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Samstag, 12. Mai, nachmittags

Das Büro strahlte eine beängstigende Ruhe aus, jedes noch so kleine Accessoire war ordentlich an seinem vorgesehenen Platz. Eine große Standuhr tickte in beruhigendem Ton. Alles wirkte behaglich und irgendwie eher einem gediegenen Wohnzimmer gleich, als einer Stätte der Arbeit, wo über die Sicherheit des Landes entschieden wurde, über Tod und Folter, über Verräter, Terroristen und Spione.

Philippe Renard regierte hinter seinem gigantischen Schreibtisch, der noch monströser durch die Tatsache wirkte, dass sein Eigentümer selbst von kleiner Statur war. Dies war auch der Grund, weshalb der Sessel auf einer kleinen Erhöhung hinter dem Schreibtisch stand, die jedoch von vorne nicht zu sehen war. Während jeglichen Besprechungen, die in diesem Raum stattfanden, thronte Renard hinter diesem Möbelstück und herrschte von dort über seine Gesprächspartner. Einzig dem Präsidenten der Republik und pro forma dem Innenminister war er Rechenschaft schuldig und nur dafür verließ er seine Herrscherstätte durch einen Nebeneingang, der nur ihm vorbehalten war.

Auf dem Flur vor dem Büro war er nie zu sehen, morgens kam er durch die Seitentür und verließ spät abends sein Büro auf dem gleichen Weg. Sein Sekretär war das Bollwerk vor der Türe, an dem nur wenige Besucher vorbei hineingelassen wurden. Hinter vertäfelten Wänden versteckt war sein Büro mit der modernsten Technik ausgestattet. Videowände, Kameras, Kommunikations- und Sicherheitstechnik. Alles, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten und Zugriff auf jede Einheit in dieser Behörde zu haben, vom Pförtner über die leitenden Beamten bis zu dem Verhörtrakt, der irgendwo im Keller des Hauses untergebracht war und zu dem nur wenige Mitarbeiter Zutritt hatten.

Renard selbst war noch nie dort unten gewesen, trotzdem kannte er jeden Winkel in diesem Trakt und kein Verhör durfte ohne seine persönliche Überwachung durchgeführt werden. Er wusste über Alles Bescheid, was in seiner „Direction centrale du renseignement intérieur“, dem Inlandsgeheimdienst, vor sich ging. Aber nur wenige Mitarbeiter ahnten auch nur, dass sie selbst genauso überwacht wurden.

Nachdem der letzte Leiter des Geheimdienstes auf mysteriöse Weise verschwunden war und somit sein Amt zur Verfügung stellte, gab es nur wenige geeignete Nachfolger. Und als auch diese überraschenderweise nach und nach Abstand von einer Bewerbung nahmen, blieb nur noch Philippe Renard übrig. Lange hielten sich die Gerüchte, er hätte Einfluss auf den Rückzug seiner Kollegen genommen, nachweisen konnte man ihm aber nie etwas.

Seine Familie war schon seit vielen Generationen wohlhabend und somit hatte er genügend Mittel, um den ein oder anderen Konkurrenten zu überzeugen, lieber ein gefülltes Konto in der Schweiz zu besitzen, als sich mit einem doch eher unangemessenen Gehalt eines Behördenleiters und dessen immenser Verantwortung herumzuschlagen. Ihm persönlich ging es nicht um das Geld, für ihn war es wichtig Macht zu besitzen. Über andere zu entscheiden, deren Leben in seinen Händen zu halten. Insofern waren seine Methoden durchaus umstritten, aber eben genauso effektiv und erfolgreich. Unter seiner Führung war das Land ein wenig sicherer geworden und die Erfolge und das Ansehen auch im Ausland wuchsen mehr und mehr durch seine Arbeit, auch wenn er selbst dabei im Hintergrund blieb. Öffentliche Auftritte seinerseits gab es nicht, noch nicht einmal sein Konterfei war jemals in der Presse aufgetaucht. Er blieb unerkannt im Dunkeln und zog seine Fäden. Sollten andere sich die Lorbeeren einholen, ihm reichte die Kenntnis darüber, dass er die entscheidenden Schritte eingeleitet hatte. Er alleine entschied in diesem Land über jeden einzelnen, er fühlte sich dadurch gottgleich und das gab ihm dieses Gefühl der persönlichen Befriedigung.

In der Tat war er ein mächtiger Mann in Frankreich und Europa, sogar in der ganzen Welt. Man zollte ihm Respekt in Kreisen der Geheimdienste, wo man ihn natürlich nicht persönlich, sondern nur per Codename und Funktion kannte. Dennoch lechzte er nach noch mehr Macht und er hatte sogar vielleicht die Möglichkeiten dazu. Zumindest theoretisch. Sein Ziel war es, dem großen Bruder und Konkurrenten, den Vereinigten Staaten von Amerika, beweisen zu können, dass er ihnen ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen war.

Vor vielen Jahren hatte ihn sein Vater in ein Geheimnis eingeweiht, das ihm eine einzigartige Macht verleihen könnte. Er musste nur noch einen verschollenen Schatz finden, einen Schatz, dem sein Vater sein ganzes Leben nachgejagt war und schließlich die Hoffnung aufgegeben hatte. Aber Philippe hatte nie an den Erzählungen seines Vaters gezweifelt, wenn sie auch noch so unwahrscheinlich klangen. Aber wenn er dieses Geheimnis lüften könnte, wäre er an Macht allen überlegen. Und das spornte ihn an.

Seit er im Geheimdienst tätig war, versuchte er seinen Einfluss zu nutzen um den Schatz aufzutreiben. Aber so sehr er auch all seine Beziehungen und Kontakte aktivierte, es schien ein aussichtsloses Unterfangen. Er hatte schon fast befürchtet das Geheimnis sei mit den Verstorbenen der Vergangenheit beerdigt worden, da kam plötzlich neues Licht ins Dunkel. Eine seiner Fallen hatte zugeschnappt, seit vielen Jahren mal wieder. Vielleicht war es auch nur eine weitere unbrauchbare Niete, die er dort geangelt hatte, so wie es von Zeit zu Zeit immer mal eine gab, die sich irrtümlicherweise und rein zufällig in seinem Netz verfangen hatte. Aber er musste jeglicher Spur nachgehen. Tief in seinem Inneren glaubte er weiter an den Erfolg seines Vorhabens.

Er hatte mehrere solcher Köder ausgelegt und das Bereitstellen von Treffern auf Suchmaschinen im Internet war der einfachste Weg die Witterung aufzunehmen.

Und nun war sein neuester Fang hierher transportiert worden und befand sich in den Kellerräumen in einem der Verhörräume, bereit sich den bohrenden Fragen zu stellen.

Nur einige wenige Mitarbeiter hatte er mit dem Fall direkt betraut, ohne sie über die genauen Hintergründe zu informieren. Je weniger Mitwisser es gab, desto weniger musste er nachher eliminieren. Jetzt war Jacobert mit dem Gefangenen im Keller, seinem besten Mann, und Renard würde sich gleich dazu schalten und grünes Licht für die Vernehmung geben. Es bestand also wieder mal ein Fünkchen Hoffnung.

Brian war im Hotel angekommen. Er hatte bei einem afrikanischen Trödler noch ein paar Dinge eingekauft. Nicht wirkliches Uhrmacherwerkzeug, aber ein paar kleine Schraubendreher und Pinzetten, eine Zange und einen Magnetteller, sowie ein paar winzige Schräubchen und eine Lupe. Alles nicht neu und in schlechtem Zustand, darüber hinaus viel zu teuer. Wahrscheinlich war das die einzige Möglichkeit, chinesische Billigware miesester Qualität auf einem Trödelmarkt zu verkaufen, auf dem sonst nur Antiquitäten feilgeboten werden. Aber Brian war das in diesem Moment egal. Zu groß war seine Neugier auf die neu erworbene Uhr und die Aussicht, diese genauestens zu untersuchen und möglichst wieder in Gang zu bekommen.

Die Polizei konnte er am Wochenende ohnehin nicht erreichen. Erst Montag würde man ihm nach deren Information weiterhelfen können, so hatte er also genügend Zeit sich zu beschäftigen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Zuhause wartete niemand auf ihn, noch nicht einmal Arbeit. Seitdem er seinen Job in der Uhrmacherwerkstatt seines Vaters hingeschmissen hatte, lebte er von Gelegenheitsjobs und vom Unterhalt seiner Frau. Die zahlte sogar mehr als sie eigentlich müsste. Und ab und an übernahm er einen Auftrag als Übersetzer oder Sprachtrainer, den ihm eine Sprachschule vermittelte. Somit hielt er sich über Wasser. Dadurch konnte er so viel Zeit wie möglich mit seinem Sohn verbringen. Vielleicht war das auch der Grund, warum ihn seine Exfrau unterstützte. Und er war dankbar dafür, wenn es ihm auch etwas unangenehm war. Aber sie verdiente als leitende Angestellte gut und hatte selbst nicht so viel Zeit, noch die Geduld für ihr pubertierendes Kind. Und so redete er sich ein, dass es durchaus in Ordnung so war.

Er musste David noch dringend anrufen. Normalerweise telefonierte er regelmäßig mit seinem Sohn, wenn er nicht bei ihm war oder sie kommunizierten über das Internet. Aber die Aufregungen der letzten Tage hatten ihn das ganz vergessen lassen und einen Anruf Davids hatte er verpasst und nicht beantwortet. Das letzte Mal hatten sie nach seiner Ankunft in Paris kurz telefoniert.

Brian legte seine Einkäufe aufs Bett seines winzigen Zimmers und zog die Jacke aus. Dann schenkte er sich ein Glas mit Leitungswasser ein und trank einen großen Schluck. Seine Gedanken gingen noch einmal zurück zu der hübschen Verkäuferin auf dem Flohmarkt, ihre betörenden grünen Augen konnte er einfach nicht vergessen. Vielleicht hätte er sie doch fragen sollen, ob sie Lust auf einen Kaffee hatte. Oder er hätte ihr anbieten können, ihr beim Einpacken und Beladen zu helfen. Aber nein, er verwarf den Gedanken gleich wieder, es war lächerlich. Außerdem war es jetzt sowieso zu spät. Wenn er je eine Chance gehabt hätte, war sie jetzt ohnehin vorbei. Außerdem hatte er wichtigere Dinge zu tun als sich von jugendlichen Schwärmereien ablenken zu lassen. David würde ihn auslachen, wenn er jetzt seine Gedanken kannte.

Brian setzte sich aufs Bett und wollte gerade zum Handy greifen, als dieses klingelte und er Davids Nummer auf dem Display erkannte.

„Hallo, mein Großer!“, sagte er.

„Hi Dad!“, erklang die Stimme seines Sohnes. „Wo bist du?“

„Hier im Hotel. Bin gerade wieder ins Zimmer gekommen. Sorry, dass ich mich noch nicht gemeldet habe. Aber hier geht alles drunter und drüber.“

„Wieso? Was ist passiert? Wie war dein Treffen mit Großvater?“ Davids Stimme klang besorgt. Wie erwachsen er doch in letzter Zeit geworden war, dachte Brian. Sein kleiner Junge reifte zu einem ernstzunehmenden, jungen Mann heran. Er betrachtete seinen Sohn schon lange nicht mehr als Kind sondern eher als einen Freund, mit dem man viel unternehmen und durchaus kontrovers aber auch sachlich diskutieren konnte. Auch David honorierte das offensichtlich, denn seine pubertätsbedingte Antihaltung, die er seiner Mutter gegenüber an den Tag legte, war im Verhältnis mit seinem Vater komplett verschwunden.

„Ich habe ihn gar nicht getroffen!“, antwortete Brian enttäuscht. „Er kam einfach nicht.“

„Und dafür bist du jetzt extra nach Paris gefahren? So eine Sauerei. Du hättest ja auch nicht gleich losstürmen müssen. Hab ich doch gleich gesagt.“ David klang nun mehr erbost als besorgt. „Und wieso bist du noch dort? Oder machst du jetzt einen auf Tourist?“ Jetzt sprach er schon wieder normal, er liebte diese kleinen Sticheleien, obwohl er bei seiner Mutter damit mehr Erfolg hatte und Entrüstung verursachte.

„Nein, ich hab das Gefühl, irgendetwas ist passiert. Ich war auch schon bei der Polizei, aber vor Montag können die nichts unternehmen. Deshalb bin ich noch hier. Aber ich weiß eben noch nichts. Aber sag deiner Mutter nichts davon, sie regt sich nur unnötig auf.“ Brian wusste, er konnte seinem Sohn vertrauen. Es wäre nicht das einzige Geheimnis, welches die beiden vor seiner Exfrau geheim hielten.

„Warum sollte denn etwas passiert sein? Vielleicht hat er es sich auch einfach nur anders überlegt. So, wie du mir Euer Verhältnis beschrieben hast, würde mich das nicht wundern. Hast du denn keine Nummer von ihm?“

„Nein“, musste Brian beschämt zugeben. „Ich hatte einfach vergessen danach zu fragen. Und eine Nummer hat auch das Telefon nicht gespeichert.“

„Hast du denn auch keine Nummer von ihm zu Hause?“ Davids Unverständnis war eindeutig herauszuhören.

„Seitdem er zurück in die Staaten gegangen ist, habe ich ja nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nichts mehr von ihm, keine Nummer, keine Adresse, nichts! Ich war von seinem Anruf ja auch völlig überrascht!“

„Aber dann einfach so auf einen Anruf hin nach Frankreich fahren. Das ist wieder mal typisch Daddy!“

„Daddy“ nannte ihn David eigentlich immer nur dann, wenn er sich über ihn lustig machte. Normalerweise rief er ihn „Dad“, oder wenn es etwas ganz ernstes war auch mal „Papa“. Dann kam der Einfluss seiner deutschen Mutter durch, die immer dann, wenn sie sich um eine Entscheidung drücken wollte, sagte: „Frag deinen Papa!“

„Ich weiß. Vielleicht habe ich auch deswegen ein so schlechtes Gewissen. Aber wie gesagt, ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas schief gegangen ist. Dieses Gefühl hat mich auch bei deinen Unternehmungen nie im Stich gelassen. Und davon gab es ja einige. Weißt Du noch, wie ich damals im Krankenhaus angerufen hatte in dem Moment als du dort eingeliefert wurdest. Ich hab so etwas im Urin!“

„Ja, ja, behalte deinen Urin mal schön bei dir! Ich hoffe aber, dass das Ganze nicht nur ´ne Luftnummer war. Was machst du denn jetzt bis Montag? Den Eiffelturm besichtigen? Oder such´ dir doch ´ne hübsche Französin. Als ich zum Schüleraustausch dort war, liefen dort ´ne ganze Menge schicker Mädels rum. Na ja, Daddy, zugegebenermaßen hab ich nicht in deiner Altersgruppe geschaut!“ Brian konnte Davids Grinsen genau vor Augen sehen.

„Na, ich hab mich heute schon mit einem besonders hübschen Exemplar unterhalten“, gab Brian zurück. „Hab bei ihr eine antike Uhr gekauft.“

„Eine Antiquitätenhändlerin? Oh Mann, kann mir schon vorstellen, wie die aussah. Wahrscheinlich ähnlich verstaubt wie ihre Ware!“ Jetzt lachte David lauthals ins Telefon. „Jetzt baggert mein Daddy schon alte Jungfern an!“

„Du würdest dich wundern, mein Kleiner!“, brüstete sich Brian, als hätte er wirklich mit der jungen Frau schon ein Rendez-vous gehabt. „Aber jetzt werde ich mal ein bisschen an der Uhr rumschrauben. Sag deiner Mutter Hallo. Ich melde mich spätestens Montag. Vielleicht finde ich auch noch ein Internetcafé. Dann schreib ich mal vorher. Will noch ein paar Sachen nachschauen.“

„Aber du hast doch ein Handy, damit kannst du doch ins Internet.“

„Ja aber um ganze Artikel zu lesen ist es doch ein wenig klein. Außerdem im Ausland so teuer.“

„Ist es jetzt der Rentner-Geiz, der dich mehr antreibt, oder die Tatsache, dass deine alten Augen langsam eine Brille vertragen könnten, Daddy? Wie auch immer, bis bald! Und lass die alten Jungfern in Ruhe – falls du sie überhaupt erkennst!“

Mit einem lauten Lachen legte David auf.

Trotz dieser nett gemeinten Unfreundlichkeiten seines Sohnes fühlte sich Brian besser. Wie immer, wenn er mit David sprach. Der Junge hatte so eine herzerfrischende Natürlichkeit, die jeden in seinem Umfeld immer wieder erfreute.

Eigentlich gab es an diesem Tag ja nur positive Erlebnisse, die nette, dunkelhaarige Schönheit, der Kauf der Uhr, das aufmunternde Gespräch mit David. Wenn er jetzt noch etwas Gutes von seinem Dad hören würde, wäre der Tag perfekt.

Brian packte seine Einkäufe aus und breitete Alles ordentlich auf dem winzigen Tisch in seinem Zimmer aus. Die Hotelbroschüren und das Telefon legte er auf den Boden und platzierte die kleine Schreibtischlampe so, dass sie seine so errichtete Arbeitsfläche beleuchtete. Es war zwar nur ein notdürftiger Arbeitsplatz, aber besser als nichts. Brian setzte sich an den kleinen Tisch und nahm vorsichtig die alte Uhr in die Hand.

Sorgfältig betrachtete der Uhrmacher unter der Lupe erneut sein neu erstandenes Stück von allen Seiten. Er kannte sich sehr gut mit Uhren aus und demzufolge auch mit den verschiedenen Manufakturen und Designern. Selbst die weniger bekannten Namen und Initialen oder Logos waren ihm geläufig, aber dies hier hatte er noch nie gesehen. Ein geschwungenes JPC anstelle der Zwölf des Zifferblatts, welches ohne Zweifel die Initialen des Konstrukteurs waren, denn um eine Manufakturarbeit handelte es sich nicht, wie Brian glaubte. Natürlich hieß das nicht unbedingt, dass es sich um ein Einzelstück handelte, aber es lag sehr nahe. Wobei ihn die russischen Worte irritierten. Sie passten gar nicht zu den Initialen JPC auf dem Zifferblatt. Auch die Machart und die Materialien die hier benutzt worden waren, deuteten eher auf eine westeuropäische Herkunftsstätte hin. Seine Kenntnisse und Erfahrung ließen ihn auf Deutschland oder die Schweiz tippen.

Die Funktionalität der Uhr schien tatsächlich in keiner Weise beeinträchtigt. Der Aufzugmechanismus, sowie die Automatik taten genauso ihre Dienste wie die Stellfunktion der Zeiger. Zu prüfen war natürlich noch die Ganggenauigkeit über einen längeren Zeitraum und die Gangreserve, wobei beides bei einer antiken Uhr nicht so vordergründig war. Ein solches Stück nutzte man gewöhnlich nicht als Zeitmesser und für ein reines Schmuckstück war es zu klobig. Einen Hemdärmel würde man darüber gar nicht schließen können.

Die Uhr verfügte tatsächlich nicht über die geringsten Gebrauchsspuren, sie sah so aus, als hätte man sie nach der Konstruktion direkt beiseitegelegt, wobei der Aufbewahrungsort nicht geschlossen gewesen sein dürfte, hatte die Uhr doch einigen Staub abbekommen. Offenbar hatte sie die Verkäuferin vom groben Schmutz befreit, aber in den Ecken um die Schräubchen herum war doch eine jahrelange Staubschicht zu erkennen. Mit seinem Rasierpinsel entfernte Brian die restlichen Staubpartikel so gut es ging.

Blieb noch das Rätsel um die Einstellung des Datums. War die Anzeige des Jahres 1935 vielleicht wirklich das Datum, an dem die Uhr zum letzten Mal bewegt worden war? Und bedeutete das automatisch, dass dieses auch das Herstellungsjahr war? Und warum fehlte ausgerechnet hierfür die Krone, wo doch alles andere so gut in Schuss war? Wurde sie bewusst entfernt oder war sie vielleicht nie eingesetzt worden? Viele Fragen, die vorerst ungeklärt bleiben würden.

Die Hauptkrone war, wie viele Teile des Werks von Durowe, ein Uhrwerkshersteller aus Deutschland, dessen Uhrwerke in den zwanziger und dreißiger Jahren häufig eingebaut wurden. Normalerweise aber nicht in Einzelteilen. Ob er ein solches Ersatzteil noch bekam? Es war durchaus denkbar.

Brian schrieb sich auf einem kleinen Notizzettel ein paar Stichworte auf:

 JPC, Schweiz

 Russische Übersetzung

 Manufakturen/Konstrukteure 1935

 Durowe-Krone

Dies waren die Dinge, die es zu recherchieren gab. Er würde heute noch auf dem Weg zum Abendessen irgendwo ein Internet-Café suchen und dort in Ruhe und auf einem größeren Bildschirm diesen Informationen nachgehen.

Vorsichtig schraubte Brian den Boden der Uhr ab, um sich das Innenleben näher anzuschauen. Unklar war ihm noch die Bedeutung des gewölbten Spiegels im Zentrum des Zifferblattes. Selbst unter der Lupe war die Sinnhaftigkeit desselben nicht zu erkennen. Aus optischen Gründen war er mit Sicherheit nicht dort installiert worden, denn er verlieh der Uhr erst ihr wuchtiges und fremdartiges Aussehen. Ohne ihn wäre der Zeitmesser zweifellos hübscher anzuschauen. Im Gegenteil, sie sähe nicht nur extravagant, sondern auch noch elegant aus. So allerdings erschien sie eher einem Science Fiction Film der 50er Jahre entsprungen. Vielleicht kamen ja Laserstrahlen aus der Uhr oder man konnte mit ihr telefonieren. Bei dem Gedanken musste Brian selbst schmunzeln. Vielleicht war es ja sogar ein Filmutensil aus einem zu Recht nie veröffentlichten französischen B-Movie und war in Wirklichkeit nur ein paar Penny wert.

Aber diese abstrusen Ideen verwarf der gelernte Uhrmacher gleich wieder. Er wusste, dass er es nicht mit etwas wertlosem zu tun hatte, denn hier waren edle Materialien verwendet, Gold, Silber und unter dem Spiegel sogar ihm unbekannte Kristalle. Wobei er sich die Frage stellte, warum diese sich auf der Rückseite befanden, wo man sie von außen gar nicht sehen konnte.

Brian versuchte eine seiner erstandenen Schräubchen in das Gewinde der fehlenden Krone zu schrauben, aber keine passte. Mit dem dünnsten seiner Schraubenzieher schaffte er es, das Innere des Gewindes zu bewegen und schon sprang auf der Vorderseite der Uhr das Datum einen Tag weiter. Es funktionierte also. Um aber das Gewinde nicht zu beschädigen, stoppte er sein Vorgehen augenblicklich und nahm Maß für das erforderliche Ersatzteil. Er notierte die Werte auf seinem Notizzettel und schraubte zufrieden die Einzelteile wieder zusammen. Die montierte Uhr wickelte er dann in eines seiner T-Shirts ein und legte sie vorsichtig in seinen Koffer.

Dann forschte er per Handy nach einem Internet-Café in der Nähe, zog seine Jacke an und machte sich auf den Weg. Er hatte einiges zu erledigen und war ungeduldig, Weiteres über seinen Neuerwerb zu erfahren.

Endlich war der letzte Karton im Auto verstaut. Laeticia Bernard schaute zufrieden auf den Kombi, dessen Heckklappe sie nun doch wesentlich leichter schließen konnte, als vor der Herfahrt. Der Flohmarktbesuch an diesem eher ungemütlichen Samstag war letztendlich doch erfolgreicher verlaufen, als sie am Morgen noch geglaubt hatte. Viele ihrer Sachen hatte sie verkaufen können, vor Allem die sperrigen Dinge, die im Hause ihrer Großmutter so viel Platz wegnahmen. Sicher, sie hatte das Meiste weit unter dem tatsächlichen Wert hergegeben, aber das war ihr egal. Es wurde langsam weniger und irgendwohin musste das Zeug ja. Am Ende wurden die verbleibenden Dinge gemeinsam mit den Möbeln ohnehin von irgendeinem Unternehmen abgeholt, die dann doppelt Profit daraus schlugen. Diese Halsabschneider ließen sich das Abholen bezahlen und verkauften dann das Zeug weiter. Und ein paar wertvollere Sachen befanden sich immer irgendwo zwischen altem Hausrat. So hatte sie aber wenigstens noch etwas davon, es gab ein schönes Geschenk für Oma Fernande und der ein oder andere Käufer freute sich über seinen Neuerwerb. Und die Interessenten, die ihr unsympathisch waren oder von denen sie das Gefühl hatte, dass sie sie über den Tisch ziehen wollten, hatten entweder ohnehin einen höheren Preis bezahlt oder waren leer ausgegangen. Sie fühlte sich insofern wohl und war glücklich mit dem Verlauf dieses Tages.

Auf dem Weg nachhause telefonierte sie dann mit ihrer Freundin Sandrine und berichtete von ihren erfolgreichen Verkäufen und den fast tausend Euro Gewinn, den sie gemacht hatte. Vorwurfsvoll erwähnte Laeticia aber auch, dass ihre Freundin nicht wie versprochen vorbei gekommen war, aber Sandrine hatte Probleme mit ihrem Auto gehabt und war kurzerhand in die Werkstatt gefahren. Sie verabredeten sich auf ein gemeinsames Abendessen am Montagabend.

Ein zweiter Anruf galt ihrer Großmutter, der sie ebenfalls von ihrem Tag erzählen wollte, doch sie ging nicht ans Telefon. Das war insofern nicht ganz so schlimm, als dass sie am folgenden Tag sowieso zum Kaffee verabredet waren. Hoffentlich erinnerte sich Großmutter daran, dachte Laeticia und runzelte die Stirn. Aber selbst wenn nicht, sie ging ja gewöhnlich nirgendwo hin. Und auf ihren großen Eisbecher im Café des Wohnheims würde sie niemals verzichten wollen. Also würde sie nachmittags auf jeden Fall dort sein.

Während Laeticia sich durch den Stadtverkehr quälte, ließ sie ihre Geschäfte abermals Revue passieren. Auch die jeweiligen Käufer hatte sie wieder vor Augen. Die, die ihr extrem unsympathisch vorgekommen oder besonders aufgefallen waren, aber vor allem Jene, die sehr freundlich gewesen waren. Da war dieses junge Pärchen, dem sie am Liebsten noch ein paar Dinge gratis mitgegeben hätte. Die Kunststudentin, die den ausgestopften Vogel als Modell kaufte. Die süße alte Frau, die zu jedem der Waren eine Anekdote zu berichten hatte, aber am Ende doch nichts kaufte. Dann der nette und charmante Amerikaner, der diese hässliche monströse Uhr kaufte und sichtlich glücklich darüber war. Er hatte so eine freundliche Wärme ausgestrahlt und sprach mit einer sonoren Stimme, die ihr Gänsehaut bereitet hätte, wäre nicht dieser fürchterliche Akzent gewesen. Aber trotz seiner beeindruckenden Erscheinung war er so sympathisch schüchtern gewesen. Und dann war da noch der junge Mann, der extrem gut aussah, sich aber scheinbar mehr für sie als ihre Waren interessiert hatte. Er wollte gleich ihre Telefonnummer haben, die sie ihm natürlich nicht gegeben hatte. Sie fragte sich, wie häufig er diese Masche anwandte und wie viel Nummern er wohl am Abend gesammelt hatte. Zahllose Gesichter schwebten an ihrem geistigen Auge vorüber und sie lächelte vergnügt, während sie das Autoradio noch etwas lauter stellte.

Einen solchen Flohmarkttag würde sie noch einlegen, dann wollte sie aufhören. Es war doch ein großer Aufwand und eine Menge Zeit, die dadurch verloren ging. Sandrine hatte versprochen, sie beim nächsten Mal zu begleiten. Dann würde es sicher doppelt so viel Spaß machen. Nun hieß es aber erst einmal das Auto wieder zu entladen und zurückzugeben. Dafür musste sie zunächst beim Haus der Großmutter in der Rue de l‘Auvergne vorbei und dann zu René, ihrem Nachbarn, der im Haus gegenüber wohnte.

Sie fragte sich, ob sie sein Auto das nächste Mal wieder benötigte, oder ob sie den Rest vielleicht doch in ihren Wagen hinein bekam. Wenn Sandrine auch noch etwas transportieren konnte, sollte das reichen. So nett René auch war, Laeticia hatte die Befürchtung, er könne etwas als Gegenleistung verlangen, das sie nicht bereit war zu erbringen. Er hatte sie schon mehrfach gefragt, ob sie mit ihm ausgehen wolle, aber bisher konnte sie immer eine Ausrede finden. Irgendwie fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht unbedingt wohl, aber den Grund dafür konnte sie nicht erklären. Das Beste war, sie drückte ihm die Autoschlüssel mit einer Flasche Wein in die Hand und flüchtete sofort nach einem kurzen Dankeschön wieder. Sie hoffte, so würde es funktionieren. Trotzdem hatte sie schon vorab ein schlechtes Gewissen, denn andererseits war es auch furchtbar nett von ihm, ihr sein Fahrzeug zu leihen. Er hatte das schon beim ersten Flohmarkttermin angeboten, aber Laeticia hatte abgelehnt. Nachdem sie aber beim Beladen ihres Autos feststellen musste, dass ihr eigener Stauraum doch eher nur für kleinere Dinge geeignet war, war sie dann doch auf sein Angebot eingegangen und er schien überglücklich darüber gewesen zu sein. Nun, irgendwie würde sie aus dieser Nummer schon wieder rauskommen, außerdem war er ja auch tatsächlich ganz in Ordnung.

Übung im Abwimmeln von Verehrern hatte Laeticia zu Genüge, immer wieder gab es Bewerber, die es mehr oder weniger ernst meinten. Auf die ein oder andere kurze Affäre hatte sie sich auch schon eingelassen, immer in der Hoffnung, es wäre der Richtige. Aber relativ schnell musste sie dann doch erkennen, dass ihre Ansprüche höher waren, als sie ihre Kandidaten erfüllen konnten. Verlangte sie denn so viel? Auch sie sehnte sich nach einer Schulter zum Anlehnen, einem Partner, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte und das ein Leben lang. Aber bisher war sie nur Männern begegnet, mit denen man zwar tolle Dinge erleben konnte, aber die schnell das Interesse an ihr als Mensch verloren hatten. Oder sich vielleicht auch ihrem Intellekt nicht gewachsen fühlten. War sie doch zu arrogant? Sie wusste, dass sie oft diesen Anschein erweckte, aber in den meisten Fällen war dies ein reiner Schutzmechanismus. Na ja, irgendwann würde auch sie den passenden Deckel zum Topf finden.

Schnell verdrängte Laeticia diese Gedanken wieder, sie wollte sich den Tag damit nicht verderben. Zur Feier des Tages wollte sie sich heute Abend etwas ganz Besonders zu Essen machen. Sie hatte sich am Vortag fangfrischen Seeteufel gekauft, den sie mit frischem Gemüse und Weißweinsoße zubereiten wollte. Für sie war es ein besonderes Vergnügen ein solches Mahl zu kochen und zu genießen, auch wenn sie dies alleine tat. Aber bei schöner Musik und einem guten Glas Wein ließ sich auch so der Abend genussvoll zelebrieren. Und außerdem hatte sie ja noch Charlie, ihren Kater, der ihr Gesellschaft leistete. Danach würde sie noch mal ausführlich darüber nachdenken, was sie sich von dem Geld aus den Verkäufen leisten würde, Ideen hatte sie genug.

Diesen Gedanken nachhängend und mit einem Lächeln der Vorfreude auf den Lippen bog sie in die Einfahrt des kleinen Hauses von Fernande Horloger ein.

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