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Der Quell von Al Andalus

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Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 7. Juli anno Domini 1870, Madrid, Handelshaus Pedro Morales

Madrid. Ich spüre förmlich Kassandras Nähe. Schon als wir mit der Postkutsche über majestätische Alleen in die spanische Hauptstadt einrollten, überkam mich so ein Kribbeln, eine innere Unruhe. Ich bin mir sicher, dass wir bald am Ziel sind.

Wir laufen durch diese Stadt und bestaunen die Wunder ihrer alten Pracht. Von hier aus wurde einst die halbe Welt beherrscht. Morgen wollen wir uns einen Ausflug zum Escorial-Palast gönnen. Pedro Morales meint, den müssten wir auf alle Fälle gesehen haben, wenn wir schon einmal hier seien.

Wenn ich „wir“ schreibe, spreche ich von vier Menschen und einem kleinen Hund. Es hat sich einiges getan, seit meinem letzten Eintrag. Alles zu beschreiben, wäre für heute zu viel. Ich bin auch noch nicht fertig mit meinen Eindrücken. Vielleicht hole ich es nach, wenn ich wieder daheim in Rotterdam bin. Für den Moment nur so viel:

Unser Führer, den wir in den Pyrenäen angeheuert hatten, wurde bei einem Überfall getötet. Fridolin, Doktor Ingmarson und ich kamen mit dem Schrecken davon und konnten den Banditen mit Hilfe einer jungen Deutschen entfliehen. Das Mädchen ist nach eigenen Angaben 19, sieht aber älter aus. Sie nennt sich Elisabeth Schubert und ist vor sechs Jahren von den Freischärlern entführt worden. Sie will zu ihrer Familie zurück. Ich werde ihr natürlich behilflich sein.

Der kleine Hund heißt Schecki. Er ist ein braver Junge und immer zu Späßen aufgelegt. Doktor Ingmarson war von seiner Begleitung zunächst zwar nicht begeistert, weil er um seine Gerätschaften fürchtete, aber wo nichts ist, kann nichts kaputt gehen. Wir haben in den Bergen bis auf unsere Papiere wirklich alles verloren. Weswegen sich unser Aufenthalt in Madrid länger hinziehen wird als geplant.

Pedro Morales hat uns angeboten, sein Haus als unseres zu betrachten, so lange es nötig ist. Er ist ein nüchterner Mann, tüchtig und gastfreundlich. Von ihm habe ich sofort und ungefragt Schreibzeug erhalten, um meine Aufzeichnungen fortsetzen zu können. Außerdem leihweise Hosen und Röcke für den Anfang. Er hat ungefähr meine Statur. Ich bin ihm für seine Hilfe sehr dankbar.

Tagebuch des Dorian van Delft, Sonnabend, 9. Juli anno Domini 1870, Madrid, Handelshaus Pedro Morales

Was für ein Abenteuer! Die königlichen Paläste dieser Stadt sind wirklich ein Erlebnis. Dank Pedro Morales‘ Bürgschaft bin ich endlich wieder flüssig. Mit etwas Geld in der Tasche ist man gleich ein ganz anderer Mensch. Doktor Ingmarson hat sich auf Einkaufstour für unsere Expedition begeben. Ich war mit Elisabeth beim Schneider. Ebenfalls eine Empfehlung meines Geschäftspartners.

Erster Erfolg: Die Frau beginnt allmählich wie ein Mensch auszusehen. Was ein hübsches Kleid ausmachen kann! Gestern kam ein Friseur ins Haus, der uns beiden die Haare richtete. Nichts an Fräulein Schubert erinnert jetzt noch an die wilde Esmeralda aus den Bergen, die womöglich steckbrieflich gesucht wird.

Am Nachmittag statteten wir der preußischen Gesandtschaft einen Besuch ab. Sie vertritt hier die Interessen des Norddeutschen Bundes und seiner Mitgliedsstaaten. Ein Sekretär des Gesandten versprach uns, umgehend Kontakt zum Königreich Sachsen herzustellen. Tatsächlich erhielten wir bereits am heutigen Morgen erste Auskunft. Die Identität des Mädchens gilt als gesichert, ihre Vorgeschichte wurde weitgehend bestätigt. Sowohl in Dresden als auch bei der Gesandtschaft liegen Vermisstenanzeigen aus dem Jahr ihres Verschwindens vor. Sie bekommt deshalb schnellstens vorübergehende Dokumente ausgestellt. Manchmal scheint die penible deutsche Bürokratie zu etwas nutze zu sein. In Sachsen haben sie Beamte losgeschickt, Elisabeths Mutter zu finden. Spätestens am Montag wissen wir mehr. Das hat uns jedenfalls der Sekretär versichert.

Tagebuch des Dorian van Delft Dienstag, 12. Juli anno Domini 1870, Madrid am Morgen, Handelshaus Pedro Morales

In einer Stunde brechen wir auf. Mein Freund Morales, ja, ich darf ihn nach diesen Tagen mit Fug und Recht Freund nennen, stellt uns einen seiner Reisewagen zur Verfügung. Neben dem Kutscher wird zu unserer Sicherheit ein Bewaffneter Platz nehmen. Pedro Morales wünscht, dass wir ohne weitere Unterbrechungen Granada erreichen. Wäre ich nicht bereits bei der spanischen Niederlassung von Tarik al Sabah avisiert, hätte er mir auch dort ein Dach über dem Kopf besorgt. In solchen Situationen merke ich, wie nützlich es ist, mit Partnern aus ganz Europa zusammenzuarbeiten. Auf mich allein gestellt, wäre ich nie im Leben so weit gekommen. Ich werde mich zu gegebener Zeit angemessen bei dem Manne revanchieren. Eine Gegeneinladung nach Rotterdam ist bereits ausgesprochen.

Bis auf weiteres bleibt Fräulein Schubert in unserer Begleitung. Seit sie wie eine Dame ausschaut, wage ich fast nicht mehr, sie auf kindliche Weise beim Vornamen zu rufen. Ihr verblichener Vater war ein Wissenschaftler von Weltruf. Leider erhielt sie aus Deutschland keine gute Nachricht. Ihre Mutter verstarb bald nach der Entführung des Gatten und der Tochter. Sie überlebte die Geburt ihres zweiten Kindes ebenso wenig wie der Knabe. Vermutlich trug ihr Kummer nicht unwesentlich zum tragischen Ausgang bei. Zwar gibt es Verwandte in Meißen, aber an die erinnert sich Elisabeth kaum. Weswegen sie es vorzieht, uns zu begleiten und erst von Rotterdam aus die Heimreise anzutreten. Ihre diesbezügliche Bitte erfülle ich gern. Die Frau besitzt ein angenehmes Wesen, wenn nicht gerade ihre in den letzten Jahren anerzogene Wildheit durchbricht. Fridolin ist nach ihrer Entscheidung geradezu aus dem Häuschen. Ich denke, er ist verliebt. Solange unter diesem süßen Wahn seine Arbeitsleistung nicht leidet, habe ich nichts dagegen einzuwenden.

Tagebuch des Dorian van Delft Sonntag, 17. Juli anno Domini 1870, Granada, Haciénda von Ignacio Mendez

Die Glocken riefen zum Morgengebet, als wir Granada erreichten. Du kannst in diesem Land nur in den späten Abend- und frühen Morgenstunden reisen. Die Hitze am Tage ist unerträglich. Ich verstehe jetzt die Andalusier. Gegen Mittag ziehen sie sich in ihre Häuser zurück und schließen die Fensterläden. Wenn du in dieser Zeit unterwegs bist, glaubst du dich in menschenleere Geisterstädte versetzt. Die Sonne brennt unbarmherzig.

Am meisten von uns leidet Schecki. Er kann seinen Pelz nicht ausziehen. Wir kühlen ihn zuweilen mit ein paar Spritzern Wasser. Das zumindest bekommt man hier trotz der großen Hitze fast überall. In den Dörfern und am Rande der ausgedehnten Olivenhaine gibt es brauchbare Wasserstellen. Die Spanier haben ein ausgeklügeltes System von Zisternen und kleinen Stauweihern angelegt, um Tauwasser und Regen so lange als möglich zu bewahren. Auch sind ihre Brunnen recht tief. Sie erreichen weit unter dem trockenen Boden ergiebige Wasseradern. In den Bergen Zentralspaniens soll es im Winter reichlich schneien. Dieser Schnee speist im Frühjahr die unterirdischen Quellen.

Das Land versprüht einen spröden Charme. Tief dunkelrote und blasse graue Böden wechseln einander ab. Weiden oder sonstiges Grasland sind selten. Wälder ebenso. Kaum zu glauben, dass solche auf den ersten Blick kargen Ackerkrumen eine so ungeheure Vielfalt saftiger Früchte hervorbringen. Orangen, Limonen, Pfirsiche und Wein, Wein, nochmals Wein. In einigen Gegenden entdeckten wir Weizenfelder. Spanische Oliven werden nicht so groß wie jene in Arabien. Dafür ist ihr Fleisch umso schmackhafter. Das helle Öl, das die Leute daraus pressen, verkauft sich bei uns daheim ausgezeichnet. Die Sonne, unter der wir Menschen leiden, scheint der hiesigen Landwirtschaft nicht abträglich.

Ich nutze die Reise, neue Handelsbeziehungen zu knüpfen. Einige Male ließ ich unsere Kutsche halten, um die Qualität verschiedener Angebote zu prüfen und mit den Bauern zu feilschen. Ich denke, daraus dürften sich in Zukunft interessante Geschäfte ergeben.

Eine Tagesreise von Madrid entfernt liegt Toledo. Dort blieben wir etwas länger. Ich verzichtete sogar auf meine liebgewonnene Siesta, um mir die legendären Waffenschmieden anzusehen. Prachtvolle Säbel und Schwerter! Feinste Qualität. Ich habe Elisabeth einen Dolch gekauft, damit sie sich künftig notfalls selbst verteidigen kann. Wie man mit so einem Ding umgeht, hat sie in den Bergen zur Genüge gelernt.

Für den modernen Krieg, und ich bin nach unseren Erlebnissen in Andorra überzeugt, einen solchen in Kürze zwischen Frankreich und Preußen erwarten dürfen, taugen die netten kleinen Manufakturen freilich kaum. Ich hatte mir mehr vom Besuch versprochen.

Letzte große Hürde vor Granada war die Sierra Nevada. Dieses Gebirge zeigt einen völlig anderen Charakter als die wilden Pyrenäen. Statt steiler Klüfte und Schluchten, Geröll und Felsgrate schwingen sich sanfte Hänge dem strahlend blauen Himmel entgegen. Die hübschen sonnigen Täler erinnern an deutsche Mittelgebirge. Erst sehr weit oben in Gipfelnähe nimmt die Landschaft alpine Züge an.

Die meisten Straßen ließen sich trotz einiger Schneereste zügig mit der Kutsche passieren. Kaum zu glauben, dass wir uns zeitweilig in größerer Höhe befanden als in Andorra. Unser Kutscher versicherte uns jedoch, die Sierra Nevada sei tatsächlich das höchste spanische Gebirge und verfehle die europäischen Rekordmarken der französischen und Schweizer Alpen nur knapp.

Wie gesagt, wir kamen gut voran. Dort oben brauchten wir natürlich keine Siesta. Nur mussten wir ein paar Mal die erschöpften Pferde tauschen, was aber bei den freundlichen Bergbauern kein Problem darstellte. Während der Abfahrt nach Süden wurden wir für unsere Mühen mit atemberaubenden Ausblicken belohnt. Grandios.

Uns allen schlug das Herz bis zum Hals, als endlich die Mauern unseres Reiseziels in Sicht kamen. Und dazu die Morgenglocken! Um meine Aufregung zu zügeln und für die glückliche Reise zu danken, bat ich, den Gottesdienst im Kartäuser Kloster besuchen zu dürfen. Meine Begleiter folgten meinem Beispiel. Nur Schecki musste mit dem Wächter draußen bei der Kutsche bleiben.

Dieses altehrwürdige Kloster liegt ziemlich weit außerhalb des Stadtzentrums. Etwa auf halbem Wege zu unserer Unterkunft. Anders als in der prächtigen Kathedrale, stand hier draußen nicht zu befürchten, dass fremde Reisende wie wir Aufsehen erregen. Den Mönchen sind pilgernde Gläubige allemal willkommen.

Als guter Protestant kann ich mit dem Pomp der Katholiken im Allgemeinen nicht viel anfangen. Und speziell hier im Süden artet er manchmal geradezu in Kitsch aus. Diesmal war es anders. Lag es an der feinen barocken Architektur des Klosters? An der feierlichen Zeremonie der Brüder? Oder an der räumlichen wie spirituellen Nähe zu Kassandras Höhle? Ich weiß es nicht. Jedenfalls erfasste mich eine Art heiligen Schauers. Wie ich später erfuhr, ging es dem Doktor, Fridolin und Fräulein Schubert nicht anders. Ich schäme mich dessen nicht. Wozu auch? Eine reformierte Kirche werde ich in Andalusien voraussichtlich ohnehin nicht finden.

Gegen Mittag erreichten wir die Hacienda von Don Ignacio. Offiziell ist er Geschäftspartner von Tarik al Sabah. In Wahrheit handelt es sich um einen entfernten Verwandten. Tariks Depesche hatte ihn auf unser Kommen eingestellt. Wie nicht anders zu erwarten, wurden wir herzlich empfangen. Er sah kein Problem darin, dass wir unerwartet eine Dame mitbrachten. Sein Anwesen ist sehr geräumig.

Im Moment liege ich auf meinem riesigen Bett. Neben mir eine Schale erlesenen Obstes. Höchste Zeit, ein wenig davon zu naschen und danach ein erholsames Schläfchen zu tun. Heute Abend sehen wir weiter.

Tagebuch des Dorian van Delft, Eintrag von Dr. Frans Ingmarson Dienstag, 19. Julei anno Domini 1870, Granada, Hacienda von Ignacio Mendez

Diese Zeilen schreibt Dr. Frans Ingmarson aus Reykjavik. So nah am Ziel meiner wissenschaftlichen Forschungen, erbat ich mir von Mynheer van Delft die Ehre, einige Worte in sein persönliches Reisetagebuch zu notieren.

Ich danke meinem Gönner, diesen Ort mit eigenen Augen sehen zu dürfen. Granada durchweht der Hauch der Geschichte. Die Straßen sind ärmlich, gewiss. Vom Glanze römischer Herrlichkeit ist nichts geblieben. Bescheiden künden wenige Kirchen und Klöster von der Reconquista, die im Süden der iberischen Halbinsel die Neuzeit einleitete.

Doch unter dem Pflaster der Straßen, unter der Oberfläche dieser kläglichen Versuche, Vergangenheit vergessen zu machen, wabert eine unfassbare Energie. Ich kann sie fühlen. Jeder von unserer Expedition spürt sie. Es ist die Energie eines uralten Weltengeistes. Meiner Überzeugung nach ist das die göttliche Kraft, aus der Kassandra, die letzte Überlebende von Pompeji, die Trollhexe vom Skessuhorn, der Schutzengel der Menschheit oder wie auch immer wir die Frau nennen wollen, ihr Dasein schöpft. Ich bin überwältigt!

Der äußere Eindruck des Ortes wandelt sich dramatisch, steigt der Wanderer offenen Blickes und hellen Verstandes den Hügel hinauf zur Alhambra. In ehrfürchtiger Stille betraten wir gestern den früheren Sitz der muselmanischen Könige. Den Besucher empfängt ein Märchenreich wie aus tausendundeiner Nacht. Löwenhof, Comares Palast, … Ich habe mir nicht alle Namen gemerkt. Was im Gedächtnis bleibt, ist die Leichtigkeit der Bauten. Auf schlanken Säulen schweben reich mit feinen Steinmetzarbeiten verzierte Himmel. Überall filigrane Ornamente, durchbrochen und hauchzart wie aus Brüsseler Spitze. Mitten durch die luftigen Räume fließt das Wasser jener Quelle, von der Mynheer al Sabah in Leiden uns erzählte. Kunstsinnig geleitet, verknüpft der schmale Bach Terrasse für Terrasse. Wo er vorüberfließt, blühen Blumen in allen erdenklichen Farben und Formen. Es plätschert und summt. Die Luft ist rein und trotz der Hitze draußen angenehm frisch, veredelt vom Duft der Blüten. Ein Paradies! Geschaffen von Menschenhand, beseelt von heiligem Geist.

Heute Morgen endlich brachte Don Ignacio meinen Gönner und mich zu einem alten Mann, von dem wir uns erste Antworten auf unsere Fragen erhofften. Er gehört möglicherweise zur Bruderschaft der Quellbewahrer. Sein Haus befindet sich unmittelbar am Fuße des Alhambra Hügels. Von außen sieht es sehr unscheinbar aus. Fensterlose Wände im Erdgeschoss und geschlossene Läden weiter oben.

Don Ignacio klopfte, übergab uns dem öffnenden Diener und zog sich zurück. Der Diener, ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren, führte uns über einen kleinen Innenhof. Das Empfangszimmer des Alten liegt an der rückwärtigen Seite des Hauses. Es ist ähnlich luftig gebaut wie die Säle der Alhambra aber natürlich nicht annähernd so groß und kunstvoll geschmückt.

Der Alte entsprach unseren Erwartungen. Ganz offensichtlich war er kein Konvertit sondern lebte in seiner Abgeschiedenheit recht offen nach den Regeln des Korans. Er trug einen langen, bunt bestickten Mantel. Sein Gesicht zierte ein grauer Vollbart und das Haupt bedeckte ein schmuckloser schwarzer Turban. Milde lächelnd reichte uns der Mann die Hand. Wir stellten uns vor. Er selbst nannte sich Lopez. Leider ließ er uns zunächst einigermaßen im Unklaren über seine Rolle. Ich nehme an, er wollte uns testen. Das Gespräch verlief in etwa wie folgt:

„Seid willkommen, ihr Suchenden. Nehmt Platz! Erfrischt euch.“ Er klatschte in die Hände. Während wir uns in weichen Kissen niederließen, brachte der Knabe, der uns herein geleitet hatte, eine Schale frischen Obstes. Ein zweiter Junge, etwas älter als der erste, reichte uns silberne Becher und füllte diese mit Wasser.

„Efendi“, begann Mynheer van Delft, die Anrede hatte uns Don Ignacio empfohlen, „wir danken Ihnen für die große Ehre, in Ihrem Hause empfangen zu werden.“ Der Alte erwiderte unsere angedeutete Verneigung. „Wie Ihnen sicher mitgeteilt wurde, ist dieser Mann an meiner Seite Wissenschaftler. Er hat in Island interessante Entdeckungen gemacht und mein Freund Tarik al Sabah glaubt, dass Sie uns vielleicht helfen können, einige damit verbundene Rätsel zu lösen.“

„Tarik glaubt das? So, so. Nun, vielleicht berichten Sie mir zunächst etwas ausführlicher, was Sie entdeckt haben.“

In der nächsten halben Stunde entwickelte ich ihm kurz und präzise meine Theorie. Er hörte aufmerksam zu. Manchmal nickte er zustimmend, an anderen Stellen schüttelte er entschieden den Kopf. Als ich geendet hatte, erhob er sich von seinem Platz. Wir folgten seinem Beispiel. Wie mir Mynheer van Delft hinterher versicherte, glaubte er in diesem Moment genau wie ich, der Alte würde uns nun direkt zur Höhle führen. Leider tat er uns den Gefallen nicht. Er sah uns nur abwesend an und meinte dann:

„Ich muss über Ihre Worte nachdenken, Herr Doktor. Bitte seien Sie beide morgen zur gleichen Stunde wieder hier. Ich danke Ihnen. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen?“ Womit er uns einfach stehen ließ, sich umwandte und den Raum verließ. Der Knabe erschien und komplimentierte uns nach draußen. Ich war erstaunt, van Delft ziemlich verärgert. Unter arabischer Gastfreundschaft hatten wir uns etwas anderes vorgestellt. Zumal dieser Efendi Lopez unser Anliegen kennen musste. Sonst hätte er uns sicher nie empfangen. Jetzt heißt es, uns in Geduld fassen und den morgigen Tag abwarten.

Tagebuch des Dorian van Delft, Eintrag von Dr. Frans Ingmarson Mittwoch, 20. Julei anno Domini 1870, Granada, Hacienda von Ignacio Mendez

Wieder dort gewesen. Mynheer van Delft ist die Freude am Schreiben vergangen. Verständlich. Ich protokolliere hiermit in Absprache mit ihm den Fortgang.

Efendi Lopez empfing uns. Höflich kühl. Wir waren gespannt. Doch anstelle praktischer Empfehlungen, unsere Suche nach Kassandra betreffend, erging er sich in allgemeinen Belehrungen:

„Meine Herren, ich sehe mich gezwungen, Sie über einige Dinge in Kenntnis zu setzen, ohne die Sie das Geheimnis unserer Bruderschaft nicht begreifen können. Mehr noch. Ich stelle fest, dass auch mein lieber Tarik in Holland die Tragweite unserer Bemühungen nicht begriffen hat. Das mag an der etwas einseitigen Darstellung in den Schriften des Orients liegen. Dort stagnieren Geistes- und Naturwissenschaften seit vielen Jahren. Mit dem bedauerlichen Effekt, dass manche meiner Brüder in Allmachtsphantasien schwelgen. Phantasien, die mit der Wirklichkeit des goldenen Zeitalters von Al Andalus nicht das Geringste zu tun haben. Vielleicht entspringt dieses verzerrte Weltbild der Tatsache, dass unsere arabischen Brüder unter der Knute der Hohen Pforte stöhnen. Engländer und Franzosen, die sich bisweilen um Einfluss in der Region bemühen, sind nicht besser als die Türken. Und so ist es leicht verständlich: Ein unterjochtes Volk sehnt sich immer nach vergangener Größe. Glorreiche Zeiten werden idealisiert und womöglich von ehrgeizigen Religionslehrern oder weltlichen Führern im eigenen Sinne interpretiert. Mit der Wahrheit hat das alles herzlich wenig zu tun.“ Er machte eine Pause. Mynheer van Delft und ich sahen uns fragend an, wagten allerdings nicht, seinen Gedankenfluss zu unterbrechen.

„Meine Herren, wir reden hier nicht von irgendeiner Quelle. Wir reden von nichts Geringerem als dem Quell der Weisheit.“ Ich hielt die Luft an. Jetzt musste sie endlich kommen, die Antwort auf all die Fragen, die mich seit Monaten quälten. Das Ergebnis meiner Recherchen würde die Fachwelt in Erstaunen setzen. Zweifellos stand ich unmittelbar vor meinem wissenschaftlichen Durchbruch. Atemlos lauschte ich den Worten des weisen alten Mannes. „Hören Sie die Botschaft von Al Andalus:

Meister Ibn Ruschd lehrt uns, alle Menschen, ob Mann oder Frau, als vor Gott gleichberechtigt zu betrachten. Er stellt uns eine Gesellschaft vor Augen, in der ‚jede Frau, jedes Kind, jeder Mann alle Möglichkeiten finden, sämtliche Gaben zu entwickeln, die sie von Gott erhielten‘. Er predigt: ‚Eine Gesellschaft wird frei und gottgefällig sein, wenn niemand mehr aus Angst vor dem Fürsten oder vor der Hölle handelt. … Gott allein ist Herr und Meister und die häufigste Lehre in seinem Koran ist, dass man sich anstrengen und selbst denken soll.‘

Der Jude Maimonides ergänzt: ‚Zweckbestimmung einer Gesellschaft ist das Wachsen des Menschen, nicht das Wachsen des Wohlstandes. Der Mensch wächst, wenn er sich in der Vernunft ausbildet, einer Vernunft, die ihre Grenzen und Postulate kennt. Eine solche Vernunft legt Zeugnis ab für die Gegenwart Gottes im Menschen.‘

Und Alfons, der Weise schließlich, ein von seinen eigenen Glaubensbrüdern verstoßener König, preist im Gebet den Herrn: ‚Oh mein Christus, der du sie alle annimmst, Christen, Juden, Mauren, wenn nur ihr Glaube auf Gott gerichtet ist.‘ In seinem Reich waren Christen, Juden und Muslime gleichermaßen frei, ihren Glauben zu leben.

Solche Botschaften, meine Herren, bewahrt und gehegt durch die Jahrhunderte, repräsentieren den wahren Geist von Al Andalus. Sie sind der Quell von Freiheit und Weisheit. Gern bin ich Ihnen behilflich, diese ‚heilige Quelle‘ in meiner Bibliothek zu studieren.“

Ich sah, wie Mynheer van Delft die Stirn in Falten zog. Es wunderte mich nicht, fiel es mir doch selbst nicht leicht, dem Alten zu folgen. Was wollte er uns mit den Zitaten sagen? Mir schwante etwas, jedoch weigerte ich mich, dem Gedanken in meinem Kopf Raum zu geben. Der Efendi fuhr ungerührt in seiner Rede fort.

„Das ist das Geheimnis, das unsere Bruderschaft hütet, das sie vor Tyrannei und Zerstörung bewahrt, damit aus ihm eine bessere Welt erwächst. Es geht hier nicht um Herrschaftsansprüche dieser oder jener Seite, sondern einzig und allein um die Friedensbotschaft Gottes. Eines Tages wird sie alle Menschen, gleich welchen Geschlechts oder welcher Religion, erfassen und ewigen Frieden stiften. Auf diesen Tag arbeiten wir hin.“ Mynheer van Delft konnte sich nicht mehr beherrschen.

„Das ist alles schön und gut. Aber was ist mit der Quelle im Berg? Ich meine eine wirkliche Quelle, die Wasser spendet? Die muss es doch geben! Wir haben ihr wundersames Wirken in den Gärten der Alhambra selbst bewundern dürfen.“

„Gewiss, es gibt sie und sie bewirkt ein Wunder: Das Wunder der Schöpfung. Da, wo Wasser auf fruchtbaren Boden fällt, lässt Gott den Samen sprießen. Zu unser aller Nutzen. Zauberei ist dabei allerdings nicht am Werk. Von einer ‚heiligen Quelle‘ kann bei ihr nur insofern die Rede sein, dass ohne sie die Alhambra wohl nie auf diesem Hügel erbaut worden wäre. Mag sein, es gab bei unserer Ankunft in diesem Land üble heidnische Rituale, Fruchtbarkeitsorgien um das Wasser, das aus dem Fels trat. Die Herren von Al Andalus stellten den Ritus vom Kopf auf die Füße. Nicht dem unschuldigen Wasser gilt unsere Ehrerbietung, sondern dem Herrn, der es aus trockenem Stein zutage treten lässt.“

„Und Kassandra?“ wollte ich wissen. Er lachte.

„Ein unsterbliches sphärisches Wesen braucht keine Erdspalte, um zu den Ihrigen zurückzukehren. Einem Wesen Gottes irdische Notwendigkeiten zu unterstellen, ist in meinen Augen geradezu Blasphemie. Ich versichere Sie, wenn diese Kassandra wirklich in unserer Höhle hausen sollte, wäre sie nicht unbemerkt geblieben. Die alte Wasserkunst der Alhambra ist erst kürzlich durch ein neues Pumpensystem ersetzt worden. Leistungsfähiger als das vormalige Eimerkettenwerk. Die einzigen Geheimnisse, die wir dort verstecken, sind rein technischer Natur. Meisterwerke spanischer Ingenieurskunst. Ich lade Sie herzlich ein, sich ein eigenes Bild zu machen.“

Wir nahmen die Einladung natürlich an. Unser Rundgang: ernüchternd. Die geheime Höhle: ein staatlich verwalteter Maschinenpark. Nicht die Spur von geheimen Spalten. Nur glatte Mauern aus Lehmziegeln, vollgestopft mit technischem Gerät. Die heilige Quelle: eingefriedet ergießt sie sich in einen Kessel aus blinkendem Chromblech. Ihr Wasser: vergewaltigt von einem martialischen, dampfgetriebenen Pumpengestänge. Die ehrwürdige Stille des Raumes: dahin. Stattdessen lärmt quietschend und zischend der Pumpenantrieb. In der feuchten Luft lag ein ekliger Gestank von Kohle und Maschinenöl.

Dorian van Delft

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