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Überfall in den Pyrenäen
ОглавлениеAnmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871
An das genaue Datum erinnere ich mich nicht. Ich notiere für gewöhnlich wissenschaftlich relevante Daten, nicht Reiseerlebnisse. Mynheer van Delft meint, es sei der 28. Juni gewesen. Aber das ist gleichgültig. Als gesichert betrachte ich die Tatsache, dass wir nur unwesentlich erholt aus dieser furchtbaren Kaschemme in den Bergen aufbrachen. Ich bin aus Island weiß Gott merkwürdige Wetterlagen und Behausungen gewohnt, aber dieses prähistorische Andorra la Vella übertrifft alles. Genug davon. Wir brachen auf.
Ziemlich präzise drei Wegebiegungen später, die letzten Hütten waren seit vielleicht fünf Minuten außer Sicht und unser Pfad wurde steiler und schmaler, fiel ein Schuss. Ein Meisterschuss, muss ich hinzufügen. Unser Führer brach ohne ein Wort zusammen. Er war sofort tot. Blut strömte aus seinem Mund. Es sickerte auch aus dem Loch in seiner Jacke. Ein Volltreffer. Präzisionsarbeit. Ehe wir uns versahen, tauchten sechs Banditen auf. Schwerbewaffnet. Zwei vor uns, einer hinter uns, drei rechts am Berg. Zur Flucht wäre nur ein Sprung in die Schlucht zur Linken infrage gekommen. Selbstmord. Fridolin versuchte, sich des Jagdgewehrs unseres Führers zu bemächtigen. Ich hielt ihn zurück. Es wäre sein Todesurteil gewesen.
Die Männer brachten uns und unsere Tiere durch unwegsames Gelände zu ihrem Lager. Fast drei Stunden lang führte unser Weg über Geröllhalden und durch struppiges Dickicht. Fast immer ging es bergauf. Ausgesprochen mühselig. Mehrfach stürzte ich über Wurzeln oder glitt auf losen Steinen aus. Als ich einmal nicht gleich wieder auf die Beine kam, schlug mich einer der Kerle mit seinem Gewehrkolben.
Unterwegs hielten sie es nicht für nötig, uns zu fesseln. Vermutlich zu Recht. Ortsunkundige sind meiner Meinung nach in der Hochgebirgswildnis jener Gegend rettungslos verloren. Außerdem hatten uns die Mörder bewiesen, dass sie gute Schützen waren. Fluchtversuch zwecklos. Mynheer van Delft gab uns gleich zu Beginn zu verstehen, dass wir es nicht darauf ankommen lassen sollten.
Erklärungen zu ihren Motiven erhielten wir keine. Ich tippte auf Entführung. Wäre es den Burschen nur um unser Gepäck gegangen, hätten sie uns drei leicht ebenso wie unseren Führer sofort erschießen können.
Unter einem überhängenden Felsen erwarteten uns etliche weitere Männer und Frauen. Ihre genaue Anzahl ließ sich nicht ermitteln. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Platz schien dauerhaft in Benutzung zu sein. Grob behauene Baumstämme dienten als Bänke und Tische. An einem der Stämme banden uns die Verbrecher mit Händen und Füßen fest. Mit dem Effekt, dass sie uns nun gar nicht mehr bewachen brauchten und sich ganz auf ihr Mittagessen konzentrierten. Wir bekamen natürlich nichts ab.
Ich fragte mich ernsthaft, welcher perfiden Absicht ihr Tun folgte? Sollte es etwas mit unserer Suche nach Kassandra zu tun haben? Aber wie hätten sie davon erfahren können? Entdeckung fürchtete die Gruppe mit Sicherheit nicht. Das Feuer, an dem sie sich wärmten, rauchte kräftig. Kein Wunder, bei dem nassen Holz. Mir setzte der Rauch ziemlich zu. Gern hätte ich meine Brille abgenommen und mir die Augen gewischt. Dies blieb mir allerdings verwehrt. Ich muss wie ein greinender Schulbub ausgesehen haben. Nie zuvor fühlte ich mich dermaßen erniedrigt!
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
„Welche Absichten?“ So naive Fragen kann nur ein Wissenschaftler stellen. Selbstverständlich konnte es der Bande nur um Kassandra gehen. Davon war ich von der ersten Sekunde an überzeugt. Wobei diese wilden Burschen sicher kein persönliches Interesse an der Seherin hatten. Es waren gedungene Freischärler. Irgendwie musste es einem Konkurrenten gelungen sein, unsere Reiseroute zu erkunden. Das glaubte ich jedenfalls damals. Vielleicht war uns ein Spion gefolgt? Gesindel findet sich immer, solange nur die angebotenen Summen verlockend genug ausfallen. Nachdem also unsere Route bekannt war, kam es lediglich darauf an, einen geeigneten Platz auszuwählen, um uns möglichst unauffällig auszuschalten.
Aus meiner Sicht gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ihr Auftraggeber kannte unser Ziel und musste uns einfach töten lassen, um vor mir zum Zuge zu kommen. Oder er kannte es nicht und brauchte uns als Geisel. Da wir lebten, blieb im Prinzip nur Variante zwei übrig. Womit klar war, dass mein Freund Tarik als undichte Stelle ausschied. Es hätte auch nicht zu ihm gepasst.
Ah, interessant. Fridolin bringt mir seine Notizen. Ich bin gespannt.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
War schon komisch, plötzlich diesen Typen gegenüberzustehen. Ich hatte Angst. Als ich unseren Führer so in seinem Blut liegen sah, wollte ich nach seinem Gewehr greifen und uns verteidigen. Der Doktor hielt mich zurück. Master van Delft gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, ich möchte mich ruhig verhalten. Ich bin beiden sehr dankbar. Ohne sie könnte ich das hier wahrscheinlich nicht mehr aufschreiben.
Nach stundenlanger Kraxelei kamen wir ans Lager der Entführer. Die waren eine richtige Räuberbande, wenn Sie mich fragen. Üble Gesellen. Bis auf eine der Frauen. Die sah nicht so böse aus wie die anderen. Zerlumpt angezogen aber nicht böse. Vor allem wenn sie lächelte. Dann sah sie direkt nett aus. Ziemlich jung. Dafür war die alte, die immer nach uns sehen kam, eine Hexe. Da bin ich mir sicher. Dreckig und ungepflegt. Die hielt mir ein Stück Fleisch unter die Nase. Konnte ich nicht anfassen, weil sie uns die Hände an die Bänke gefesselt hatten. Also hab ich mit dem Mund danach geschnappt. Sie zog das Fleisch weg und lachte sich halb tot. Am Ende hat sie genüsslich ein paar Bissen direkt vor meinem Gesicht verputzt und den Knochen mit viel Fleisch dran weggeschmissen. Gemein. Allerdings gab es dort ein kleines Hündchen. Das hat sich den Knochen geholt. Dem hab ich das Fleisch gegönnt. Ich hab gesehen, wie die andern ihn ärgerten, ihn traten und Steine nach ihm schmissen. Dabei war das so ein süßer Kerl. Kaum größer als eine Katze. Weißes Fell mit braunen und schwarzen Flecken. Niedliches braunes Gesicht. Ich weiß nicht, ob der schon einen Namen hatte, aber weil er so scheckig aussah, hab ich ihn Schecki genannt. Ich hab mich mit ihm unterhalten und er guckte mich mit seinen großen braunen Augen an, als ob er alles versteht. Ich glaube, er hat mich gleich genauso gerngehabt wie ich ihn. Ich war ja der einzige da oben, der sich mit ihm beschäftigte.
Stimmt nicht ganz. Das Mädchen, die junge Frau, die ich gerade erwähnt hab, die hätte vielleicht auch gerne mit ihm gespielt. Ein paar Mal hat sie es versucht. Die Alte hat sie jedes Mal angebrüllt und zurück an den Bratenspieß geschickt. Vielleicht wollten die Räuber aus dem Hündchen einen scharfen Wachhund machen. Blödmänner. Schade nur, dass ich keine Hand frei hatte, um ihn zu streicheln.
Master van Delft und der Doktor haben versucht, mit den Räubern zu reden. Aber die antworteten nicht. Sie lachten nur und spuckten vor uns aus. Außer die Junge. Meistens wirkte die ein bisschen traurig. Ich hab gehört, dass die anderen sie Esmeralda nannten.
Sonst konnte ich nichts verstehen. Die Sprache, in der sich die Leute unterhielten, war nicht spanisch und nicht französisch. Also ich kann das sowieso nicht beurteilen. Der Doktor sagte sowas. Er meinte, dieses Kauderwelsch gehört wahrscheinlich zu einem der Bergvölker in Nordspanien. Wahrscheinlich zu den Katalanen. Blöd, dass sie nicht holländisch mit uns redeten. Ich hätte schon gern gewusst, warum sie uns gefangen hielten.
Irgendwann am Nachmittag änderte sich etwas. Ein Knabe, kaum zwölf Jahre alt, schätze ich, brachte Soldaten ins Lager. Drei Soldaten. Er bekam von ihnen ein Geldstück in die Hand gedrückt und verschwand sofort wieder. Ich kenn mich mit französischen Rangabzeichen nicht aus. Es waren aber auf alle Fälle Franzosen. Ein Offizier und zwei Kadetten oder Sergeanten oder so. Die begrüßten kurz die anderen Räuber und kamen dann zu uns. Nicht etwa zu Master van Delft. Auch nicht zum Doktor. Die kamen direkt zu mir.
Einer von den Soldaten, ihr Dolmetscher, sprach mich auf Deutsch an. Keine Ahnung, wieso. Eigentlich hatte ich niemandem erzählt, dass ich lange in Bremen gelebt habe, bei meinen Großeltern. Woher wussten die, dass ich deutsch kann? Vielleicht von Toulouse. Als Master van Delft auf der Suche nach einem Bergführer war, habe ich Einkäufe besorgt. Proviant und so. Dabei habe ich mal kräftig deutsch geflucht, weil ich mitten auf diesem beschissenen Markt ausversehen in einen Kothaufen getreten bin. Dieses „Himmel, Arsch und Zwirn! Verdammter Mist!“ ist mir einfach rausgerutscht. Es ist wirklich komisch. Wenn ich fluche, dann meistens deutsch. Das klingt kerniger. Eine dumme Angewohnheit. Aber wieso sollten die hier was von meinem Ausrutscher in Toulouse wissen?
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Tja, Herrschaften, das war schon ein starkes Stück. Gehen die Franzosen einfach an mir vorbei und beginnen mit Fridolin ein Gespräch. In deutscher Sprache! Mir fiel wieder ein, dass ich ihn eigentlich nach seinem deutschen Familiennamen fragen wollte. Dazu war es nun zu spät. Konnte es sein, dass mein Kammerdiener ein Spion war? Ein von meinen Konkurrenten gedungener Verräter? Ein gemeiner Spitzel, womöglich militärisch geschult? Das würde seine enorme Kondition erklären.
Eine weitere Frage ging mir im Kopf herum. Was trieben die Franzosen in Andorra? Gut, ihr Napoleon gilt zusammen mit einem nordspanischen Bischof offiziell als Staatsoberhaupt. Gewissermaßen eine fürstliche Kooperative. Die Folge eines Paktes aus dem Mittelalter. Aber de facto werden die Bergbauern von einem frei gewählten Parlament regiert. Der Pakt beinhaltet außerdem, dass weder spanisches noch französisches Militär etwas auf andorranischem Territorium verloren hat. Der kleine Pyrenäenstaat bildet so eine Art entmilitarisierte Pufferzone. Und auch wenn wir lange hatten laufen müssen, war ich mir ziemlich sicher, dass wir uns noch immer in Andorra befanden. Eine äußerst mysteriöse Angelegenheit.
Nun, ich beherrsche ein wenig deutsch. Die Sprache unterscheidet sich nur geringfügig von der unseren. Beide entstammen der gleichen Wurzel. Französisch spreche ich fließend. Deshalb sehe ich mich in der Lage, den Wortlaut des merkwürdigen Gesprächs einigermaßen vollständig wiederzugeben. Ihr Anführer, ein Leutnant, begann mit der Befragung. Einer der beiden Sergeanten übersetzte:
„Wer sind Sie und wo kommen Sie her?“
„Was wollen Sie von uns?“
„Die Fragen stellen wir.“
„Binden Sie mich los und ich sag’s Ihnen vielleicht.“ Es setzte eine schallende Ohrfeige. Ging man so mit einem verbündeten Spitzel um?
„Falsche Antwort. Ich wiederhole: Wer sind Sie und woher kommen Sie?“
„Leck mich.“ Die nächste Ohrfeige. Ich hielt es für nötig, einzugreifen.
„Lassen Sie ihn in Ruhe!“ rief ich auf Französisch. „Ich trage hier die Verantwortung. Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie mich.“ Der Offizier schien unentschlossen, drehte sich nach kurzem Überlegen aber zu mir um.
„Gut Monsieur, dann lassen Sie mich eben Ihre Geschichte hören.“
„Ich nehme an, die kennen Sie besser als ich. Welcher feige Hund hat Sie beauftragt, mich aufzuhalten?“ Die dritte Ohrfeige traf mich. Ein heftiger Schlag. Meine Wange brannte und mein Kopf dröhnte.
„Was wollen Sie in Spanien?“ Ich nahm all meinen Mut zusammen und grinste ihn frech an.
„Sommerfrische, Mynheer. Wir sind holländische Sommerfrischler auf dem Weg ans Mittelmeer.“ Ich erwartete eine weitere Ohrfeige. Sie blieb aus. Stattdessen zog der Kerl seine Pistole, entsicherte und hielt sie mir an die Stirn.
„Wenn du kleiner Saboteur mich zum Narren halten willst, zeige ich dir, wie Le Grande Nation mit Verrätern umzugehen pflegt.“ Saboteur? Verräter? Was sollte das denn? Womöglich eine Verwechslung?
„Nichts für ungut, Herr Leutnant. Ich sag Ihnen alles. Aber Sie nehmen Ihren Schießprügel weg.“ Der Offizier grinste.
„Dachte mir, dass Sie für gute Argumente empfänglich sind. Ich nehme die Pistole weg. Aber seien Sie versichert, um die standrechtliche Erschießung kommen Sie sowieso nicht herum, wenn sich unsere Informationen bewahrheiten sollten. Ihre einzige Chance auf mildernde Umstände ist ein umfassendes Geständnis.“
„Was denn für ein Geständnis um Himmelswillen?“
„Euer Auftrag, Schätzchen. Wir kennen euren großen Zampano. Uns interessiert nur, welchen konkreten Auftrag er euch mitgegeben hat. Raus mit der Sprache! Wer seid ihr, was wollt ihr?“
Ich war perplex. Wie meinte er das mit dem Auftrag? Und von welchem „Zampano“ sprach er? Ingmarson konnte mir leider nicht helfen. Er sprach kein Französisch. Wahrscheinlich war es das Beste, die Karten auf den Tisch zu legen. Der Franzose wurde ungeduldig. Er spielte schon wieder mit dem Revolver.
„Wird’s bald?“
„Schon gut. Ich weiß zwar nicht genau, wie Sie das alles meinen, aber von mir aus. Mein Name ist van Delft. Dorian van Delft. Ich bin ein Händler aus Rotterdam. Sie können sich gern meine Reisepapiere ansehen. Der Mann neben mir ist der isländische Forscher und Archäologe Dr. Frans Ingmarson und der junge Mann, mit dem Sie zuerst so nett geplaudert haben, ist mein Diener Felix Bergmann.“
„Der Deutsche?“
„Keine Ahnung ob er Deutscher ist. Ich habe ihn als Holländer eingestellt.“
„Hübsche Tarnung. Und was genau plant ihr jetzt in Spanien?“
„Was wir planen? Nun so genau lässt sich das nicht sagen.“
„Klar, erst mal bisschen schnüffeln, wie?“
„Wenn Sie das so nennen wollen. Ich würde eher sagen, recherchieren. Wir wollen in Andalusien nach einer etwas schrulligen alten Frau suchen. Die Dame stammt aus der Heimat unseres Archäologen und verfügt über Kenntnisse, den Erdaufbau betreffend.“ Genauer musste der Kerl die Geschichte nicht kennen.
„Den Erdaufbau?“
„Ja, manche Leute wie unser Doktor betrachten sie als weise Frau, andere als Hexe. Deshalb hat sie Zuflucht in Spanien gesucht.“
„Eine Hexe?“
„Ja.“
„Aus Island?“
„Wenn ich es Ihnen sage.“ Was folgte, daran erinnere ich mir nur noch schemenhaft. Mich traf ein harter Schlag an den Kopf.
Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871
Dieser französische Offizier schreckte offenbar vor nichts zurück. Als er Mynheer van Delft den Pistolenknauf auf den Schädel hieb, dachte ich, dies sei das Ende. Van Delft sank sofort auf seinem Sitz zusammen und gab keinen Mucks mehr von sich. Nur die Handfesseln verhinderten, dass er zu Boden fiel. Völlig zusammengekrümmt hing er an den Stricken und kippte zur Seite. Blut floss aus einer klaffenden Wunde an der Schläfe. Als nächster bekam ich Schläge. Ich beteuerte zwar immer wieder, seine Sprache nicht zu sprechen, aber der Franzose verstand mich natürlich ebenso wenig wie ich ihn und sein Dolmetscher sprach wohl nur deutsch. Ich wünschte mir, ich könnte sterben. So schön schnell wie Mynheer van Delft. Wäre ich bloß auf unserer Insel geblieben. Gott sei Dank mischte sich Fridolin ein.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Um ganz ehrlich zu sein, ich kapierte das alles nicht. Erst schlagen sie meinen Herrn zu Brei, dann verprügeln sie den Doktor. Warum? Ich konnte den Mund nicht halten und brüllte den Franzmann wütend an.
„Hören Sie auf mit dem Unsinn! Der Mann versteht Sie nicht. Der ist Isländer und spricht nur isländisch. Dazu etwas niederländisch, englisch und Latein, soviel ich weiß. Aber mit Fremdsprachen haben Sie’s ja nicht so. Wenn Sie was wissen wollen, reden Sie mit mir!“ Tatsächlich hörte der Kerl auf und wandte sich mir zu.
„Interessant. Der vermeintliche Diener meldet sich zu Wort. Wollen Sie mir wenigsten die Wahrheit sagen, mein Herr?“
„Die Wahrheit haben Sie von Mynheer van Delft schon gehört. Wenn Sie uns nicht glauben, ist das Ihr Pech.“
„Pech? Da lachen ja die Hühner. Ich schätze, Sie haben Lust, die nächste Tracht zu beziehen. Richtig?“ Er machte eine Drohgebärde. Ich zeigte mich unbeeindruckt.
„Falsch. Ich bin Kammerdiener und stolz darauf. Im Gegensatz zu Ihnen helfe ich Menschen und verprügele Sie nicht.“ Peng, hatte ich den nächsten Schlag im Gesicht. Der Typ hieb unbarmherzig zu. Ein echter Sadist.
„Ich werde Ihnen mal was erzählen, Herr Bergmann oder wie immer Sie heißen mögen. Vielleicht hilft es Ihnen auf die Sprünge, wenn Sie merken, dass Sie auf verlorenem Posten stehen. So wie ich das sehe, sind Sie der Befehlshaber Ihres kleinen Expeditionskorps. Ein Offizier der preußischen Armee, der sich in Holland diese beiden ‚Experten‘ engagiert hat, um in Spanien irgendein krummes Ding für seinen König zu drehen. Liege ich richtig?“ Triumphierend blickte er mich an. „Und jetzt wüsste ich gern von Ihnen, was genau Sie vorhaben. Ein Attentat? Geht es um geheime Unterlagen? Gibt es Hintermänner bei Hofe in Madrid? Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Wenn Sie kooperieren, finden wir einen Weg, uns erkenntlich zu zeigen. In jedem Fall bleiben dann Ihre Kumpane am Leben. Unser Kaiser ist in kleinen Dingen großzügig. Voila! Jetzt sind Sie dran. Und geben Sie sich keine Mühe, irgendetwas zu vertuschen. Es wird Ihnen nicht helfen. Der spanische Thron gehört uns. Niemals wird in Madrid ein Hohenzollern sitzen. Das kann ich Ihnen versichern. Jetzt reden Sie endlich, Mann!“
Ich glaube, ich hab den Menschen angesehen, als käme er vom Mond. Ich wusste überhaupt nicht, was der von mir wollte. Und weil ich schwieg, versuchte er mir wohl so etwas wie eine goldene Brücke zu bauen. Er wurde plötzlich ganz höflich.
„Mein Herr, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort als preußischer Offizier geben, nehmen wir Ihnen die Fesseln ab. Sie werden wie ein Kriegsgefangener behandelt. Mit allen angemessenen Ehren. Nun? Nennen Sie mir Ihren Dienstgrad, Ihre Einheit und wir können uns wie Ehrenmänner arrangieren.“
Ich bin nicht der Hellste, das weiß ich. Aber in dem Moment habe ich wirklich angestrengt nachgedacht. Ich hatte keine Ahnung von der preußischen Armee. Ich wusste nur: Wenn er mir die Fesseln löst, kann ich vielleicht was für meine Kameraden tun. Ich sah zu Mynheer van Delft. Er kam gerade wieder zu sich. Schien starke Schmerzen zu haben. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen:
„Einverstanden. Aber nur, wenn meine Begleiter ebenso ehrenhaft behandelt werden. Denn Mynheer van Delft hat wirklich nicht gelogen. Er ist ein Händler. Den Doktor hat er aus Island mitgebracht, weil er sich vom Wissen der Kräuterfrau Vorteile verspricht. Für mich sind die Beiden eine nützliche Tarnung. Sie sollten mir helfen, in Spanien Kontaktpersonen zu finden. Und jetzt lassen Sie Mynheer van Delft und Doktor Ingmarson frei!“
Triumphierend blickte der Franzose in die Runde. Dann winkte er einige der Freischärler zu sich und wies sie an, uns die Fesseln abzunehmen. Seine Männer nahmen ihre Gewehre in Anschlag. Mir war schlecht. Keine Ahnung, wie das weitergehen sollte. Verzweifelt grübelte ich nach einem passenden Namen für mich und log so gut ich konnte.
„Mein Name und Dienstgrad lauten Hauptmann Herrmann von Zitzewitz.“ Von dem hatte ich mal in einer Zeitung gelesen. „Ich bin beim Generalstab in Potsdam stationiert. Sondereinsatzkommando Spanien.“
„Ah ja. Dachte ich mir. Herzlich willkommen, Herr Hauptmann!“ Der Kerl nahm Haltung an und salutierte. Ich bemühte mich, ihm so militärisch wie möglich den Gruß zu erwidern.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Es war eine merkwürdige Situation. Dem letzten Wortwechsel hatte ich wieder folgen können. Mit Kopfschmerzen zwar aber zumindest nicht mehr im Koma. Fridolin war ein schlechter Lügner. Sein halbmilitärisches Gefasel überzeugte mich ziemlich, dass er kein Spion war. Ob der Franzose ihm die Schmierenkomödie abkaufte, ließ sich schwer sagen. Vielleicht hatte er einfach eine zu vorgefasste Meinung, vielleicht wollte er abwarten, was noch kam.
Natürlich war es eine ungeheuerliche Behauptung, Fridolin habe mich nur für seine geheimdienstlichen Zwecke missbraucht. Noch dazu in preußischen Diensten. Unter anderen Umständen hätte ich zweifellos Satisfaktion verlangt. In unserer derzeitigen Lage jedoch musste ich ihm dankbar sein. Die schmähliche Beleidigung erfüllte ihren Zweck: Sie nahmen uns die Fesseln ab. Mein Gott, tat das gut! Nicht nur der schmerzenden Gelenke wegen. Natürlich ließen sie uns nicht frei. Das wäre sicher zu viel verlangt gewesen. Aber immerhin, wir hatten unsere Bewegungsfreiheit zurück. Ich war Fridolin für seine Entscheidung sehr verbunden. Was weiter passieren würde, davon hatte ich natürlich ebenso wenig eine Vorstellung wie er. Einerseits beruhigte es mich, dass wir es nicht mit Schergen der Konkurrenz zu tun hatten. Andererseits fand ich es keineswegs erbaulich, ab sofort Kriegsgefangener zu sein. Und das nur, weil sich Bourbonen und Hohenzollern um den spanischen Thron balgten. Da es der Franzose von nun an konsequent ablehnte, mit jemandem anderen als seinem vermeintlichen „Kollegen“ zu reden, will ich Fridolin erneut das Wort erteilen.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Wir bekamen Essen. Brot und ein Stück Wildschwein vom Spieß. Und Wasser. Das tat gut. Das junge Frauenzimmer, das sie Esmeralda riefen, bediente uns. Endlich konnte ich Schecki kraulen. Ich gab ihm von meinem Fleisch. Dem kleinen Hund zuzusehen, lenkte mich ein bisschen von meinen Sorgen ab. Dummerweise kam gleich die Alte gerannt und schaffte ihn weg. Nach dem Essen bot mir der Offizier eine Zigarre an. Ich rauche eigentlich nicht. Trotzdem hab ich sie genommen. Um Zeit zu gewinnen. Leider konnte ich mich nicht mit meinem Herrn verständigen. Die Sergeanten standen zwischen uns und verhinderten jeden Kontakt. Sobald einer den Mund aufmachte, hielten sie ihm ein Bajonett an den Hals.
Irgendwann wurde der Franzmann ungeduldig. Er wollte Details hören. Ich beschloss, stur zu bleiben. Vielleicht konnte ich ihn überreden, uns in eine Stadt zu bringen. Ich hoffte, seine Vorgesetzten wären intelligenter als er.
„Ich werde nur mit einem Mitglied Ihres Generalstabes reden. Niederen Dienstgraden gegenüber bin ich nicht befugt, Auskunft zu erteilen!“ Er schnappte nach Luft.
„Herr Hauptmann, sollte ich mich noch nicht vorgestellt haben: Jules de Lafontaine. Leutnant der kaiserlichen Garde. Sonderbevollmächtigter der Geheimpolizei für das südliche Grenzgebiet und als solcher befugt, Auskunft von jeglichem Gegner seiner Majestät zu erlangen. Ganz gleich welchen Dienstranges oder welcher Nationalität.“ „Sonderbevollmächtigter für das Grenzgebiet? Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber sind wir hier nicht im Ausland? Das ist meines Wissens Andorra und hier dürfte Ihre Vollmacht keine Gültigkeit besitzen, Herr Leutnant.“
„Ich kann Sie auch wieder binden lassen.“
„Sie können mich von mir aus erschießen, Herr Leutnant. Ich habe einen Schwur geleistet. Im Übrigen sollten Sie wissen, dass ein ranghöherer Offizier dem rangniederen grundsätzlich nie zur Auskunft verpflichtet ist.“ Weil er einen Moment überlegte, beschloss ich nachzulegen. „Wissen Sie, außer uns überqueren zurzeit mehrere preußische Spezialisten die spanische Grenze. Zu Land, zu Wasser und sogar mit dem Ballon. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an. Wenn die Ehre von König und Vaterland auf dem Spiel steht, zählt ein Leben wenig.“ Ich brachte dies so gelangweilt wie möglich vor, sog an meiner Zigarre und beobachtete den Leutnant. Der Mann wurde sichtbar nervös. Also wollte ich ihn nicht zu sehr auf die Folter spannen. Nicht, dass er die falschen Schlüsse zog und uns gleich abknallte.
„Weil ich Ihnen aber mein Wort als Offizier gegeben habe, bin ich zur Kooperation bereit. Ein Vorschlag: Bringen Sie uns zu Ihrem Vorgesetzten und ich werde ihm erzählen, was ich weiß.“
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Da hatte ich mir ja einen tollen Begleiter ausgesucht. Irgendwie ließen mich Menschenkenntnis und Glück Gott sei Dank nie im Stich. Fridolin, Fridolin! Ein gerissener Bursche. Wie er diese ganze lange Rede in stoischer Ruhe vortrug? Dazu wäre ich viel zu aufgewühlt gewesen. Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke und folgte gespannt dem Geschehen.
Und tatsächlich. Der Franzose schien beeindruckt. Kein Wunder. Wenn Fridolins Angaben gestimmt hätten, dann wäre eine vollständige und gründliche Untersuchung natürlich unvermeidlich gewesen. Den „Spion“ voreilig zu erschießen, konnte unserem Leutnant in dem Fall den Kopf kosten. Andererseits beging Fridolin nicht mal einen Meineid, wenn er versprach „alles zu sagen, was er wusste“. Er wusste ja nichts. Raffiniert. Ich war neugierig, ob die Soldaten den Köder schlucken würden.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Der Leutnant beriet sich mit seinen Sergeanten. So viel ich verstand, wollten die Soldaten uns nicht allein zurück nach Frankreich begleiten. Sie hatten Angst vor mir. Sie befürchteten von einem preußischen Generalstabsoffizier im geheimen Einsatz Wunders was für Fähigkeiten. Uns allerdings wieder zu fesseln, hätte den Abstieg in dem unwegsamen Gelände erheblich erschwert. Zumal der Leutnant mir sein Wort als Offizier gegeben hatte. Also verhandelte er als nächstes mit den Räubern wegen einer Eskorte. Es gab einen ziemlich lauten Streit. Für mich sah es so aus, als ob die Bande für den Rücktransport mehr Geld haben wollte.
Ich hab mich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Konnte ja nur besser werden. Weil sie uns nun nicht mehr direkt mit ihren Bajonetten bedrohten, wanderte ich ein bisschen im Lager umher. Ich weiß nicht, was die Franzmänner den Räubern erzählt hatten, aber diesmal traute sich niemand, mir den Hund wegzunehmen, als ich mich zu ihm hockte. Esmeralda guckte mich auch sehr merkwürdig an. Alles ziemlich seltsam. Immerhin schien sie zufrieden, dass ich Schecki kraulte.
Mit Mynheer van Delft und dem Doktor durfte ich trotzdem nicht reden. Einer der Sergeanten wich nie von meiner Seite, der andere blieb bei meinen Begleitern. Die Gefahr, dass am Ende einer von den Kerlen den Braten gerochen hätte, war zu groß. Ich glaube aber, dass mein Herr meine Absichten durchschaute. Er lächelte mir aufmunternd zu. Unauffällig gab ich ihm Zeichen, ruhig zu bleiben und abzuwarten.
Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871
Ich weiß nicht, was genau Fridolin diesem brutalen Offizier erzählte. Gesichert ist nur folgender Ablauf.
Erstens: Sie nahmen uns die Fesseln ab. Anschließend begannen sie ein Palaver mit den Freischärlern.
Zweitens: Fridolin begann währenddessen im Lager umherzuwandern, ohne dass jemand etwas dagegen unternahm. Ich war perplex, konnte mir keinen Reim darauf machen. Oder anders: Ich machte mir durchaus einen Reim darauf. Aber da ich heute Fridolins Absichten kenne, werde ich meine damaligen Vermutungen wohlweislich verschweigen. Ich täte ihm unrecht. Jedenfalls, sogar die alte Frau, die meines Erachtens so etwas wie das Familienoberhaupt der Bande war, hielt plötzlich respektvoll Abstand.
Drittens: Für die Nacht bereiteten uns die Frauen unter dem Felsvorsprung Felle aus. Zum Schlafen legten uns die Franzosen nach einigen Diskussionen mit Fridolin erneut Handfesseln an und ließen sich anschließend zwischen uns nieder. So verhinderten sie, dass wir miteinander reden konnten. Die Freischärler lagerten sich im Halbkreis um uns und stellten zusätzlich Wachen auf. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings schon etwas mehr. Van Delft war es gelungen, mir ein paar Worte zuzuflüstern. Ich ahnte, dass Fridolin einen Plan schmiedete, wie wir uns befreien könnten. Geschlafen habe ich trotzdem nicht besonders gut.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Dem kann ich meinerseits beipflichten. Der Boden war steinhart gefroren. Die Felle hielten die Kälte nur unwesentlich ab. Dazu kamen die auf den Rücken gebundenen Arme. Rohe, scheuernde Stricke an den Handgelenken. Die Franzosen schnarchten schauerlich und der Doktor, wenn er sich nicht gerade stöhnend hin und her warf, hielt in ihrem Konzert wacker mit. Eine schreckliche Nacht!
Vor allem der Ungewissheit wegen. Im Prinzip konnten wir zwar mit der vagen Hoffnung leben, am nächsten Morgen Richtung Frankreich und damit zumindest in wärmere Gefilde abgeführt zu werden. Ob sich damit jedoch eine Fluchtmöglichkeit ergab ober ob wir am Ende womöglich alle unter der Guillotine landen würden?
Da die Franzosen keineswegs die Absicht hegten, erneut mit mir zu reden und ich meinerseits keinerlei Lust verspürte, ein zweites Mal mit der Pistole des Leutnants Bekanntschaft zu schließen, konnte ich das Geschehen nicht weiter beeinflussen. Ich hoffte inständig, dass Fridolin keinen Fehler beging und der einmal von ihm eingeschlagene Weg zum Erfolg führte. Ich glaube, ich habe selten in einer Nacht inniger gebetet als in dieser.
Vielleicht eins noch. Fridolins kecke Behauptung, er gehöre zum preußischen Generalstab und ich sei lediglich seine Tarnung, brachte mir weitere leichte Verbesserungen. Das Mädchen, das den Freischärlern zu Diensten war, erhielt die Erlaubnis, meine Wunde zu säubern und zu verbinden. Sie wischte mir das Blut aus dem Gesicht und kümmerte sich wirklich rührend. Ich fragte mich, in welchem Verhältnis sie zu der Truppe stand. Irgendwie schien sie nicht hierher zu passen.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Ziemlich ärgerlich, über Nacht wieder Fesseln angelegt zu bekommen. Aber ich verstand die Argumente des Leutnants. Hier gab es keine Türen, die er verschließen konnte. Die Ansicht der Räuber, dass in den wilden Schluchten der Pyrenäen für Ortsunkundige jede Flucht sinnlos wäre, teilte er keineswegs. Obwohl der Schafskopf selbst Führer benötigte, um zu diesem Flecken und wieder zurück zu finden. Anders als den Entführern konnte es ihm natürlich nicht gleichgültig sein, ob ich das Abenteuer überlebte oder nicht. Die Aussicht, mit meinen Geständnissen quasi zum Retter der Nation aufzusteigen, durfte er nicht aufs Spiel setzen. Ich war für ihn so etwas wie der Garant zur Beförderung. Er hatte mit einem dicken Fisch gerechnet. Mein Hokuspokus übertraf seine Erwartungen. Ich gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, dass er keine Zweifel an meiner Räuberpistole hegte. Typischer Fall von Verfolgungswahn! Wenn es nicht schon so spät gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich sofort mit uns auf den Weg nach Frankreich gemacht.
Ich nutzte seine aufgekratzte Stimmung, ihn ein bisschen auszufragen. Zum Beispiel, wie sie auf uns gekommen waren. Er plauderte ziemlich ungehemmt drauflos. Wahrscheinlich hielt er es für sinnvoll, mir als Ranghöherem die Effektivität der kaiserlichen Geheimpolizei vor Augen zu führen. Ein grüner Junge, der sich wichtigmachen wollte.
Interessanterweise lag ich mit meiner Vermutung, den Markt in Toulouse betreffend, gründlich daneben. Unser seltsamer kleiner Tross mit den Unmengen an Werkzeugen und Ziel Spanien war ihnen bereits an der belgisch-französischen Grenze aufgefallen. Und schon dort im Zug hatte ich auf Deutsch geflucht, als ich sämtliche Koffer für die Zöllner öffnen und auspacken musste. Verdächtig, wie wir von diesem Augenblick an waren, platzierten sie ab Paris zwei weibliche Spione im Abteil vom Doktor und meinem Herrn. Frauen als Agenten! Ich konnte es kaum glauben. Meine beiden Quasselstrippen fielen natürlich auf die Damen herein und hatten nichts Besseres zu tun, als unsere gesamte Reiseroute haarklein auszuplaudern. Nur um das Ziel unserer Mission machten sie ein Geheimnis. Logisch. Die Franzosen fühlten sich bestätigt, wollten aber angesichts der delikaten politischen Lage zwischen den europäischen Mächten Aufsehen vermeiden. Also verlegten sie ihren Zugriff in neutrales Gebiet, in dem auf unwegsamen Pfaden immer mal Leute spurlos verschwanden.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Hat man Töne! Die beiden Damen! Darüber habe ich mit Fridolin bisher nie gesprochen. Wir hatten ja weiß Gott meist Wichtigeres im Kopf. Unglaublich. Dass sie Spione waren, davon höre ich gerade das erste Wort. Weibliche Spione! Obwohl Frauen nachgewiesener Weise nichts von Politik verstehen und zum Glück nicht wählen dürfen. Holde Feen, missbraucht als fehlgeleitete Marionetten eines skrupellosen, verkommenen Systems! Ich bin entsetzt! Diese Froschfresser schrecken vor nichts zurück. Das zarte weibliche Geschlecht: ausgebeutet und benutzt, ahnungslose Männer auszuhorchen. Wie weit wäre Madame eigentlich gegangen, wenn wir beide im Zug nicht so redselig gewesen wären? Immerhin mussten wir in Toulouse eine Nacht im Hotel verbringen. Nicht auszudenken! Natürlich hätten wir Herren gegenüber, in denen wir ernsthafte Konkurrenten vermuten durften, nie und nimmer so offen geredet! Welch ein Schock noch im Nachhinein!
Die Geschichte mit der „Sommerfrische“: erstunken und erlogen! Dachte ich mir gleich. Wie tief war die glorreiche „Grande Nation“ unter dem dritten Bonaparte gesunken? Unmoral bis in den Staatsapparat. Spitzelnetze und Polizeiwillkür statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Pervers. Kein Wunder, dass die Pariser im September, unmittelbar nach Napoleons Gefangensetzung durch die Deutschen, die nächste Revolution anzettelten. Unerhört! Das muss ich dem Doktor berichten. Er wird es sich nächstens zweimal überlegen, ob er fremde Ladies anspricht. Ein Skandal!