken auf dem Boden lag, spürte er Tritte von schweren Arbeitsstiefeln im Rücken und am Schädel. Immer wieder brüllten die Männer die einzige Frage, die er um keinen Preis der Welt beantworten wollte: „Wo ist die Uhr?“
Unter dem Stakkato der Tritte verlor er das Bewusstsein. Ein Nebel umschloss ihn und er verspürte keine Schmerzen mehr. Wie im Zeitraffer schossen die Erinnerungen durch seinen Kopf. Er sah seine Ehefrau, die ihm viel zu früh durch eine Lungenentzündung entrissen wurde, seine Tochter als kleines Mädchen, dann als erwachsene Frau im Kindbett mit seiner Enkelin im Arm, der kleinen Fernande, die er so liebte und die ihm so gern bei seinen Arbeiten zusah. Alle waren sie bei ihm. Aber genauso schemenhaft, wie sie erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.
Das erste, was Jean-Pierre hörte, als er wieder zu sich kam, waren wiederum die Stimmen der beiden dunklen Gestalten in seinem Haus. Wie aus der Ferne drangen sie langsam zu ihm und das Bewusstsein und die Erinnerung an das Geschehene kehrten allmählich zurück. Aber auch der Schmerz. Er spürte, dass seine Knochen nicht mehr in der gottgegebenen Form waren und die flüssige Wärme die ihn umgab, ließ ihn erahnen, dass er in seinem eigenen Blut lag. Als sich der Schleier mehr und mehr hob, wurden die Stimmen deutlicher. Er konnte aus den Rufen folgern, dass sie die Uhr noch nicht gefunden hatten.
Instinktiv blieb er reglos liegen, er hätte sich ohnehin nicht viel bewegen können. Aber er wusste, dass seine einzige Chance weiteren Schmerzen zu entgehen war, so zu tun, als hätten die Schläger ihr tödliches Werk bereits vollendet. Schon hörte er, wie sich schwere Schritte auf dem Holzboden näherten und hielt die Luft an. Seine blutgetränkten Augen brannten, aber er versuchte auch nur das geringste Zucken zu vermeiden.
„Der sagt uns nichts mehr!“, war eine der Stimmen zu hören.
„Das war deine Schuld! Wir hätten es vorher aus ihm rausquetschen sollen.“ Das war der andere, der nicht minder feindselig klang. „Jetzt finden wir das Ding nie!“
Ein letzter Tritt erschütterte Jean-Pierres Leib, so als wollte der Schläger auch wirklich sicher sein, dass der alte Mann sich nicht mehr regte. Der Uhrmacher verkniff sich unter Schmerzen einen Laut von sich zu geben und biss die Zähne aufeinander.
Dann entfernten sich die Schritte wieder. Erst auf dem Flur, dann die Treppe hinunter. Kurz darauf war es still. Die Männer mussten das Haus verlassen haben.
Jean-Pierre lag noch eine Weile bewegungslos da, um sich zu versichern, dass er auch wirklich alleine war. Die Schmerzen in seiner Magengegend und das Pochen im Kopf wurden immer stärker, ein taubes Gefühl machte sich allerdings in seinen Beinen breit. Er wollte sich aufrichten, doch er war nicht in der Lage dazu. Seine untere Körperhälfte schien er gar nicht mehr kontrollieren zu können und sein Kopf fühlte sich an als stünde er kurz vor dem Zerbersten. Der alte Uhrmacher wusste, dass seine letzte Stunde auf dieser Welt angebrochen war. Sein alter Körper war geschunden. Er wusste, diese Männer würden sein Leben auf ihrem Gewissen haben. Aber sein Geist war noch wach. Er hatte noch eine Aufgabe zu vollbringen.
Seine Entdeckung, sein größter Schatz, dem er sein halbes Leben gewidmet hatte, durfte nicht in einer Spielzeugkiste verstauben. Er wollte sein Geheimnis weitergeben. Aber nicht irgendwem. Vielleicht musste auch etwas Gras über Alles wachsen, vielleicht war die Welt einfach noch nicht reif für ein Wunder. Seinem Freund Jacques vertraute er nicht mehr, irgendetwas sagte ihm, dass er für den Überfall verantwortlich war. Niemand sonst hätte etwas von seiner Arbeit wissen können. Nein, nur Fernande, sein unschuldiger kleiner Engel sollte die Erbin seines Schatzes sein. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, aber schon so wissbegierig und clever. Sie hatte die Intelligenz und die Neugier ihres Großvaters in ihren Genen. Sie war es auch, die er als erste an seinem Abenteuer teilhaben lassen wollte. Nun würde es seine Enkelin alleine bestreiten müssen. Der Tag würde kommen, an dem sie wüsste, was zu tun sei. An dem sie sein Vermächtnis der Welt offenbaren würde.
Aber wie sollte er sie informieren ohne gleichzeitig seine Verfolger auf ihre Spur zu setzen?
Seine Kraft wich aus seinen Armen, auf die gestützt er versuchte sich vorwärts zu bewegen. Allzu weit kam er so nicht, das wusste er. Geschweige denn die Treppe hinunter und bis zur Straße, wo er um Hilfe rufen konnte. Das Telefon hing ebenfalls unten im Flur an der Wand und somit für ihn unerreichbar. Die Zeit lief ihm davon, in seiner Sanduhr verblieben nur noch wenige Körner. Und die Schmerzen ließen ihn immer wieder zusammensacken. Er versuchte sich umzublicken. Erst jetzt sah er die Verwüstung, die seine Mörder hinterlassen hatten. Sie waren durchaus gründlich gewesen. Nichts war mehr an seinem Platz, Möbel ausgeräumt und teilweise zerschlagen, das ganze Haus sah aus wie nach einem Wirbelsturm. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort bewusstlos gelegen hatte und wie lange die zwei Eindringlinge in seinem Haus gewütet hatten. Trotzdem hatten sie seinen Schatz offensichtlich nicht geborgen.
Sein Blick fiel auf eine Zeitung, die blutgetränkt neben ihm lag. Er riss mit letzter Kraft eine noch saubere und überwiegend unbeschriebene Ecke ab und suchte nach etwas zu schreiben. Ein kleiner Schraubenzieher lag glücklicherweise nicht allzu weit entfernt in einem Haufen aus Überresten seines Schreibtischs. Tinte wiederum war nicht zu sehen. Das einzige Flüssige in seiner Reichweite war die Blutlache, die zum Teil noch nicht ausgetrocknet war, da sie immer weiter durch die breit klaffende Wunde an seiner Schläfe gespeist wurde.
Und so schrieb Jean-Pierre seine letzten Worte mit seinem eigenen Blut, als Botschaft für ein kleines Mädchen, die ein schweres Erbe übernehmen sollte.
Falls dieses Mädchen die Botschaft jemals verstehen würde…