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Das Geheimnis der Kalifen

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Tagebuch des Dorian van Delft Mittwoch, 18. Mai anno Domini 1870, an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“

In wenigen Stunden erreichen wir Noordwijk. Allen Stürmen und Widrigkeiten zum Trotz. Gelobt sei Jesus Christus. Endlich zu Hause. Na, fast jedenfalls. Und das, obwohl wir nicht nonstop reisten sondern zwischendurch in Norwegen weitere Ladung aufnahmen. Erstaunlich, wie schnell die neuen Dampfschiffe sind. Ich schätze, es wird nicht mehr lange dauern und solche Frachter kommen ganz ohne Segel aus.

Jedenfalls werde ich die niederländische Erde küssen, sobald ich meinen Fuß an Land setze. Halleluja. Es lebe der König! Kaum zu glauben, wie sehr man sich nach dem heimischen Boden, nach den leckeren Pfannkuchen, Käsespezialitäten und nicht zuletzt unseren rotbackigen Mädchen verzehren kann, wenn man monatelang einsam über die Weltmeere schippert. Unbegreiflicherweise halte ich es, einmal daheim, nicht lange aus. Dann muss ich wieder los. Die Ferne ruft. Der Mensch ist ein seltsames Wesen.

Genau genommen ist Noordwijk nicht das Ziel unserer braven „St. Egidius“. Die Waren an Bord sind samt und sonders für meine Heimatstadt Rotterdam bestimmt. Beziehungsweise für den Umschlag im dortigen Hafen. Ich habe den Kapitän allerdings gebeten, Doktorchen und mich bereits hier an Land gehen zu lassen. Das hängt mit unseren weiteren Reiseplänen zusammen. Wir wollen den Landweg nehmen, um unterwegs in Leiden einen Geschäftsfreund aufzusuchen. Tarik al Sabah. Der Bursche ist Muslim und stammt ursprünglich aus Damaskus, wenn ich nicht irre. Ein Gewürzhändler mit ausgezeichneten Kontakten nach Spanien, Indien und in den arabischen Raum. Ich wickle nahezu meinen gesamten Kaffee- und Olivenhandel über Tariks Niederlassung ab. Wenn uns einer etwas über magische Plätze auf der iberischen Halbinsel sagen kann, dann er.

Unsere Ladung betreffend mache ich mir keine Sorgen. Ich werde von Noordwijk aus sofort eine Depesche an meinen Kontoristen Jasper senden. Er wird alles Notwendige im Rotterdamer Hafen veranlassen.

Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 19. Mai anno Domini 1870, Leiden, nachts im Hause von Tarik al Sabah

Was für ein Abend! Was für eine Begrüßung im Hause meines Freundes Tarik! Wir haben die schönsten Zimmer mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten. Und erst das Abendessen! Der Tisch bog sich fast unter den Köstlichkeiten heimischer und orientalischer Küche. Mein guter Ingmarson, gewöhnt an Dörrfisch und Knäckebrot, Walspeck und dürre Suppen, wirkte angesichts der ihm unbekannten Herrlichkeiten hoffnungslos überfordert. In den weichen, tiefen Kissen schien er kleiner als sonst, schüchtern verloren in der ungewohnten Pracht.

Wobei seine Schüchternheit natürlich auch an den Tänzerinnen gelegen haben mag, die uns unser Mahl versüßten. Zu seiner Genugtuung konnte ich ihn heute erstmals von seiner Kammerdiener-Rolle entbinden. Tarik stellt uns beiden genügend dienstbare Geister zur Seite. Ich hoffe, dem Doktor steigt dieser Abend nicht zu Kopfe. Nicht, dass er nächstens von mir ähnlich verwöhnt werden will.

Nein, das war ein wirklich erstaunlicher Abend. Tarik ist brillant. Käme es nicht bei unseren prüden, verklemmten Holländern schlecht an, bei Gott, ich würde genau so leben wollen wie dieser Muselmann. Gut, der Wein würde mir fehlen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich in seinem Becher wirklich nur kalter Tee befand. Aber mit welcher Raffinesse er das hiesige Verbot der Vielweiberei umgeht! Offiziell gilt er als Junggeselle. Als steinreicher Junggeselle, wohlgemerkt. Er macht keinen Hehl daraus, verwandt mit einflussreichen Würdenträgern seiner Heimat zu sein. Diese wiederum stehen im Dienst der Hohen Pforte in Konstantinopel. Mit solchen Leuten wird sich ein Händlervolk wie das unsere natürlich nicht ohne Not anlegen. Zumal al Sabah zu den besten Steuerzahlern von Leiden zählt.

Folglich tolerieren es die maßgeblichen Herren der Stadt und mit ihnen die gesamte Leidener Öffentlichkeit, dass Tarik sich einen ganzen Harem von offiziell als Tänzerin, Dienerin, Zofe und so weiter angestellten „Damen“ aus der Heimat in seinen Patrizierpalast am Wall kommen ließ. Eine hübscher als die andere, keine älter als höchstens Mitte zwanzig. Der Mann hat Geschmack. Und seine Geschäfte laufen bestens.

Nach dem Essen eröffneten wir ihm unser Anliegen. Tarik hörte aufmerksam zu und … es klopft.

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Unvermittelt bricht mein Eintrag vom 19. Mai ab. Ich gestehe, dass es mir peinlich ist, meine Chronistenpflicht einer Frau wegen unterbrochen zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, nannte sie sich Suleika oder so ähnlich. Selbstverständlich durfte ich ihr unzweideutiges Angebot nicht ablehnen. Tarik ist ein Mann mit Prinzipien. Er pflegt, seine Freunde großzügig zu beschenken. Seine Kultur gebietet ihm andererseits, es als tödliche Beleidigung anzusehen, wenn man seine Gaben geringschätzt. Ich hatte keine Wahl. Ein Duell mit dem heißblütigen Araber hätte ich mit Sicherheit nicht überlebt. Den weiteren Verlauf des Gespräches muss ich nun leider wieder aus dem Gedächtnis rekapitulieren, denn tatsächlich erhielten wir von dem Gewürzhändler wertvolle Hinweise. Gut.

Tarik, wie gesagt, folgte aufmerksam den Ausführungen von Doktor Ingmarson. Als mein Begleiter geendet hatte, fragte er nachdenklich:

„Wie kann ich Ihnen, lieber Doktor, bei Ihrer Suche nach der Unsterblichen behilflich sein?“

„Tarik, mein Freund“, mischte ich mich ein, „es geht uns um deine brillanten Kenntnisse über Spanien. Und damit meine ich nicht nur das gegenwärtige Königreich, sondern vor allem dein Wissen um die verflossenen Reiche der Emire und so weiter, die vor der Reconquista die iberische Halbinsel beherrschten.“

„Ja“, ergänzte Ingmarson, „es gibt auf den Runentafeln, die ich in der Höhle fand, neben dem Bericht über den Untergang Pompejis Hinweise auf heilige oder magische Orte im Süden. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Trollhexe, also unsere Pompejianerin, möglicherweise dorthin ausgewandert ist, nachdem Erik der Rote irgendwann nicht zurückkehrte. Ich nehme an, dass die übrigen Nordmänner ihr so wenig Glauben schenkten, wie alle Menschen zuvor.“

„Sie könnte aber auch überall anders hin ausgewandert sein?“

„Im Prinzip ja, aber es gibt zwei Aspekte, die mir in dem Zusammenhang nicht unwichtig scheinen. Erstens, zwischen den üblichen Runen tauchen Zeichen auf, die ich nicht deuten kann. Ich tippe auf arabische Schriftzeichen. Zweitens, wie Ihnen, mein Herr, sicher nicht unbekannt ist, erscheinen normannische Krieger im betreffenden Zeitraum erstmals in Spanien. Soviel ich weiß, drangen sie von Süden her, dem Flusslauf des Rio Guadalquivir folgend, mindestens bis Sevilla vor. Vielleicht sogar bis Cordoba. Zu der Zeit stand das Kalifat von Cordoba in höchster Blüte. Kunst und Philosophie galten mehr als Reichtum. Wäre es nicht möglich, dass der verlorene Schatz, den die Wikinger in Andalusien suchten, statt aus Gold und Silber aus einer geradezu unbezahlbaren Wahrsagerin bestand? Ich nehme an, die Leute hatten sehr schnell ihren Fehler erkannt und wollten die Trollhexe zurückholen. Die Tontafeln konnten ihnen als Kompass dienen.“

„Spekulationen, lieber Doktor, Spekulationen. In Wahrheit verließen die Wikinger damals, sofern wir ihrer nicht habhaft wurden, unsere iberischen Besitzungen mit reicher Beute. Und zwar mit echten, greifbaren Schätzen. Juwelen, Diademe, Ringe, goldenes Geschirr.“ Ich horchte auf.

„Du sprichst von ‚unseren‘ Besitzungen. Bist du am Ende selbst ein Zeitreisender, mein lieber Tarik?“ Der Araber lachte.

„Keine Angst, Dorian, ich bin ein Mensch wie du oder unser verehrter Herr Doktor. Es ist allerdings so, dass ich einer sehr alten und traditionsbewussten Familie entstamme. Um es kurz zu machen: Einige meiner Vorfahren dienten dem Kalifen. Den Nasriden, den späteren Königen von Granada, waren sie sogar verwandtschaftlich verbunden. Sie ließen ihr Blut bei der Verteidigung der Stadt und gehörten zu den letzten Kriegern, die unsere Heimat, jenes gelobte Land Al Andalus, verließen. In unseren Bibliotheken finden sich umfangreiche Folianten, die über siebenhundert Jahre arabischen Glanzes im Süden der iberischen Halbinsel dokumentieren. Das ist ein längerer Zeitraum, als die katholischen Könige seither dort herrschen.

1492 christlicher Zeitrechnung mussten wir Granada verloren geben. Heute schreiben wir 1870. Die Differenz kannst du leicht selbst überschlagen. Mein Vater legte stets großen Wert darauf, dass ich diese frühen Höhepunkte unserer Familiengeschichte gründlich studiere. Insofern bin ich recht gut über die damaligen Ereignisse in Spanien orientiert.“

„Hochinteressant.“

„Doktor Ingmarson, wollen Sie mir die besagten Tontafeln vielleicht einmal zeigen? Sollten es tatsächlich arabische Schriftzeichen sein, könnte ich Ihnen bei der Übersetzung behilflich sein.“ Ingmarson sank tiefer in seine Kissen.

„Wollen schon. Können hingegen … Soll heißen, die Tontafeln, sie vertragen anscheinend kein Tageslicht. Möglicherweise hat sie die Hexe mit einem Fluch belegt. Sobald ich versuchte, einige der Tafeln aus der Höhle zu bringen, zerfielen sie zu Staub. Ich habe jedoch Abschriften der erhaltenen Tafeln in der Höhle angefertigt.“ Er griff nach seiner Aktenmappe und zog den Ordner mit seinen Kopien heraus. „Bitte sehr. Das sind sie. Ich habe viele Stunden im Skessuhorn zugebracht und mit klammen Fingern beim Schein der Öllampe Tafel für Tafel abgezeichnet. In der zweiten Zeile finden Sie jeweils die lateinische Übersetzung.“

„Warum Latein?“

„Welcher Mensch, der nicht von unserer Insel stammt, spricht schon isländisch? Und mir war nach wenigen Sätzen bewusst, dass weitere Forschungen allein in Reykjavik sinnlos wären. Sind Sie des Lateinischen mächtig oder soll ich …“ „Nein, nein, schon gut.

Auch wenn jetzt alle Welt französisch redet, hielten es meine Lehrer für erforderlich, mich ein wenig in der alten Weltsprache zu schulen. Ich beherrsche sie leidlich. … Hm. … Sie sind sicher, dass Ihre Übersetzungen korrekt dem Wortlaut entsprechen?“

„Da ich der Runensprache einigermaßen Herr bin, versichere ich Ihnen, dass Inhalt und Reihenfolge stimmen. Ob ich jedoch im Abzeichnen der mir unbekannten Schriftsymbole Fehler gemacht habe und ob der Zusammenhang, in dem sie stehen, letztlich den gesamten Text erhellen, vermag ich natürlich nicht zu beschwören.“

„Sind es arabische Zeichen?“ warf ich ein. Tarik nickte.

„Ingmarson hat sehr sauber kopiert, Dorian. Da er versichert, nicht arabisch zu sprechen und dies zudem eher altertümliche, heute kaum gebräuchliche Schriftbilder sind, würde ich ihre Echtheit kaum anzweifeln.“

Ich hielt die Luft an. Ingmarson rutschte aufgeregt hin und her. Tarik ließ sich von unserer Ungeduld nicht anstecken. Nachdenklich durchblätterte er die Seiten, hielt an den betreffenden Stellen inne, griff nach Papier und Bleistift, machte sich Notizen. Nach einer Weile legte er den Stift beiseite. Er lehnte sich zurück und starrte in die Luft. Schließlich hielt es der Doktor nicht mehr aus.

„Und?“ fragte er. „Können Sie uns Auskunft geben?“ Tarik nickte langsam.

„Es ist nicht eindeutig. Tatsächlich weisen die Betrachtungen der Frau, sofern sie sich auf die Quellen ihres Wissens beziehen, in Richtung eines geheimen Zugangs zum Erdinneren. Es muss einen Punkt geben, an dem sich göttliche und irdische Energien begegnen. Dort, sagt sie, liege ihre Heimat, in die sie einst zurückkehren werde. Sie spricht von einem heiligen Berg oder Hügel, in dem die Zeit stillstehe. Diese Anhöhe sei zwar belebt, in ihren Gewölben jedoch, bewacht von weisen Männern, liege ein Geheimnis, welches der Welt verborgen bleiben müsse, um die Urkräfte nicht zu erzürnen. Es könnte auch ‚entfesseln‘ heißen. Für das betreffende Wort gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Das Wissen um diesen Ort sei nur auserwählten Männern gegeben. Und die vermitteln es von Generation zu Generation ausschließlich in ihren Reihen weiter. Es muss sich also um eine Art Priesterschaft handeln.“

„Wo liegt dieser Punkt, dieser Berg? In den Runen wird nur allgemein eine ‚Heimat im Süden‘ erwähnt.“

„Sehen Sie, von Island aus betrachtet kann das so ziemlich jeder Punkt der Erde sein.“

„Aber die arabischen Zeichen?“ Ingmarson blieb hartnäckig.

„Ja, Sie könnten recht haben. Es gibt allerdings auch in der arabischen und vorderasiatischen Welt mythische Berge. Denken Sie an den Sinai in Ägypten oder den Ararat in Armenien.“

„Ach herrje!“ In Gedanken begann ich zu rechnen, was mich Ingmarson mit seinem Abenteuer an Zeit und Geld kosten konnte, wenn wir all diese Orte aufsuchen müssten. Tarik durchschaute meine etwas fassungslose Miene. Er grinste.

„Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn, Mynheer Dorian. Es gibt Aspekte, die eure Suche eingrenzen. Weder auf dem Sinai noch auf dem Ararat lebten sonderlich lange Priester oder sonstige weise Männer. Am ehesten wäre der Apoll-Tempel in Delphi mit den Darstellungen der Seherin in Einklang zu bringen. Aber dort war damals, als die Texte entstanden, die legendäre Erdspalte längst verschlossen. Diese Spalte, aus welcher das Orakel in griechischer Zeit seine Botschaften erhielt. Ihr habt sicher davon gehört. Den Römern waren Leute, die mehr wussten als sie selbst, grundsätzlich suspekt. Da kannten sie keine Gnade. Und sie arbeiteten so gründlich, dass der ganze Ort seither als verschollen gilt.“

„Immerhin“, ergänzte der Doktor eifrig, „könnte das Orakel von Delphi ein weiterer Hinweis auf unsere Unsterbliche sein. Stellen Sie sich vor, meine Herren, die Pythia des Apoll, Kassandra, die Warnerin von Pompeji, die Trollhexe von Erik dem Roten: Alles ein und dieselbe Frau! Wahrscheinlich stoßen wir am Ende auf weitaus mehr Zeugnisse ihres Wirkens.“

„Möglich ist alles!“ knurrte ich. Langsam wurden mir die vielen Spekulationen lästig. Ich bin ein Mensch, der ab und an klare Aussagen braucht und nicht immer nur ‚wenns‘ und ‚abers‘. „Macht es nun Sinn, weiter zu suchen oder war’s das?“ Tarik lächelte milde und legte mir nachsichtig die Hand auf die Schulter.

„Mein Freund, was seid ihr Holländer immer so ungeduldig? Wenn ihr nicht sofort eine Antwort erhaltet, verliert ihr die Lust aufs Abenteuer. Ruhe und Gelassenheit sind die Väter des Erfolgs. Bei Allah, glaub mir, niemand hätte weniger Interesse an der Lösung dieses Rätsels als ich. Denn natürlich weiß ich so gut wie du um den Wert dieser Frau, wenn es sie denn wirklich gibt.

Meine Herren, passen Sie auf. Ich bin bereit, Ihnen ein streng gehütetes Geheimnis meiner Familie zu lüften. Ich kenne einen zweiten Ort, auf den die Beschreibung der Wahrsagerin passen könnte!“ Er machte eine Kunstpause, schloss die Augen. Es sah aus, als müsse er sich sammeln oder gar in schweigendem Gebet eine Anfrage an Allah richten, ob er uns Ungläubige einweihen dürfe. Ich blickte zu Ingmarson. Der Doktor nickte mir zu und Tarik begann seine Erklärung. Er sprach geradezu behutsam, als müsse er jedes Wort einzeln auf die Goldwaage legen:

„Ich sagte Ihnen vorhin, meine Vorfahren hätten zu den Letzten gehört, die Al Andalus verließen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Was ich Ihnen nun eröffne, ist möglicherweise eines der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit. Ich erwarte von Ihnen keinen Schwur auf Allah, jedoch Ihr ausdrückliches Ehrenwort als Gentlemen, über das, was ich Ihnen berichte, absolutes Stillschweigen zu bewahren.“ Er erhob sich von seinem Sitz. Wir folgten seinem Beispiel. „Darf ich auf Ihre Loyalität vertrauen?“ Bei diesen Worten öffnete er seine Handflächen und hielt sie in die Mitte des Dreiecks, das wir nun stehend bildeten. Ich griff zu und der Doktor folgte meinem Beispiel.

„Tarik al Sabah, mein Freund und Geschäftspartner, ich versichere dich meiner vollsten Loyalität und Verschwiegenheit.“

„Auch ich, verehrter Herr al Sabah, gebe Ihnen mein Ehrenwort als Wissenschaftler, Ihre Informationen vertraulich zu behandeln und, sollten meine Forschungen zum Erfolg führen, den von Ihnen gewiesenen Weg in keiner Veröffentlichung zu erwähnen.“ Mir lag auf der Zunge, Ingmarson zurechtzuweisen. Das Beste für alle wäre es, wenn außer uns dreien gar kein anderer etwas über die Trollhexe erführe, weil wir nur dann, wie seinerzeit Erik, einen echten Wettbewerbsvorteil davontrügen. Allein, Tarik gab sich mit unseren Erklärungen zufrieden und dem Doktor seine Veröffentlichungen auszureden, konnte ich später nachholen. Wir setzten uns wieder.

Zurück in die Gegenwart. Es scheint mir eine Erklärung nötig. Da mich mein Versprechen jenes Abends bindet und Dr. Frans Ingmarson aus verschiedenen Gründen bis heute keine Veröffentlichung zuwege brachte, gebe ich von Tariks nachfolgenden Worten ausschließlich Passagen wieder, die zum Verständnis unserer Geschichte absolut unvermeidlich sind. Dennoch bitte ich Sie auch für diese Zeilen um Diskretion. In falschen Händen könnten solch vertrauliche Informationen erheblichen Schaden anrichten.

„Meine Freunde!“ setzte Tarik an. „Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, Angehörige meiner Familie gehörten zu den Letzten, die das Königreich Granada verließen. Es verließen jedoch nicht alle Al Andalus. Mehrere konvertierten zum Christentum, um bleiben zu dürfen. Das belegt die offizielle Geschichtsschreibung.

Was keiner weiß: Tief unten, im Hügel Sabika, einem Ausläufer der Sierra Nevada mitten in Granada, auf dem sich unsere stolze Festung Alhambra erhebt, gibt es eine Höhle. In dieser Höhle sprudelt eine unterirdische Quelle, der seit alters her magische Kräfte zugeschrieben werden. Entdeckt haben sie vermutlich schon die Iberer, die Ureinwohner der Gegend, die oben auf dem Hügel eine Ortschaft gründeten. Ob die Römer nach ihrer Eroberung des Landes von der Quelle erfuhren, ist zweifelhaft. Als gesichert hingegen können Sie annehmen, dass sich schon während der Römerzeit eine Bruderschaft aus den Reihen der Einheimischen rekrutierte, die die Geheimnisse der Höhle bewahren sollte.

Die Bruderschaft eliminierte systematisch alle Mitwisser, egal ob Weib, Kind oder Greis. Es sollen blutige Orgien zu Ehren ihrer heidnischen Götter gefeiert worden sein.“

„Wie schrecklich!“ konnte sich der Doktor eines Kommentars nicht enthalten.

„Wie auch immer. Nach den Römern kamen die germanischen Barbaren und nach diesen wir. Als meine Vorfahren im frühen achten Jahrhundert die Alhambra auf jenem Hügel errichteten und nach und nach mit Palästen, Gärten und Wasserkünsten verschönten, stießen sie zwangsläufig auf Höhle und Bruderschaft. Nun wäre es ein Leichtes gewesen, mit diesen ungläubigen Hunden und ihrem Spektakel kurzen Prozess zu machen. Allein, unsere Krieger zollten in jener Zeit, anders als heute, auch Wundern und Geistern ihren Respekt, die älter waren als der Koran. Das Wissen um eine heilige Quelle konnte von Nutzen sein. Zumal sie geeignet schien, das Bewässerungssystem des Hügels, zu speisen.

Fortan wurde die Existenz der Höhle zwar weiter vor der Öffentlichkeit geheim gehalten, allein die Führung der Bruderschaft übernahmen brave Muslime, die ihren Königen treu ergeben waren. An die Stelle blutiger Rituale traten Blumenopfer. Und so ist es gar kein Wunder, dass in jener trockenen Gegend blühende Gärten aus dem Stein wuchsen und die Herrschaft der Nasriden dem Land Glück und Wohlstand brachte.

Die katholischen Könige interessierten sich nur wenig für Granada und seine Alhambra. Jedenfalls unter militärischen Gesichtspunkten. Da jedoch der prächtige Palastkomplex im Innern der Festung ein durchaus schöner und romantischer Flecken war, wohin man sich gelegentlich zur Erholung zurückziehen konnte, überließen sie Erhaltung und Pflege der Anlagen jenen, die etwas davon verstanden.“

„Angehörigen der Bruderschaft?“ kombinierte ich.

„Genau. Ohne natürlich zu wissen, dass diese Konvertiten einer Bruderschaft angehörten. Von der tieferen Bedeutung der Quelle hätten sie schon gar nichts erfahren dürfen. Alle, die damit zu tun hatten, wären vermutlich als Ketzer verbrannt worden.

Uns eröffnete die neue Konstellation die Gelegenheit, mitten im Herzen von Spanien einen Brückenkopf zu belassen. Mit dem Segen von oberster Stelle. Und was ein Brückenkopf im strategischen Sinne bedeutet, muss ich Ihnen, meine Herren, nicht erklären.“

Ich war verblüfft. Die Mitteilung meines Freundes bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass sich seine Familie seit nunmehr fast vierhundert Jahren auf eine Rückeroberung Spaniens vorbereitete. Unglaublich. Nun, als protestantischem Niederländer, dessen Ahnen einst selbst den Spaniern ihre Freiheit abgetrotzt hatten, waren mir die tieferen Absichten der Araber egal. Abgesehen von deren Erfolgsaussichten. Von Bedeutung schien allein die Tatsache, dass Tarik für uns wahrhaftig der Schlüssel zum Erfolg sein konnte. Ich gratulierte mir innerlich zu der Entscheidung, im letzten Jahr mit meinen Geschäften nicht zu einem Konkurrenten gewechselt zu sein. Es hatte da ein interessantes Angebot gegeben.

Dorian van Delft

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