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Samstag, 12. Mai, morgens

„Was kostet die Kaffeemühle?“ Der Mann mit dem dicken Norwegerpullover zeigte auf eines der vielen antiken Stücke auf dem ramponierten Tapeziertisch. Ganz klar ein Weiterverkäufer, dachte die junge Frau hinter dem Verkaufstisch. Er würde mit seinem Gegengebot hundertprozentig weit unter dem tatsächlichen Wert bleiben.

„Zwanzig Euro, Monsieur!“ Das war schon ein verdammt guter Preis.

„Für fünf nehm’ ich sie mit!“

„Pardon, Monsieur – ich wollte sie nicht verschenken! Sagen wir fünfzehn.“

Ohne eine Antwort ging der Mann scheinbar desinteressiert weiter. Diese Masche funktionierte bestimmt bei Vielen. Bevor man ein Teil gar nicht verkauft, gibt man es dann eben doch zu einem Spottpreis her. Aber Laeticia Bernard fiel darauf nicht herein. Nicht, dass sie nicht froh gewesen wäre, den ganzen Plunder los zu werden, zumal sie ja auch alles wieder einpacken, in den Kisten verstauen und zum Auto zurück tragen musste. Aber es gab eben doch ein paar Prinzipien, die sie einzuhalten versuchte, auch wenn sie meist nur durch ihr Unterbewusstsein gesteuert wurden. Aber dies war so ein Fall. Der arrogante Blick, das ignorante Verhalten, das Gefühl, dass dieser Mann das Stück wahrscheinlich nur hundert Meter weiter zum Vielfachen wiederverkaufen würde, waren für Laeticia Grund genug, nicht weiter auf ihn einzugehen.

Außerdem war es noch früh an diesem Samstagmorgen, es würden noch genügend Interessenten vorbeikommen, da brauchte man sich nicht gleich dem ersten schon ergeben. Andererseits war es für Mai an diesem Tag eher unfreundlich, Wolken hingen tief am Himmel, die Sonne hatte sich noch nicht sehen lassen. Und es war noch relativ kühl. Aber Laeticia hoffte, mit der Sonne würden später an diesem Vormittag auch noch weitere Flohmarktbesucher erscheinen.

Ein kurzes Zögern des Mannes im Pullover bestätigte ihre Vermutung, dass er ihr noch eine Chance geben wollte, ihn doch noch aufzuhalten, um ihm das Objekt seines Begehrs zu seinem völlig unrealistischen Angebot zu überlassen. Aber sie hatte eben auch ihren Stolz. Schließlich waren es doch alles mehr oder weniger Familienerbstücke. Zugegebenermaßen kein einziges, was ihrem Geschmack auch nur im Entferntesten entsprach. Nicht ein Exemplar ihrer angepriesenen Ware würde sie jemals bei sich zuhause hinstellen, auch wenn es von ihrer geliebten Großmutter stammte. Aber es war dennoch kein wertloser Tand.

Nachdem vor einigen Wochen die Großmutter ins Pflegeheim gezogen war, hatte Laeticia sich bereiterklärt, sich um den Hausrat zu kümmern. Ihre Tante hatte schon genug mit dem Haus selbst zu tun. Die Reparaturen, der Garten, alles musste auf Vordermann gebracht werden, wenn man einen einigermaßen guten Preis erzielen wollte. Die Lage war zwar ideal, fast mitten in Paris und dennoch relativ ruhig gelegen, aber das Haus war über 100 Jahre alt, zu klein für heutige Ansprüche mit niedrigen Decken, und die Gegend inzwischen leider ziemlich heruntergekommen. Damals hatte das Viertel sicher zu einem der besseren hier gehört, aber heute bestand ein Großteil des Umfeldes aus Hochhäusern in desolatem Zustand. Auch die direkten Nachbarhäuser von Laeticias Großmutter waren größtenteils unbewohnt und schienen ausgeplündert. Graffitis prägten das Stadtbild in diesem Viertel und nicht selten brannte nachts mal wieder irgendein Fahrzeug auf den Straßen ringsherum. Zum Zeitvertreib der Jugendlichen, die hier ohne Zukunftsvisionen und Aussichten auf ehrliche Arbeit aufwuchsen. Dennoch stand die alte Dame seltsamerweise genau bei diesen Straßengangs irgendwie unter besonderem Schutz. Ihr Haus war weder je beschmiert worden, noch war es in irgendeiner Weise beschädigt.

Keiner der wenigen verbliebenen Familienmitglieder Laeticias wollte jedoch dort einziehen, also einigte man sich, das Haus herzurichten und das Beste aus einem Verkauf herauszuholen, falls es überhaupt verkäuflich war. Vielleicht würde es ein Käufer auch abreißen und ein Garagenhaus an dessen Stelle bauen. Eine Investition, die hier vielleicht sogar Gewinn versprechend sein könnte, wo doch kein Anwohner sein Fahrzeug länger als notwendig auf der Straße parkte. Schon als die Großmutter hier noch lebte, wollte keiner ihrer Besucher lange bleiben, wenn er sein Auto nicht auf ihrem Grundstück abstellen konnte.

Laeticia war die einzige, die sich wirklich um die alte Frau kümmerte. Früher hatte das ihre Mutter getan, aber sie war vor einigen Jahren Laeticias Vater ins Grab gefolgt. Jetzt war nur noch die andere Tochter da, zu der die Alte nie ein besonderes Verhältnis gehabt hatte, und eben ihre geliebte Enkelin. Diese besorgte ihre Einkäufe, besuchte sie regelmäßig und las ihr aus den alten Büchern vor, die heute ebenfalls auf dem Flohmarkt zum Verkauf standen. Gerne hätte Laeticia das ein oder andere als Andenken behalten, aber sie hatte in ihrer kleinen Stadtwohnung keinerlei Platz für all diese Dinge. Mit dem Einverständnis ihrer Großmutter behielt sie den Schmuck für sich, auch wenn sie ihn nie tragen würde. Aber er nahm keinen Platz weg und wäre auch zu wertvoll, ihn einfach zu verkaufen.

Aber diese ganzen Dinge, die jetzt hier auf dem Tisch lagen, Küchenutensilien, Dekoration, Geschirr und allerlei Krimskrams sollte sie verkaufen und sich von dem Erlös einen Wunsch erfüllen. Darauf hatte die Alte bestanden. In einem ihrer wenigen lichten Momente hatte sie all das gemeinsam mit ihnen besprochen, ihrer Tochter und Laeticia, mehr Familienmitglieder direkter Linie gab es nicht.

Und nun war Großmutter Fernande ins Altenheim gegangen. Alleine schaffte sie es nicht mehr. Körperlich schon seit längerem nicht, aber da konnte ihre Enkelin noch helfen, außerdem kam morgens und abends jeweils eine Pflegerin vorbei. Nun war aber auch der Geist vom Alter angegriffen und der Verfall machte seit einigen Monaten rapide Fortschritte. Vorbei waren die Abende, an denen die alte Fernande ihrer wissbegierigen Enkelin von den alten Zeiten erzählte, von ihrer eigenen Jugend, dem Krieg, der Zeit des Wiederaufbaus danach und der Kindheit von Laeticias Mutter. All diese Erinnerungen lösten sich allmählich in Luft auf. Nur selten gab es Momente, an denen die Alte alle Sinne beisammen hatte und man mit ihr über ernsthafte Angelegenheiten sprechen konnte.

„Achtzig Euro!“, beantwortete Laeticia die Frage eines jungen Pärchens nach dem Preis für ein Ölgemälde. Eines dieser langweiligen Landschaftsbilder mit einem röhrenden Hirsch.

„So viel wollten wir nicht ausgeben, aber es ist wirklich wunderschön! Könnten wir es nicht für vierzig haben?“

„Sagen wir sechzig, dann treffen wir uns in der Mitte!“

Die beiden jungen Leute schauten sich verzweifelt an. Man sah ihnen an, dass sie sich mit einer Entscheidung schwer taten.

„Fünfzig?“

„Na gut!“ Laeticia ließ sich erweichen, die beiden waren ihr sympathisch. Außerdem war es wieder ein sperriges Teil weniger für den Rückweg und fünfzig Euro auf der Habenseite waren ja auch in Ordnung. Wer auf dem Flohmarkt verkauft, sollte ohnehin den Verkaufspreis nicht in Relation zum Wert setzen, redete sie sich ein. Das machte vielleicht der professionelle Händler, aber nicht so ein Gelegenheitsverkäufer wie sie.

Dies war jetzt schon der zweite Flohmarkttermin, den sie wahrnahm. Maximal viermal wollte sie es versuchen. Der berühmte Marché aux Puces in Paris war ihr für solche antiken Dinge empfohlen worden. Und in der Tat hatte sie schon einiges losbekommen. Das Problem war, dass nicht viel in ihren kleinen Renault passte. Sie hatte sich für das zweite Mal schon einen großen Kombi von ihrem Nachbarn ausgeliehen, aber einiges war so sperrig, dass sie nicht umhin kam, mehrere Male hierher zu kommen. Aber Alles in Allem lohnte es sich schon. Abzüglich der nicht gerade geringen Standgebühr hatte sie schon mehrere hundert Euro eingenommen. Was sie sich mit dem Erlös leisten wollte, wusste sie noch nicht. Vielleicht ein schönes Wochenende im Süden? In sauberer Luft. Sie liebte das Meer. Aber auch die Berge hatten ihren Reiz. Sie war immer noch Schweizerin, obwohl sie hier in Frankreich geboren und aufgewachsen war. Eigentlich verband sie nichts mit der ursprünglichen Heimat ihrer Familie, deren letzte Generationen immer wieder zwischen Frankreich und der Schweiz hin und her getingelt waren. Das meiste kannte sie nur aus den Erzählungen der Großmutter, die selbst schon in Frankreich aufgewachsen war, und von den wenigen Besuchen bei entfernten Verwandten in den schweizerischen Bergen. Aber ihre Nationalität erleichterte ihr die Ausübung und das eventuelle Weiterkommen in ihrem Job. Sie hatte Sprachen an der Sorbonne in Paris studiert und arbeitete als Botschaftssekretärin in der schweizerischen Botschaft in der Rue de Grenelle. Sie sprach herkunftsbedingt französisch, deutsch und italienisch und hatte zusätzlich englisch und russisch gelernt. Einerseits war ihre Arbeit in der Botschaft abwechslungsreich und spannend, andererseits war sie auch froh, wenn sie nach Feierabend oder an freien Tagen ihre Ruhe hatte. Dann zog sie sich in ihr kleines Reich zurück, schmuste mit ihrem Kater, las ein spannendes Buch und probierte die neuesten Kochrezepte aus. Gelegentlich traf sie sich mit ihrer Freundin Sandrine zum Bummeln, wobei sie letztendlich meistens in irgendeinem Café strandeten, reichlich Milchkaffee tranken und über die Passanten herzogen.

Eigentlich wollte Sandrine doch vorbeikommen, dachte sie. Allzu viel ist heute sowieso nicht los bei diesem grauen Wetter, dann könnten wir wenigstens ein bisschen quatschen.

So in Gedanken vertieft, bemerkte sie gar nicht den großgewachsenen Mann, der bereits seit einiger Zeit vor ihrem Stand verweilte und eines der Fundstücke von Oma Fernandes Speicher in der Hand hielt.

Hatte da nicht gerade etwas geblitzt?

Ungläubig ging er den halben Schritt zurück, um den möglichen Winkel von gerade wieder herzustellen. Aber nichts passierte, kein Funken, kein Blitzen. Offensichtlich doch nur eine Lichtspiegelung. Und das bei absolut sonnenfreiem Wetter. Dennoch hatte etwas seine Neugier geweckt.

Eigentlich schaute er nicht wirklich nach etwas Bestimmtem, zugegebenermaßen nach gar nichts. Er wollte nur mal an die frische Luft, sich die Füße vertreten, auf andere Gedanken kommen. Und da er schon seit je her Flohmärkte mochte, hatten ihn seine Schritte ganz gedankenverloren hierher geführt. Die ganze Nacht hatte er schlaflos in seinem Hotelbett verbracht, damit beschäftigt die Ereignisse des vergangenen Tages gedanklich zu sortieren und weitere Schritte zu überlegen.

Seit zwei Tagen war Brian bereits in Paris auf der Suche nach seinem Vater. Gequält von einem unguten Magengefühl und einem schlechten Gewissen war er hierher gereist, in der Hoffnung, den erst kürzlich so überraschend wieder hergestellten Kontakt wieder zu finden. Und dann hatte er ihn sofort wieder verlorenen. War etwas passiert, oder war es nur die Rache eines verbitterten Mannes? Über zehn Jahre lang hatten Vater und Sohn nicht miteinander gesprochen, keiner hatte Verständnis für die Reaktion des anderen gezeigt. Und keiner konnte über seinen Schatten springen, den ersten Schritt der Versöhnung zu machen.

Und dann kam plötzlich dieser Anruf. Sein Vater hatte ihn völlig unerwartet und ohne Vorgeplänkel um Verzeihung gebeten und ihn schnellstmöglich wiedersehen wollen. Man solle sich doch zusammensetzen und über alles reden. Er sei für ein paar Tage in Paris und da wäre es doch schön, wenn man die Chance nützte. Sie hatten sich im Restaurant Robespierre am Montmartre verabredet. Für Brian keine weite Anreise aus seiner zweiten Heimat Deutschland. Und Zeit hatte er auch, viel zu viel sogar. Er hatte keine Sekunde gezögert zuzusagen, aber mehr aus Verwunderung über die plötzliche Sinneswandlung, als aus Überzeugung. Wollte sein alter Herr sich tatsächlich mit ihm versöhnen nach all den Jahren? Sie hatten sich früher immer großartig verstanden und der Bruch zwischen ihnen war genau betrachtet lächerlich und nichts, worüber man nicht hätte sprechen können. Aber nachdem einmal der Zeitpunkt für eine Aussprache vorbei war, verbarrikadierten sich beide hinter dem eigenen Stolz.

Aber nun hatte Brian sich auf den Weg gemacht, war mit dem Zug von Berlin nach Paris gefahren und pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt zu dem Restaurant gekommen. Sein Vater war allerdings nicht erschienen. Brian hatte über zwei Stunden gewartet und sich geärgert, nicht vorher wenigstens die Handynummern ausgetauscht zu haben. Aber je länger er dort gesessen hatte, desto zorniger war er geworden, denn er hatte mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass ihn sein Vater aus reiner Bosheit herkommen ließ, um ihn dann zu versetzen. Irgendwann hatte er die Nase voll und war zurück zum Hotel gegangen, wobei er sich noch eine Flasche Whisky mit aufs Zimmer genommen hatte. Und mit jedem Glas war er ruhiger geworden und hatte überlegt, ob nicht doch ein anderer Grund seinen Vater am Kommen gehindert haben konnte. Und je mehr er gegrübelt hatte, desto auswegloser war ihm die Situation erschienen, da er nicht wusste, wo sein Vater zu finden war, und umgekehrt der alte Herr ihn nicht erreichen konnte. Er hatte seinen Anrufbeantworter zuhause angerufen, in der Hoffnung, dass ihn dort vielleicht eine Antwort erwartete, aber bis auf einen Anrufer, der nur ein Gurgeln auf dem Band hinterlassen hatte, war keine Nachricht dagewesen.

Obwohl durch genügend Alkohol in die Welt der Träume geschickt, hatte Brian in dieser Nacht wie gewohnt unruhig geschlafen. Am nächsten Morgen hatte er sich dann nach einem ausgiebigen Frühstück überlegt, welche realistischen Möglichkeiten es vor Ort gab seinen Vater zu finden, oder ob es nicht besser sei, gleich wieder die Heimreise anzutreten. Er war dann zu dem Schluss gekommen, zu dem Restaurant zurückzukehren, um zu fragen, ob sein Vater vielleicht am Vorabend doch noch aufgetaucht war. Dies war jedoch nicht der Fall gewesen, woraufhin Brian sich entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen.

Brian griff nach der seltsamen Uhr, die ihm unter all den Antiquitäten ins Auge gefallen war. Sie sah ungewöhnlich aus, eigentlich gar nicht wie eine Uhr. Trotz des altmodischen Gehäuses, das auf ein älteres Exemplar hindeutete, war die Größe und Machart eher modern. Und dann dieser deplaziert wirkende Spiegel in der Mitte. Er sah aus wie ein alter Bildschirm in Miniaturgröße und schien gar nichts mit der Uhr zu tun zu haben. Dennoch machte ihn diese Apparatur neugierig. Und sei es aus rein beruflichem Interesse. Schließlich war er gelernter Uhrmacher, auch wenn seine berufliche Praxis ein Jahrzehnt zurücklag und er sich seitdem nur noch als reiner Sammler und Nutzer von Zeitmessern aller Art damit beschäftigte. Aber gerade diese Sammelleidenschaft ließ ihn jetzt diese Uhr näher betrachten. Es gibt verschiedene Gründe warum Menschen Dinge sammeln, aus Passion, aus Langeweile, aus Zufall. Manche wollen die teuersten Exemplare besitzen, manche die schönsten und manche eben die seltensten. Und solch ein Sammler war Brian. Es mussten nicht unbedingt wertvolle oder besonders attraktive Uhren sein. Sie mussten einfach nur anders als das Gewöhnliche sein. Er verliebte sich immer dann in ein Stück, wenn er etwas vergleichbares vorher noch nicht gesehen hatte. Und so ging es ihm in diesem Moment.

Er untersuchte das Stück nach Herkunft, Hersteller, Funktionsfähigkeit und Beschädigungen. Aber dieses Exemplar erschien ihm sehr ungewöhnlich. Weder eine Manufaktur noch sonst ein Hinweis war zu erkennen, lediglich die Initialen JPC, die anstelle der Ziffer Zwölf eingesetzt waren. Dann war da noch eine Gravur in kyrillischen Buchstaben auf dem Rand zu entdecken, die so gar nicht zu der restlichen Uhr passte. Zudem fehlte eine zweite Krone, mit der offensichtlich das Datum eingestellt werden konnte. Dies stand auf dem 24. Mai 1935. Ansonsten war die Uhr bis auf ein wenig Staub in tadellosem Zustand. Durch leichtes Schütteln setzte er die Automatik in Gang und die Zeiger setzten sich augenblicklich in Bewegung. Aufziehen ließ sich die Uhr auch problemlos. Es sah fast so aus, als handelte es sich hier um ein Einzelstück, was noch nie genutzt worden war. Genau das, wonach er immer wieder suchte. Das fehlende Ersatzteil zu finden war zwar wahrscheinlich komplett aussichtslos, aber es zu ersetzen und damit die Uhr wieder zu reparieren schien sehr realistisch. Abgesehen davon würde er sie nicht tragen wollen. Aber eine funktionsfähige Uhr hatte natürlich einen vielfachen Wert. Das musste er der Verkäuferin ja nicht unbedingt erklären.

Erst jetzt nahm er die junge Frau wahr. Sie wirkte etwas deplaziert hinter der Ansammlung alter Gerätschaften in ihrem konservativen und dennoch modernen Outfit. Trotz dezenter Kleidung und Make-up konnte sie ihre Attraktivität nicht verstecken. Gleichmäßige Gesichtszüge mit vollen Lippen, leichte Bräune und leuchtend grüne Augen standen in perfektem Einklang mit sehr langem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem, braunem Haar. Aber sie sah nicht aus wie jemand, der diese Sachen mit großem Sachverstand anbot. Dafür waren sie zu lieblos auf dem Tisch angeordnet. Sie schien die typische Verkäuferin alten Hausrats zu sein, der irgendwo auf dem Speicher entdeckt worden war. Sie würde froh sein für jedes Teil, was sie los bekam, ungeachtet dessen wahren Werts. Aber handeln würde er sowieso nicht unbedingt, viel zu groß war seine Neugier, ob er diese Uhr restaurieren konnte und was er über deren Herkunft erfahren würde.

„Combien?“, versuchte Brian sich nach dem Preis zu erkundigen. Sein Französisch war nicht gerade gut, aber ein paar Brocken konnte er noch.

Die hübsche Verkäuferin zuckte mit den Achseln und lächelte, ein Lächeln, für das es sich alleine schon gelohnt hatte heute aufzustehen. Sie sprach einige Worte auf Französisch, er glaubte irgendetwas mit Fünfzig verstanden zu haben, aber sein etwas ratloser Blick ließ sie schnell erkennen, dass er sie nicht verstanden hatte.

„Sind sie Amerikaner?“, fragte sie in akzentfreiem Oxford-Englisch.

Offensichtlich konnte man ihm das ansehen. Wie unangenehm, schon rein optisch sofort als Amerikaner erkannt zu werden, dachte er. Oder war es sein mit Sicherheit fürchterlicher Akzent, der ihn schon bei einem Wort verriet? Obwohl der wahrscheinlich eher eine Mischung aus amerikanisch und deutsch war.

„Ja, größtenteils!“, gab er automatisch zurück, wobei er sich gleichzeitig gewissermaßen über seine Offenbarung ärgerte, symbolisierte er durch sein Geständnis nicht automatisch den dollarschweren Touristen, den man so gerne bei solchen Möglichkeiten übers Ohr haute?

Aber das sympathische Lächeln dieser äußerst attraktiven jungen Dame ließ seine negativen Gedanken im Nu verschwinden. Von ihr würde er nichts zu befürchten haben, ihre Augen blickten ihn einfach zu ehrlich an.

„Sie sprechen ein perfektes Englisch.“, sprach er weiter und lächelte ebenfalls, obwohl das heute gar nicht seiner Stimmung entsprach.

„Danke!“, sagte sie knapp. „Ich weiß nicht recht, was ich dafür verlangen soll.“ Sie zeigte auf die Uhr in seiner Hand. „Was würden sie mir denn dafür geben? Die ist bestimmt 100 Jahre alt.“

„Na wirklich elegant ist sie ja nicht gerade, außerdem fehlen Teile.“

„Was würden sie von fünfzig Euro halten?“

Spätestens jetzt wusste Brian, dass die Händlerin weder professionell war, noch überhaupt die Spur einer Ahnung hatte von dem, was sie dort anbot. Er war sich sicher, er hätte den Preis noch um einiges herunterhandeln können, auf der anderen Seite wollte er wiederum die Frau nicht übervorteilen. Aber handeln gehörte auf solch einem Markt doch auch irgendwie dazu.

„Ich gebe ihnen vierzig – ok?“

„Einverstanden!“ Die Verkäuferin war offensichtlich froh, wieder ein Teil verkauft zu haben und somit wieder etwas weniger mit nachhause nehmen zu müssen. So waren beide Seiten zufrieden, wenn auch Brian mit Sicherheit das bessere Geschäft gemacht hatte. So hatte dieser Tag doch wenigstens noch etwas Gutes hervorgebracht.

„Sind sie öfter hier?“, fragte Brian während er bezahlte. Er wunderte sich in diesem Moment selbst über seine Frage, ahnte er doch eigentlich, dass dies nicht der Fall war und außerdem konnte es ihm egal sein. Er würde doch in wenigen Tagen sowieso nicht mehr hier sein. Wahrscheinlich war es nur dieses gewinnende Lächeln der jungen Frau, das ihn dazu brachte weitere Höflichkeiten auszutauschen. Oder hatte er am Ende doch ein schlechtes Gewissen, dass er ein echtes Schmuckstück für einen Spottpreis erworben hatte?

„Nein. Nächstes Wochenende wahrscheinlich noch einmal. Dann habe ich hoffentlich das meiste weg. Brauchen sie nicht noch Silberbesteck? Alles vollzählig. Ich habe auch noch eine Kaminuhr, die habe ich nur heute nicht dabei, bringe ich dann aber nächsten Samstag mit.“

Jetzt zeigte die Verkäuferin wieder ihr strahlendes Lächeln und sah ihn mit einem Blick an, der ihn davon hätte überzeugen können, den ganzen Stand zu kaufen. Aber was sollte er mit dem ganzen Trödel? Wäre er nicht zufällig auf die Uhr aufmerksam geworden, hätte er den Stand sicher ohne zu zögern passiert. Jetzt hatte er ein Stück für seine Sammlung erstanden und ein bezauberndes Lächeln erblicken dürfen, seine Stimmung war sichtlich besser als noch vor einer halben Stunde, der Tag hatte doch noch gut begonnen.

„Danke nein, aber ich wünsche ihnen weiterhin noch viel Erfolg.“ Brian reichte der hübschen jungen Dame die Hand, die sie mit einem festen und dennoch zarten und warmen Händedruck ergriff.

„Es war mir ein Vergnügen!“ fügte er noch hinzu, lächelte sie an und ging langsam weiter. Er glaubte, ihren Blick in seinem Rücken zu spüren, als er sich jedoch noch einmal umdrehte, war sie schon mit einem weiteren Kunden beschäftigt. Unter anderen Umständen hätte er sie vielleicht gefragt, ob er sie auf einen Kaffee einladen dürfe. Aber erstens hatte er heute noch Wichtiges zu erledigen, zweitens war sie schließlich um einiges jünger als er. Vor Jahren wäre er vielleicht mit dieser Masche erfolgreich gewesen, aber er musste der Realität ins Auge sehen. Er konnte nun mal mit den jüngeren Verehrern nicht mehr Schritt halten. Und eigentlich wollte er das ja auch gar nicht.

Brian hatte die Vierzig inzwischen überschritten und seine einst athletische Statur war mit dem Alter, der Bequemlichkeit und seiner Liebe zu diversen Gaumenfreuden etwas aus der Form geraten. Aber er war dennoch nach wie vor eine stattliche Erscheinung mit seinen fast zwei Metern Körpergröße und den breiten Schultern, die ihn schon als Jugendlicher für den Angriff eines jeden Footballteams attraktiv gemacht hatte. Das jahrelange Training hatte dann seinen Körper weiter gestählt und selbst seine Arbeit am Schreibtisch oder in der Uhrmacherwerkstatt hatte ihn nicht schwächen können. Erst die Trennung von seiner Frau und das Zerwürfnis mit seinem Vater hatte ihm die Lust an körperlicher Ertüchtigung genommen. Einzig seinem Sohn wollte er noch weiterhin Vorbild und ein guter Vater sein, sonst hätte er sich vielleicht schon in Selbstmitleid zerfressen.

David war jetzt sechzehn, ein durchaus guter Schüler und lebte abwechselnd bei seiner Mutter und Brian. Man hatte sich im Guten getrennt, weil beide, Brian und seine Frau Christine, eingesehen hatten, dass es gemeinsam keinen Sinn mehr hatte. Sie stritten sich unentwegt und erst seit der Trennung verstanden sie sich in der Tat besser denn je. Auch wenn man in Fragen von Davids Erziehung immer wieder unterschiedlicher Meinung war, raufte man sich doch zusammen und kam überraschenderweise immer wieder zu einer Einigung, schneller als dies jemals während ihrer Partnerschaft der Fall gewesen war.

Brian fiel ein, dass er unbedingt noch David anrufen wollte. Schließlich stand doch eine Versöhnung von Vater und Großvater bevor. Und David hatte seinen Großvater nicht mehr gesehen seit seinem vierten Geburtstag, dem Tag als Brians Vater unbedingt seine neue Partnerin mitbringen musste, keine drei Monate nach dem Tod seiner Ehefrau. Das hatte Brian ihm nie verzeihen können, aber anstatt sich darüber auszusprechen, ignorierten sich die beiden Männer nach heftigem Streit. Sein Vater war zurück in die Vereinigten Staaten gegangen und Brian in Deutschland und damit in der Nähe seines Sohnes geblieben. Und bis vor wenigen Tagen hatte Brian nicht mehr mit seinem Vater gesprochen.

Und nun, kurz vor einer längst überfälligen Aussprache und Versöhnung war sein Vater verschwunden. Bei der Polizei hatte man Brian nicht wirklich weiterhelfen können und wollen. Wirklich viel konnte er ja auch nicht dazu beitragen, seinen Verdacht zu bekräftigen. Sein Vater war selbst nur vorübergehend in Paris, seine Adresse hier in Paris, sowie in den USA oder Telefonnummern waren nicht bekannt und seine Vermutung beruhte auf einer nicht wahrgenommenen Verabredung. Nichts, was die Polizei hätte verfolgen können. Also bat man ihn, am kommenden Montag noch einmal vorbeizukommen, vielleicht hatte man dann etwas, was weiterhelfen konnte, einen Unfallbericht, eine Vermisstenmeldung oder Ähnliches. Bis dahin versuchte Brian auf eigene Faust etwas in den Regionalnachrichten und im Internet zu finden, beziehungsweise Grundlegendes über seinen Vater zu erfahren. Was sich als nicht gerade erfolgversprechend herausstellte.

Nun hatte Brian aber mit dem Kauf des neuen Sammlerstücks etwas Zerstreuung gefunden. Es war nur schade, dass er sein Uhrmacherwerkzeug nicht dabei hatte, sonst hätte er sich gleich daran gemacht, die Uhr zu reparieren. Aber er war auch genauso neugierig, Näheres über den Konstrukteur und die geheimnisvolle Gravur herauszufinden. Und dies war sein Ziel an diesem grauen Nachmittag in Paris, während er gedankenverloren und uninteressiert an den weiteren Marktständen vorbeischlenderte.

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