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ОглавлениеSonntag, 13. Mai, morgens
Es war ein sonniger und ruhiger Sonntagmorgen als sich Philippe Renard zuhause an seinen Frühstückstisch setzte. Sein morgendliches Mahl bestand aus einer großen Tasse Kaffee und zwei Croissants, die er mit Butter bestrichen genüsslich in den heißen Kaffee tunkte. Dass die Butter dabei schmolz und riesige Fettaugen auf seinem Getränk hinterließ störte ihn wenig. Es war nun einmal seine typische Zeremonie um diese Uhrzeit. Und spätestens mit dem Auslöffeln des verbleibenden Bodensatzes der Tasse, bestehend aus dem Rest Kaffee, zerflossener Butter und den aufgeweichten Croissantkrümeln fand alles den Weg zu seiner ursprünglichen Bestimmung. Er lächelte bei dem Gedanken, spiegelte doch das Schicksal seines Frühstücks genau seine Arbeitsweise wider. Selbst wenn ihm einmal einer seiner Verdächtigen vermeintlich kurzfristig entwich, am Ende erwischte er sie alle. Er hatte die Geduld, die Möglichkeiten und den Willen dazu und er pfiff auf Regeln und Gesetze, wenn sie dem Erreichen seines Ziels im Wege standen. Entweder er umging sie oder beugte sie nach seinen Bedürfnissen.
Carl Bishop ohne Anklage oder begründbaren Verdacht festzuhalten widersprach allem, wofür sein Land und die westliche Welt stand. Solange es ihn aber seiner Absicht näherbrachte, heiligte der Zweck seine Mittel. Heute aber schon würde der Amerikaner reden und die nötigen Antworten geben. Ob sie Philippe allerdings wirklich weiterbrachten, konnte er noch nicht so wirklich abschätzen. Er würde es bald wissen.
Über eine geschützte Leitung rief er seine Emails ab, erwartete aber heute keine besonderen Neuigkeiten oder Überraschungen. Seine reguläre Arbeit verlief im Moment relativ ruhig, es gab akut keine Terrordrohungen, seine Spitzel und Spione, die weltweit verteilt waren, meldeten derzeit keine Auffälligkeiten. Am Montag hatte er seinen wöchentlichen Termin beim Präsidenten, bei dem er ihm allerdings aktuell nichts Neues zu berichten hatte, bis auf einige Vorhaben, die er in Mali aufgrund der jüngsten Entwicklungen geplant hatte.
Philippes Email-Postfach war so gut wie leer, eine Nachricht stach ihm jedoch sofort ins Auge. Hatte etwa wieder eine seiner Fallen zugeschnappt? Er verspürte sofort eine freudige Erregung und sprang auf die Internetseite, die in dem Mail verlinkt war. War es Zufall, dass nach Jahren der absoluten Funkstille plötzlich innerhalb von drei Tagen gleich zwei Reaktionen auf seine ausgelegten Köder ausgelöst wurden? Bishop saß in seiner Zelle, konnte also nicht der Auslöser sein.
Renard las mehrfach die Nachricht, die jemand gestern Abend auf einer der Homepages seiner Pseudofirmen hinterlassen hatte. Da gab es tatsächlich einen Interessenten für ein Ersatzteil einer Uhr von Chevalier. Bingo! War es tatsächlich die Uhr, die er suchte? Gab es denn überhaupt eine andere? Es hing aber auf jeden Fall wieder jemand am Köder, nun musste er die Falle zuschnappen lassen. Die Antwort war schnell formuliert. Er bot dem Interessenten an, das Ersatzteil direkt frei Haus zu liefern, wenn er ihm die Lieferadresse mitteilte. Bei schneller Antwort sogar heute noch. Schnelle Lieferung nachhause sei eine der besonderen Kompetenzen der Firma „Watch out for watches“.
Philippe Renard kleidete sich an und machte sich auf den Weg zur Arbeit, auch wenn diese heute eher privater Natur war. Jacobert benötigte er nicht dabei, der konnte seinen Sonntag mit einem Angelausflug oder dergleichen verbringen. Renard würde sein Verhör alleine durchführen und er war sich sicher, dass dies nicht länger als eine Stunde dauern würde.
In seinem Büro angekommen, begab er sich sogleich an seinen Schreibtisch und schaltete die erforderliche Technik an. Er würde Bishop gleich in seiner Zelle verhören, dazu wollte er allerdings dort das Licht einschalten, um jegliche Regung seines Opfers verfolgen zu können. Nach einem Tag Gefangenschaft ohne auch nur eine Tropfen Wasser oder der Möglichkeit die Toilette zu besuchen und 16 Stunden absoluter Dunkelheit, die nur durch einen Kopfschmerz verursachenden Pfeifton begleitet wurde, würde eine direkte Befragung bei gleißendem Licht zum nötigen Erfolg führen.
Renard schaltete die Scheinwerfer ein und den Pfeifton ab und sprach mit sarkastischem Unterton in sein Mikrofon: „Guten Morgen Monsieur Bishop, haben sie gut geschlafen? Oder haben sie die Zeit genutzt, sich eine Antwort auf meine gestrige Frage zu überlegen?“
Er beobachtete den Mann in der Zelle mit trockenen Lippen und verstörtem Blick, sogar eine durchnässte Hose glaubte er zu erkennen, Bishop hielt sich die Hände vor die Augen, geblendet von dem plötzlichen Licht. Für eine sofortige Antwort war er zu überrascht.
„Ich wiederhole auch gern die Frage noch einmal, falls sie sie vergessen haben sollten“, fuhr Renard unbeeindruckt und in strengem Ton fort. „Was wissen sie über Chevalier und seine Erfindungen?“
„Ich weiß nichts, das habe ich ihnen doch schon gesagt“, jammerte Bishop voller Verzweiflung. Die letzten Stunden hatten ihm sichtlich zugesetzt. „Ich bin auf den Namen bei der Suche nach weniger bekannten Uhrmachern und Konstrukteuren des letzten Jahrhunderts gestoßen. Ich habe gelesen, dass er sehr moderne und für seine Zeit futuristische Modelle entworfen hat.“
Bishop feuchtete seine Lippen an.
„Das machte mich neugierig und Chevalier zu einem der möglichen Personen, über die ich berichten will. Deshalb versuche ich mehr über ihn herauszufinden. Warum halten sie mich hier fest, was habe ich verbrochen?“
Seine Stimme überschlug sich bei diesen Worten.
„Ich und nur ich alleine stelle hier die Fragen, mein Guter!“, rief Renard scharf. Haben sie schon etwas über seine Modelle erfahren? Und mit wem genau wollten sie sich hier in Paris treffen?“
„Ich habe einen Termin bei Chopard und Cartier. Heute wäre ich bei Van Cleef & Arpels gewesen. Ich hoffe dort mehr zu erfahren. Lassen sie mich bitte gehen, ich habe doch nichts Böses im Sinn!“
Renard machte eine Pause und betrachtete seinen Gefangenen ganz genau. Bishop war verängstigt und eingeschüchtert. Seine sportliche Erscheinung vom Vortag war verschwunden und dem Anblick eines alten geschwächten Mannes gewichen. Wenn er mehr wusste als er zugab, hätte er es ausgespuckt. Mehr Informationen konnte er wohl von diesem Mann nicht erfahren. Dessen war Philippe sich sicher. Seine anfängliche Zuversicht schwand der Enttäuschung. Aber auch solche Rückschläge gehörten zu seinem Geschäft. Er würde seinen Gefangenen gehen lassen, aber jeden Schritt verfolgen. Und sollte er sich auch nur in Richtung Polizei oder Botschaft bewegen, wurde er aus dem Weg geräumt. Renard würde zwei seiner Beamten mit der Beschattung beauftragen. Bishops Handy und das Telefon in seinem Hotelzimmer waren bereits angezapft, Wanzen und Kameras installiert. Dies hatte er gestern bereits veranlasst. Der Amerikaner würde keine Bewegung machen, ohne dass Renard es wusste.
„Sie können gehen, Monsieur Bishop“, sprach er beruhigend ins Mikrofon auf seinem Schreibtisch. „Ich glaube ihnen. Aber ich behalte mir vor, sie bei Bedarf erneut zu befragen.“
Er sah, wie sich Bishops Gesichtszüge etwas entspannten. Er schien erleichtert, traute aber seinem Bewacher wohl nicht so ganz, denn er reagierte nicht weiter.
Das wirst du auch vorerst nicht tun, dachte Philippe und betätigte einen Schalter an seinem Kommandostand. Daraufhin strömte unsichtbares Gas in die Zelle und Bishop brach augenblicklich zusammen. Er beauftragte die ausgewählten Beamten, das Nötige zu tun. Sie würden den Betäubten in sein Hotel bringen, wo er nach kurzer Zeit wieder erwachen würde. Mit einer entsprechenden Droge versetzt, würde er sich nur vage an die Geschehnisse erinnern können. Die beiden Bewacher würden Bishop keine Minute aus den Augen lassen und Renard direkt Bericht erstatten.
Die Sonne schien durch das Hotelfenster direkt auf sein Kopfkissen und die warmen Strahlen weckten Brian sanft wie selten. Er drehte sich auf den Rücken und streckte seine Glieder. So gut geschlafen hatte er lange nicht mehr. Er hatte gestern Abend zum Abschluss des erfolgreichen verlaufenen Tages ein schmackhaftes Menü zu sich genommen, begleitet von einem guten Glas Rotwein und war dann zu seinem Hotel zurückspaziert. Er hatte den Tag in Gedanken noch einmal Revue passieren lassen und erst dann gemerkt, wie müde die Ereignisse ihn doch gemacht hatten. Seit einigen Monaten schon brauchte er abends zum Einschlafen seinen Whiskey, zu sehr plagten ihn die Gedanken an die Zukunft, seine Zukunft und die seines Sohnes. Aber ebenso die Erinnerungen an die vergangenen Monate und Jahre, gute wie schlechte Phasen. Er schlief wenig und träumte schlecht und der Whiskey verhalf ihm zumindest zum Einschlafen. Er wusste, dass das nicht so weitergehen konnte, hatte aber nicht den Mut sich einzugestehen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Manchmal hatte Brian das Gefühl, sein Leben verlief sinnlos, so wenig zielstrebend. Das Einzige, was ihn antrieb war das gute Verhältnis zu David. Aber je erwachsener dieser wurde, desto mehr wurde ihm bewusst, dass dieser irgendwann auch mal wegziehen würde und er dann niemanden mehr hatte – keine Eltern, keinen Partner. Geschwister hatte er keine und für Freunde in den letzten Jahren wenig Zeit gehabt. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr plagten ihn die Träume.
Doch an diesem Morgen ging es ihm prächtig. Er war ohne sein persönliches Schlafmittel eingeschlafen, auch wenn der Grund dafür gewesen war, dass er gestern einfach zu müde war, sich noch eine Flasche Whiskey zu besorgen. Umso verwunderter und zugleich erfreuter war er über die Tatsache, dass es offensichtlich auch ohne ging. Und scheinbar sogar besser. War es der Kauf seiner neuen Uhr oder der Anblick der bezaubernden Verkäuferin, das ihn so freudig stimmte und die Nacht so angenehm verbringen ließ? Oder hatte das eine Glas Rotwein einfach nur geholfen? Was es auch war, er schöpfte neue Hoffnung. Für was auch immer. Aber an diesem Morgen nahm sich Brian fest vor, es weiterhin ohne Whiskey zu versuchen.
Er duschte und rasierte sich, zog sich an und griff nach seinem Smartphone. Für einen Anruf bei seinem Sohn war es noch zu früh an einem Sonntag, David würde ihn verfluchen, oder erst gar nicht rangehen. Wahrscheinlich sogar beides. Aber Brian wollte auch nachschauen, ob es sonst etwas Neues gab. Vielleicht eine Nachricht bezüglich seines Vaters oder vielleicht hatte ja auch der Internethändler schon geantwortet. Aber das schien ihm genauso abwegig in Anbetracht der Tatsache, dass es Sonntagmorgen war und er erst gestern Abend geschrieben hatte. Auch wenn Internetshops sich nicht an Ladenöffnungszeiten zu halten hatten, die in Frankreich ja ohnehin schon großzügiger geregelt waren als in Deutschland, wollten deren Betreiber sicher auch ihren Sonntag genießen.
Umso überraschter schaute Brian auf sein Display, als er sah, dass genau dieser Händler ihm heute Morgen schon sehr früh geantwortet hatte. Vielleicht auch einer, der nicht schlafen kann, dachte er schmunzelnd.
Noch erstaunlicher war der Inhalt der Antwortmail. Man bot ihm tatsächlich an, heute noch zu liefern. Das wäre natürlich fantastisch, dann konnte Brian den Sonntag wenigstens sinnvoll nutzen. Wer weiß, wie lange er morgen auf dem Polizeirevier festsaß und mit welchem Ergebnis. Getrieben von euphorischer Ungeduld beantwortete Brian augenblicklich die Nachricht. Im Foyer seines Hotels gab es keine Möglichkeit sich ungestört zu unterhalten, deshalb bot er dem Verkäufer an, sich in einem Café gleich um die Ecke zu treffen. Er möge ihm nur die Uhrzeit nennen, dann könne man das Geschäft bei einem Milchkaffee abwickeln. In seiner freudig überstürzten Antwort vergaß Brian völlig nach dem Preis für die Krone zu fragen. Eigentlich war ihm das auch relativ egal, er wollte ja unbedingt dieses Ersatzteil haben. Aber so gar nicht danach zu fragen erschien ihm im Nachhinein doch etwas ungeschickt, offenbarte es einem Anbieter doch uneingeschränkten Kaufwillen, den dieser natürlich auch ausnutzen konnte, je nachdem, wie seriös er war. Aber der Kauf war ja auch noch nicht abgemacht, Brian konnte immer noch ablehnen, wenn der Preis ihm zu hoch erschien. Jetzt noch eine Mail hinterher zu schicken war ihm dann doch zu dumm.
Bei genauerem Überlegen erschien ihm das Ganze dann aber doch etwas seltsam, es sollte eine Art Lieferung erfolgen, bevor ein Kauf überhaupt zustande kam. Aber es handelte sich hier ja auch um etwas nicht Alltägliches, gegebenenfalls unterschieden sich da die Kaufmodalitäten. Und Brian befand sich in Frankreich, vielleicht war eine solche Vorgehensweise hier ja auch üblich. In seiner Heimat, den Vereinigten Staaten wurden Geschäfte zum Teil auch anders abgewickelt als in Deutschland, dem Land in dem er nun schon seit vielen Jahren wohnte. Dort, wo alles doch viel zu geregelt und formal funktionierte und für Kundenservice war Deutschland ja auch nicht gerade ein gutes Beispiel. Also entschied sich Brian über seine gehegten Zweifel nicht näher nachzudenken, zumal ihn die Vorstellung eventuell schon bald an der Uhr herumzuschrauben mit Ungeduld erfüllte.
Der Uhrmacher wickelte die Uhr noch einmal aus dem T-Shirt und sah sie sich an. Sie war wirklich eigenartig aber dadurch auch einzigartig. War wirklich dieser Jean-Pierre Chevalier ihr Erbauer und handelte es sich wirklich um ein Einzelstück? Wenn er nur etwas mehr über Chevalier erfahren könnte. Eventuell war diese Uhr von unschätzbarem Wert. Er musste es herausfinden. Vielleicht konnten ihm die hier ansässigen Uhrenmanufakturen oder großen Juweliere Auskunft geben. Oder sogar der Verkäufer der Ersatzkrone, wobei das eher unwahrscheinlich war. Brian entschied sich gleich nach dem Frühstück einmal nachzuschauen, welche Adressen hier vor Ort waren. Aber jetzt brauchte er erst einmal eine Stärkung. Das kontinentale Frühstück hier war nicht ganz so sein Geschmack, er brauchte zum Tagesbeginn etwas Herzhaftes. Eier mit Speck war das Mindeste, was ihm die Energie für den Tag liefern sollte.
Auch wenn diese Stadt auf internationalen Tourismus eingestellt war, blieb man in Frankreich doch gern bei seinen Traditionen. Daher boten die Cafés zwar hervorragenden Kaffee und leckere Croissants und Baguette an, aber meist auch nicht mehr. Aber Brian hatte ein kleines Café ausgemacht, dessen Besitzerin ein hervorragendes Pilz-Omelett zauberte, das von knusprigem Speck, leckeren Würstchen und Schinken, sowie einem herzhaften Ratatouille begleitet wurde. Dazu servierte sie einen Kaffee, den man eher in Italien erwarten würde. Und frisches Baguette, soviel man wollte. Dort hatte er bisher jeden Morgen gefrühstückt und so sollte sein Tag auch heute wieder beginnen.
Direkt nachdem er seinen Teller geleert hatte, sah Brian schon nach, ob eine Antwort da war. In der Tat hatte sich sein neuer Geschäftspartner schon gemeldet. Er könne schon um elf liefern, es würde ihm aber auch nichts ausmachen, direkt ins Hotel zu kommen, wenn Brian ihm die Adresse nannte. Es war zwar immer noch ungewöhnlich, Brian dachte sich aber nichts Schlimmes dabei. Dennoch sah er das Café als den sinnvolleren Treffpunkt an, deshalb antwortete er, dass er um Punkt elf in dem genannten Café an einem Tisch bei einem Kaffee warten würde. Man könne ihn an einer braunen Lederjacke erkennen.
Brian hatte also noch gut eine Stunde Zeit. In der Nacht hatte es erneut geregnet, nun aber schien die Sonne. Die Luft schien gereinigt, sofern man das überhaupt von solcher Stadtluft behaupten konnte.
Zu Hause in der Nähe von Berlin war die Luft eindeutig angenehmer. Auch wenn die Hauptstadt nur wenige Kilometer entfernt war, reichte der Abstand doch, um etwas im Grünen und somit in ausreichendem Abstand von Smog und Lärm leben zu können. Brian war zwar in den USA geboren und hatte den größten Teil seiner Kindheit dort verbracht, war aber im Alter von achtzehn nach West-Berlin gekommen, wo sein Vater ein Uhrengeschäft eröffnete. Seine Großmutter war Deutsche in den Staaten, somit war er selbst zu einem Viertel Deutscher. Wenn Berlin auch nach dem Mauerfall sehr international geworden war, hatte er doch wiederum eine Deutsche kennengelernt und geheiratet. Sie hatten ein kleines Häuschen im Umland gekauft und dort ihren Sohn großgezogen. Nach der Trennung verblieb er in dem Haus, Christine zog es vor in die Stadt zu ziehen. Trotzdem war der andere jeweils in einer halben Stunde mittels Auto oder S-Bahn zu erreichen, so dass auch für David der Wechsel zwischen den beiden Elternteilen relativ einfach möglich war. Es war nicht einfach für ihn gewesen in dem Ort zu bleiben, nachdem seine Frau ausgezogen war. Die engen Nachbarn wussten zwar etwas genauer Bescheid, aber Getratsche war in einem solch kleinen Dorf nicht zu verhindern und jeder wusste etwas zu seiner Situation beizutragen. Mit der Zeit legte sich aber das Gerede um seine Person etwas, andere Geschehnisse hatten im Tagesgespräch die Oberhand gewonnen. Allzu viel Kontakt zu den Dorfbewohnern hatte er sowieso nicht mehr, seitdem David den Dorfkindergarten und die Grundschule verlassen hatte und ein Gymnasium in der Stadt besuchte. Insofern führte Brian ein ruhiges und ungestörtes Leben auf dem Land, was aber auch den Nachteil hatte, dass es sehr einsame Phasen gab und besonders dann, wenn sein Sohn bei seiner Mutter war.
Er schlenderte durch die Gassen an der Seine entlang und machte eine Runde durch den Jardin des Tuileries. Er war vor vielen Jahren schon einmal in Paris gewesen und fand, die Stadt hatte viel von ihrem romantischen Flair verloren. Trotz der historischen Bauwerke, der Parkanlagen und der touristischen Ecken. Größtenteils sah es aber in der Innenstadt genauso aus wie in jeder Großstadt: Verkehr, Lärm, Dreck und schlechte Luft. Und sobald man in die Vororte kam, musste man schon Angst um seine Habseligkeiten bekommen. Insofern unterschied sich die französische Metropole auch nicht von der deutschen Hauptstadt.
Brian kam um fünf vor elf an dem Café an, wo er den Verkäufer der Uhrenkrone erwartete. Er setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster in der Nähe des Eingangs, wo er die Tür gut im Blick hatte und bestellte sich einen Café au lait. Er hatte zwar bereits eine Menge schon zum Frühstück getrunken, aber von Kaffee konnte er nie genug bekommen.
Das Café war nur wenig besucht, was Brian wunderte, war dies doch der ideale Zeitpunkt an einem Sonntagmorgen für einen Cafébesuch. Zumindest entsprach dies seinem Bild des Franzosen, was – zugegebenermaßen – durchaus Klischee behaftet war. Er sah sich im Café um. Auch hier war der Inhaber offensichtlich Araber und auch die wenige Klientel war überwiegend nordafrikanischer Herkunft. Vier Männer saßen am Tresen mit einem Mokka und diskutierten auf Arabisch mit dem Mann dahinter. Ein junges Pärchen saß an einem Tisch und frühstückte verliebte Blicke tauschend, es waren offenbar Einheimische. An einem Tisch in der Ecke saß ein kleiner Mann, der am ehesten dem Prototyp des Franzosen entsprach: den Trenchcoat über den Stuhl gelegt, das Barett noch auf dem Kopf trank er einen Milchkaffee. Er war vertieft in seine Tageszeitung, blickte aber immer wieder verstohlen in Brians Richtung. Seine Verabredung war er aber sicher nicht, schließlich hatte er Brian hereinkommen sehen und hätte ihn aufgrund der Lederjacke zweifellos erkennen müssen. Außerdem sah er nicht aus wie ein Uhrenverkäufer, eher wie ein Buchhalter. Aber seine scharfen Gesichtszüge mit der Hakennase und der stechende Blick fielen trotz des gewöhnlichen Äußeren auf.
Brian trank in aller Ruhe seinen Kaffee und wartete. Dabei betrachtete er die Leute in dem Café, ließ dabei aber die Tür nicht aus den Augen, wollte er doch auf keinen Fall verpassen, wenn sein Geschäftspartner auftauchte. Aber nichts passierte. Keiner kam herein und keiner ging hinaus. Von seinem Platz konnte Brian auch den Bürgersteig vor dem Café gut einsehen, aber auch dort war nichts zu sehen. Passanten liefen vorbei, Autos hielten und fuhren weiter, aber es schien sich niemand für das Café zu interessieren. Auch im Inneren gab es keine Veränderungen. Das Pärchen flüsterte sich weiter vermeintlich zärtliche Worte ins Ohr, die Araber diskutierten laut und der Franzose in der Ecke war in seine Zeitung versunken, nur gelegentlich von einem Aufblicken unterbrochen.
Nun war es schon zwanzig nach elf und immer noch war niemand in das Café herein gekommen. Es war fast die gleiche Situation wie vor ein paar Tagen in dem Restaurant, wo Brian seinen Vater erwartet hatte. Langsam kam in ihm wieder dieses Gefühl des Zorns auf, hatte man ihn abermals versetzt? Er schaute auf seinem Telefon, ob es vielleicht eine Nachricht gab. Ein Verkäufer, der sich verspätete gab doch gewöhnlich Bescheid. Vielleicht aber auch nicht unbedingt in Frankreich. Seine deutsch geprägte Erziehung beinhaltete natürlich die Tugend der Pünktlichkeit, in anderen Ländern – und dazu zählte wohl auch Frankreich – nahm man es damit nicht ganz so genau. Er würde sich also noch ein wenig gedulden müssen. Sein Gesprächspartner kam sicherlich noch.
Also bestellte sich Brian noch einen Kaffee und versuchte sich einzureden, dass alles in Ordnung war. Da das Beobachten der anderen Gäste auch nicht wirklich spannend war, nahm er sein Smartphone aus der Tasche und versuchte im Internet nochmal etwas über Chevalier herauszufinden, die Suche blieb allerdings erfolglos. Das verliebte Pärchen war gegangen und hatte das halbe Frühstück stehen lassen. Erst nachdem der Cafébesitzer seine Landsleute vor die Tür begleitet hatte, räumte er den Tisch ab. Es war inzwischen kurz vor zwölf und Brian hatte die Lust am weiteren Warten verloren. Die ganze Vorfreude auf eine kurzfristige Reparatur war mit einem Mal dahin. Er bezahlte und verließ ungehalten das Lokal. Unter anderen Umständen hätte er dem Mann mit dem Barett wahrscheinlich zum Abschied freundlich zugenickt. So aber führten ihn seine Schritte zügig auf die andere Straßenseite, auf der er links abbog, um Richtung Hotel zurück zu gehen. Dieses war nur einen Block weiter, er hatte es nicht weit.
Beim Betreten des Hotels schaute er zufällig zurück die Straße herunter, wo er hergekommen war und erblickte den kleinen Franzosen im Trenchcoat, der auf der anderen Straßenseite ebenfalls in seine Richtung ging. Ohne sein Barett hätte er ihn wahrscheinlich gar nicht erkannt. Für einen kurzen Moment überlegte Brian, ob der Mann vielleicht doch der Verkäufer gewesen sein könnte, verwarf aber diesen Gedanken schnell wieder, war er doch zu abwegig.
In seinem Zimmer angekommen warf Brian seine Jacke aufs Bett und ging zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen, die das Zimmermädchen wohl zum Schutz vor der Sonne zugezogen hatte. Dabei sah er auf die Straße hinunter und war überrascht, dort abermals den Mann im Trenchcoat zu sehen. Er stand auf dem Bürgersteig gegenüber und schien das Hotel zu betrachten. Brian glaubte sogar, dass in dem Moment, als er die Vorhänge aufzog, der Franzose zu ihm hinauf blickte. Er überquerte die Straße und ging auf den Hoteleingang zu. Nun war er aus Brians Blickfeld herausgetreten, aber es schien sicher, dass er das Hotel betreten hatte. Wollte dieser Mann etwa doch zu ihm? War das nur ein Zufall? Oder hatte sich Brian vielleicht doch am Ende getäuscht und es war gar nicht der Mann aus dem Café? Leicht verwirrt trat Brian auf den Flur hinaus.
Das Hotel war so gebaut, dass auf jedem Stockwerk eine ovale Galerie zu den Zimmern führte, die Mitte dieses Ganges aber über alle Stockwerke offen war. So konnte Brian, wenn er am Nachbarzimmer vorbeiging und sich weit über die Brüstung lehnte, die Rezeption im Erdgeschoss sehen. Er war zwar im fünften Stock und somit konnte er nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber er sah den Mann mit dem Barett an der Rezeption stehen und mit dem Hotelangestellten sprechen. Es war zweifelsfrei der Mann aus dem Café. Brian wollte gerade Richtung Aufzug gehen, um hinunter zu fahren, da drehte sich der kleine Franzose um und verließ das Hotel wieder. Offensichtlich hatte es doch nichts mit ihm zu tun. Aber seltsam war es schon und Brian fühlte sich plötzlich unbehaglich.
Er schaute erneut nach, ob es irgendwelche Nachrichten gab, musste aber erneut feststellen, dass der Verkäufer sich nicht gemeldet hatte. Als Brian eine weitere Email verschickte, um nach dem Grund für die geplatzte Verabredung zu fragen, bekam er die Nachricht als unzustellbar zurück. Er verglich noch einmal die Adressen um sicherzustellen, dass er sich nicht vertippt hatte, aber alles war korrekt. Die Adresse, die er noch vor zwei Stunden angeschrieben hatte, gab es nicht mehr. War das etwa ein Serverfehler? Oder was könnte sonst der Grund hierfür sein? Beim Versuch auf die Internetseite des Geschäftes zu kommen, um dort evtl. eine Nachricht zu verfassen, erwartete Brian das nächste Rätsel. Auch die Homepage war plötzlich nicht mehr verfügbar. Spielte hier irgendjemand ein Spiel mit ihm? Oder war er nur Opfer der Technik, mit der er sowieso etwas auf Kriegsfuß stand?
Der Uhrmacher wusste aber, wer ihm weiterhelfen konnte. Auf die Gefahr hin, dass er sich wieder anhören musste, wie altmodisch er war und dass es endlich einmal Zeit wäre, einen Kurs zu Grundlagen des Internetsurfens zu besuchen, wählte er die Nummer von David. Sein Sohn war ein Experte, was Computer, Internet und all diese Technik anging. Brian hatte es irgendwann aufgegeben, David danach zu fragen, was er vor seinem Computer tat und wo er sich wieder einmal eingeloggt hatte. Erstens würde er es nicht verstehen, zweitens konnte David ihm viel erzählen. Aber ob das alles immer legal war, da war sich der besorgte Vater nicht sicher. Nun aber würde er Davids Kenntnisse gebrauchen können. Er würde hoffentlich Licht ins Dunkel bringen, wahrscheinlich gab es eine ganz plausible Erklärung, Brian musste sich nur gedulden.
Das Altenheim lag an einer Nebenstraße und war umgeben von einer großen Parkanlage mit majestätischen alten Bäumen, einem Ententeich, einem kleinen Theaterplatz für Konzertaufführungen und zahlreichen Bänken zum Verweilen. Ein idyllischer Ort, um seinen Lebensabend zu verbringen, trotz des Bewusstseins jedes Bewohners hier, dass dies die letzte Station einer langen Reise sein würde.
Laeticia hatte einige Male auf dem Parkplatz kreisen müssen, bis sich eine Lücke auftat. Es war Sonntag und somit Hauptbesuchstag für Verwandte und Freunde und dank dem angenehmen Wetter und der wärmenden Sonne waren viele Spaziergänger auf den Wegen rund um den Gebäudekomplex herum unterwegs. Andere, die des Laufens nicht mehr mächtig waren bevölkerten die Terrassen und Balkone und das kleine Café im Erdgeschoss nahe beim Eingang.
Dort saß auch schon Laeticias Großmutter Fernande Horloger und wartete auf ihre Enkelin. Sie trug zum dunkelblauen Rock eine weiße Bluse, gepflegte Schuhe und hatte zur Feier des Tages eine Perlenkette und das passende Armband angelegt. Ihren Eisbecher mit Erdbeeren, Sahne und Schokoladensoße hatte sie bereits zur Hälfte geleert. Eine Gaumenfreude, die sie sich trotz aller Diätpläne und Warnungen der Ärzte täglich gönnte. Zumindest an Tagen, an denen sie sich überhaupt an das Café erinnerte.
Ein freudiges Strahlen huschte über das faltige Gesicht der alten Frau, als sie Laeticia auf sie zukommen sah. Laeticia konnte vom ersten Augenblick an erkennen, dass es ihrer Großmutter heute prächtig ging. Und das freute auch sie, war doch kaum etwas deprimierender, als seinen Nachmittag mit einem Menschen zu verbringen, der nur wirres Zeug redet oder seinen Besucher im schlimmsten Fall nicht einmal erkennt. So gern man diesen Menschen auch hatte. Aber heute war nicht so ein Tag. Fernandes Augen funkelten neugierig und lebensfroh und ihre Zunge leckte gierig den noch so kleinsten Rest Eis und Sahne aus den Mundwinkeln.
„Setz dich, mein Kind“, rief sie schon von Weiten ihrer Enkelin entgegen, „ich hab schon mal angefangen. Du weißt ja, wenn ich mein Eis zu spät esse, dann habe ich heute Abend keinen Hunger mehr.“
„Bonjour, Mamie“, begrüßte Laeticia die alte Frau und drückte ihr zwei Küsschen links und rechts auf die Wangen. „Wie geht es dir heute? Du siehst großartig aus!“
„Danke, meine Kleine. Ich fühle mich auch großartig. Liegt bestimmt am Wetter. Die Vögel haben mich heute mit freudigem Gezwitscher geweckt. Die haben sich bestimmt auch über die Sonne gefreut. Lass uns ein wenig nach draußen gehen, ich esse nur schnell noch mein Eis fertig. Willst du nicht einen Kaffee trinken?“
„Nein Danke, Großmutter! Lass uns lieber die frische Luft genießen, aber iss erst in Ruhe auf.“
So gern Laeticia auch Kaffee trank, der Filterkaffee hier schmeckte scheußlich. Sofern es möglich war, drückte sie sich gerne um die gemeinschaftliche Tasse Kaffee. In der Botschaft stand ein Kaffeeautomat direkt neben ihrem Büro, der köstlichen Kaffee in allen Variationen ausspuckte und mit jedem italienischen Café mithalten konnte. Seitdem war sie etwas verwöhnt und empfand gewöhnlichen Filterkaffee wie Spülwasser. Selbst zuhause trank sie nur noch Tee.
Fernande löffelte genüsslich ihren Eisbecher aus und sie hätte vermutlich auch die letzten Reste noch aus dem Glas geleckt, hielt sie sich nicht selber für eine Dame von Welt. Aber es machte Freude zu sehen, wie sehr sie diese Leckerei genoss.
Laeticia zahlte für ihre Großmutter und die beiden machten sich auf den Weg in den Park. Den kleinen Butterkeks, der zum Eis gereicht wurde, hatte die alte Dame wie gewöhnlich in ihre Handtasche gesteckt, um ihn an die Enten am Teich zu verfüttern.
„Wie war dein Tag gestern, mein Engel?“, fragte Fernande, während sie sich bei ihrer Enkelin am Arm einhakte. „Warst du auf dem Flohmarkt?“
„Ja, Mamie. Und ich konnte sogar einiges verkaufen. Selbst diesen fürchterlichen ausgestopften Raben, vor dem ich mich als Kind immer so gefürchtet habe. Weißt du noch?“
„Oh ja“, entgegnete ihr ihre Großmutter und blieb einen Moment stehen. Ihre Augen blickten starr in die Ferne, so als könne sie dort die Bilder aus der Vergangenheit erkennen und ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann blickte sie liebevoll zu ihrer Enkelin auf und flüsterte: „Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Wenn dein Großvater nicht zuhause war, habe ich ihn immer abgehangen und auf den Dielenschrank gelegt. Ich hatte selbst Angst vor diesem furchterregenden Tier. Ich hab immer geglaubt, irgendwann würde es zum Leben erwachen.“
Sie lachten gemeinsam über dieses kleine Geständnis und gingen langsam weiter. Laeticia war glücklich, ihre Großmutter nach langer Zeit wieder einmal so sorglos und fröhlich zu sehen. Es war wie früher, als sie noch ein Kind war. Sie verbrachte viel Zeit bei ihren Großeltern und lauschte voll Spannung den Geschichten, die sie von alten Zeiten erzählten. Doch irgendwann mit zunehmendem Alter wiederholten sich diese Geschichten und es wurden immer weniger und in den letzten Monaten waren die Geschichten entweder ganz vergessen oder kamen nur noch in zusammenhanglosen Fetzen. Doch heute fühlte sich Laeticia an glückliche Zeiten erinnert.
„Was hast du noch verkauft, mein Kind? Erzähl!“
„Ich weiß schon selber nicht mehr, was es alles war. Dieses Bild mit dem röhrenden Hirsch und das Stillleben mit dem Obstkorb. Die alte Waschschüssel mit Krug. Das Silberbesteck und Teile des Porzellans. Ein paar Puppen und Bücher. Die komische Uhr und noch allerlei Kleinkram, Zinnbecher und so ein Zeug.“ Laeticia ertappte sich selbst dabei, wie abfällig sie plötzlich über die Dinge sprach, die ja schließlich ein Teil des Lebens ihrer Großmutter waren und hielt inne. Vielleicht war es doch nicht so klug, alles zu erzählen. Schließlich verschleuderte sie den Besitz der alten Frau und wahrscheinlich größtenteils weit unter Wert.
„Was für eine komische Uhr?“, fragte da plötzlich Fernande.
„Na diese riesige Armbanduhr. Ich hatte sie in einer der verstaubten Kisten auf dem Speicher gefunden. Sie hatte sich wohl unter dem Rock einer der Puppen verhakt.“
„Wie sah sie aus?“, hakte Laeticias Großmutter nach. Ihr Lächeln war aus dem Gesicht verschwunden und ihr Blick starrte wieder in die Vergangenheit. Doch diesmal nicht mit dem neugierig, verschmitzten Glitzern in den Augen. Fast konnte man meinen, ihr Blick drückte Verängstigung aus.
„Na wie so eine überdimensionierte Armbanduhr. Mit so einem komischen Spiegel vorne drauf. Fast futuristisch. Ehrlich gesagt fand ich sie fürchterlich hässlich. Aber auch sie hat einen Käufer gefunden. Erinnerst du dich an sie?“
Laeticia lächelte aufmunternd, da ihr der so schnell verfinsterte Blick Fernandes nicht entgangen war.
„Ja, ich glaube.“, antwortete die alte Frau leise und Laeticia spürte, wie das Gewicht an ihrem Arm immer schwerer wurde. Ihrer Großmutter versagten plötzlich die Beine und hätte Laeticia sie nicht komplett gehalten, wäre sie auf dem Weg zusammengebrochen. Eine Passantin hatte den Schwächeanfall bemerkt und eilte herbei, um Laeticia zu helfen, die alte Frau zu einer nahestehenden Bank zu bringen. Dort legten sie Fernande vorsichtig hin und Laeticia hielt ihre Beine hoch. Die zu Hilfe gekommene Frau bot an, einen Arzt zu holen, doch Fernande winkte ab und versicherte, dass es ihr wieder besser ging, sie müsse nur einen Moment ausruhen.
Beunruhigt hielt Laeticia ihrer Großmutter die Hand und fragte: „Was ist denn los, Mamie? Was ist passiert? Sollen wir nicht doch besser einen Arzt rufen? Oder sollen wir wieder hineingehen?“
„Nein, nein. Es geht schon. Gib mir nur eine Minute, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin.“
Ganz langsam kehrte wieder etwas Leben zurück ins Gesicht der alten Frau, aber so glücklich und entspannt, wie sie vor wenigen Momenten noch gewesen war, war sie jetzt nicht mehr. Ihre Hautfarbe hatte wieder die Blässe der letzten Wochen angenommen und ihre Falten schienen plötzlich tiefer und zahlreicher als zuvor. Fernande setzte sich entgegen der Bitte ihrer Enkelin mühsam auf und kramte umständlich eine Wasserflasche aus ihrer Handtasche. Sie trank einen Schluck, wobei sie die Hälfte verschüttete. Dann suchte die alte Frau ein Pfefferminzbonbon und steckte es sich in den Mund. Langsam erholte sie sich ein wenig.
„Ich muss dir etwas erzählen, mein Engel.“ Fernandes Stimme klang brüchig und ängstlich. „Aber sage mir vorher, gibt es irgendeine Möglichkeit, die Uhr zurück zu bekommen? Du hättest sie nie verkaufen dürfen!“
Obwohl dies kein direkter Vorwurf war, fühlte sich Laeticia betroffen und schuldig. Was hatte sie getan? War diese Uhr etwa besonders wertvoll? Hatte sie einen Familienschatz verschleudert?
„Ich wüsste ehrlich gesagt nicht wie. Ich weiß ja nicht, wer der Käufer war. Und ihn zufällig wieder zu treffen in einer Millionenstadt ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber nun sag schon, was hat es mit dieser Uhr auf sich? Ich wusste ja nicht, dass ich die Uhr hätte behalten müssen. Wenn du mir nur davon…“
„Schon gut, meine Kleine!“, unterbrach sie ihre Großmutter, „Du kannst nichts dafür. Ich dachte nur, dass diese Uhr schon lange zerstört oder gestohlen sei.“
Fernandes Stimme hatte sich etwas beruhigt und klang jetzt wieder annähernd normal. Ein leichtes Zittern schwang hier und da noch mit, aber Laeticia konnte wieder den gütigen und beruhigenden Klang vernehmen, der ihr schon als Kind jede Angst genommen hatte.
„Wie du dich vielleicht noch aus Erzählungen erinnerst, war dein Ururgroßvater, mein Großvater, ein Uhrmacher und Erfinder. Er war ein großartiger Mensch und ich habe ihn über alles geliebt. Als er starb, war dies für mich einer der schlimmsten Tage meines Lebens.“ Der alten Frau lief eine Träne über die Wange und Laeticia legte ihr den Arm um die schmalen Schultern.
„Doch ich wusste damals noch nicht, dass er keines natürlichen Todes gestorben war. Er wurde zu Tode geprügelt von Menschen, die ihm seinen Erfolg streitig machen wollten. Ich war damals noch ein kleines Mädchen und verstand nicht, was tatsächlich passiert war. Viel später, ich war schon erwachsen, hatte meine Mutter mir erzählt, was wirklich vorgefallen war. Und sie übergab mir eine Nachricht meines Großvaters, die er in den letzten Minuten seines Lebens an mich verfasst hatte. Nichts ergab einen Sinn. Aber aus Angst vor genau diesen Männern, die meinen Großvater ermordet hatten, zogen wir zurück in die Schweiz und änderten sogar unseren Namen. Zu seinem Gedenken in Horloger – Uhrmacher! Unser eigentlicher Familienname ist Chevalier. Erst lange nachdem ich deine Mutter zur Welt gebracht hatte, kehrte ich in unser altes Haus in der Rue de l‘Auvergne zurück. Es war noch in dem gleichen Zustand, wie zu dem Zeitpunkt, als wir es Hals über Kopf verlassen hatten. Kurz vor seinem Tod hatte mein Großvater an einer Erfindung gearbeitet, von der er sagte, sie würde die Welt verändern. Ich schaute ihm oft bei seinen Tüfteleien zu und genau diese neueste sensationelle Erfindung glich einer monströsen Armbanduhr mit einem Spiegel im Zentrum. Und hinter genau dieser Uhr waren seine Mörder offensichtlich her. Und da sie nach seinem Tod nicht mehr zu finden war, glaubte ich, hätte er sie rechtzeitig vernichtet oder die Mörder hätten sie bei ihm gefunden. Nun, offensichtlich hatte sie dein Ururgroßvater versteckt und nun ist sie wieder aufgetaucht. Und gleich wieder verschwunden.“
„Oh, wenn ich das doch nur geahnt hätte!“, rief Laeticia verzweifelt. „Was war denn nun diese revolutionäre Erfindung? Gab es sie wirklich? Oder ist er nie so weit gekommen?“
„Nun, er hatte mir nicht wirklich erzählt, was es damit auf sich hatte. Er sagte mir nur, man könne auf der Uhr nicht nur die Zeit sondern auch die Vergangenheit ablesen. Verstanden habe ich das nicht. Fertiggestellt habe ich die Uhr nie gesehen. Ich weiß also auch nicht wirklich, ob er sein Werk vollenden konnte.“
Plötzlich sprang Fernande voller Elan auf, stützte sich auf ihren Gehstock und marschierte los Richtung Wohntrakt. „Komm mit, meine Kleine, ich will dir etwas zeigen.“
Völlig überrascht von der unvermittelt energischen Aktion und noch gedanklich in der soeben gehörten Geschichte vertieft, brauchte Laeticia einen Moment um zu reagieren und eilte dann ihrer Großmutter hinterher, die schnellen, wenn auch wackligen Schrittes losstürmte. Motiviert durch ihre eigene Erzählung hatte sich die alte Frau so weit erholt, dass sie nun ohne fremde Stütze und für ihre Verhältnisse zügig durch den Hintereingang direkt auf den Fahrstuhl zusteuerte. Laeticia blieb eng bei ihr, um im Notfall schnell zupacken zu können, im Moment jedoch sah es nicht nach einem weiteren Schwächeanfall ihrer Großmutter aus.
In ihrem Zimmer angekommen griff Fernande gezielt nach der alten Bibel, die zwischen all den Bildbänden und theologischen Büchern stand und schlug sie auf der letzten Seite vorsichtig auf. Zum Vorschein kam ein kleiner vergilbter Fetzen Papier, ähnlich eines vertrockneten Schmetterlingsflügels, und aussah, als würde er bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen. Darauf nur noch schwerlich zu erkennen war eine verblasste, krakelige Schrift mit ungleich dick geschriebenen Buchstaben.
„Dies sind die letzten Worte deines Ururgroßvaters, mein Kind“, flüsterte Fernande, „und seine Botschaft an mich.“
Laeticia, beeindruckt von diesem kleinen Schriftstück, las stockend dessen Inhalt vor:
Meine kleine Fernande! Es ist der 24. Mai 1935, 10 Uhr 35. Denk an unser Geheimnis und du wirst mich sehen können, ich erkläre es dir dann persönlich!
Was wollte der alte Mann erklären? Und wie wollte er das anstellen? Persönlich! Was sollte seine Enkelin sehen können? Oder war er nur nicht mit seiner Nachricht fertig geworden? Die scheinbar versprochene Erklärung hatte der alte Mann jedenfalls mit ins Grab genommen.
Laeticia schaute mit feuchten Augen ihre Großmutter an. Auch Fernande liefen die Tränen über die faltigen Wangen.
„Ist das nicht traurig?“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Ihm war es nicht einmal mehr möglich, seine Nachricht an mich zu beenden. Armer Großpapa, er war ein so lieber und herzensguter Mensch. Nie hätte er jemandem etwas Böses getan. Wie konnte man ihm das antun?“
„Ja“, presste Laeticia hervor. Sie hatte einen Kloß im Hals. „Ein trauriges Ende. Aber was glaubst du, wollte er dir mitteilen? Und warum ausgerechnet dir? Du warst doch noch ein kleines Mädchen. Hätte er darauf verzichtet, den Zeitpunkt so genau zu benennen, wäre vielleicht Zeit gewesen, dir mehr zu schreiben. Oder weißt du, was er damit meinte, dass du ihn sehen könntest? Wie schlimm das Ganze doch ist!“
„Ich habe nie verstanden, was er mir mitteilen wollte. Es bezog sich wohl auf diese Erfindung, an der er arbeitete und von der er mir erzählte. Er sagte immer, er werde durch die Uhr schauen können. Aber dadurch, dass ich diese Nachricht fast zwanzig Jahre später erst bekam und die Uhr nie vollendet gesehen hatte, erinnerte ich mich natürlich auch nicht mehr im Detail an diese Zeit. Als Mädchen war es spannend, meinem Großvater zuzusehen, später verblassten die Erinnerungen im Alltag. Wenn wir die Uhr noch hätten, wüssten wir vielleicht mehr. Sie hätte ich gern als Erinnerung an meine Kindheit und diesen Mann behalten. Hätte ich doch nur geahnt, dass sie noch existiert. Und das auch noch direkt in meiner Nähe.“
„Es tut mir so leid! Ich verspreche dir, Mamie, dass ich die Uhr wiederbekomme. Bei meiner Seele, ich hole sie dir zurück!“
Laeticia umarmte ihre Großmutter und beide Frauen weinten und drückten sich und Laeticia wusste, dass sie alles versuchen und nicht ruhen würde, um ihr Versprechen einzulösen. Jetzt musste sie erst einmal diesen Amerikaner finden. Bei weit über zwei Millionen Parisern und täglich noch einmal so vielen Besuchern kein leichtes Unterfangen. Glich es doch der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aber auch diese wurde manchmal gefunden!