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Elisabeth
ОглавлениеErinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Es war eine sternlose Nacht. Dunkle Wolken bedeckten den Mond. Ich konnte lange nicht einschlafen. Zu aufregend waren die vergangenen Stunden gewesen und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Der Leutnant sagte nur, dass wir nach Frankreich abtransportiert würden. Aber wohin genau, mit welcher Begleitung, gebunden oder frei? Bestünde eine Fluchtmöglichkeit?
Nebenan schnarchten der Doktor und die französischen Sergeanten um die Wette. Etwas raschelte im Gebüsch. Ich fuhr herum. Eine Schlange? Auch das noch. Ich wollte gerade um Hilfe rufen, da zischte es. Aber nicht wie eine Schlange. Eher so:
„Schhhhhh“. Eine Hand legte sich auf meinen Mund. Dann passierte eine Weile nichts. Erst nachdem bestimmt zwei Minuten lang kein anderes Geräusch zu hören war, ließ mich die Hand los. Aus dem Gebüsch tauchten Umrisse eines Gesichts auf und schoben sich ohne einen Laut an mein Ohr. Eine weitere Minute verstrich, bevor sich die Lippen endlich öffneten.
„Ganz still, bitte. Wenn die uns hören, sind wir beide tot.“ Es war mehr ein Hauch als ein Flüstern. Und dieser Hauch klang deutsch. Eine mir bekannte Stimme. Ich war verblüfft.
„Esmeralda?“
„Schhhh. Sprechen Sie leise. Ich kann Ihnen vielleicht helfen.“
„Aber wieso …?“
„Erzähl ich Ihnen später. Ist ‘ne lange Geschichte. Mein richtiger Name ist Elisabeth. Elisabeth Schubert. Ich komme aus Deutschland, lebe aber seit Jahren hier in den Bergen. Bitte sagen Sie mir eins: Stimmt es, dass Sie Deutscher sind?“ Eine Falle. Mein Herz bebte. Ganz bestimmt eine Falle. Es konnte nicht anders sein. Nur, warum sie? Und warum so? Das hätten sie am Rande des Abendessens bequemer haben können. Ich bekam Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Warum interessiert Sie das?“
„Weil ich Ihre einzige Chance bin. Weil ich Sie und die Franzosen morgen früh führen werde.“
„Sie? Wieso?“
„Weil die anderen keine Lust haben.“
„Keine Lust? Ich dachte, für Geld machen Räuber alles.“
„Räuber?“ Sie verschluckte ein leise glucksendes Lachen. „Na ja, vielleicht haben Sie recht. Räuber. Selber nennen sie sich Freiheitskämpfer. Es sind Euskaldunak.“
„Euskal was?“
„Schhhh. Euskaldunak. Basken, die sich nach Andorra ins Exil zurückziehen mussten. Auf ihre Köpfe sind Prämien ausgesetzt. In Spanien wie in Frankreich. Das Baskenland erstreckt sich westlich von hier beiderseits der Grenzen. Weil meine Kameraden Unabhängigkeit für ihr Land wollen, werden sie verfolgt. Deshalb haben sie keine Lust, das Risiko einzugehen, Ihre Gruppe aus Andorra raus zu eskortieren.“
„Und warum arbeiten sie dann hier mit den Franzosen zusammen?“
„Für Ihren Fang haben sie einen ziemlichen Batzen Geld gekriegt. Allerdings nur für den Fang. Meine Leute brauchen viele Francs und Peseten, um eine Befreiungsarmee aufzubauen. Da ist es ihnen egal, wo die herkommen. Selbst in Feindesland zu ziehen, ist was anderes. Das ist ihnen momentan zu heiß. Vielleicht würden sie Sie und die Franzosen zurück eskortiert, wenn die dafür mehr geboten hätten. Konnte der Herr Lafontaine aber nicht, weil er nicht so viel dabei hat. Sie wissen ja, nur Bares ist Wahres. Dass er nicht so viel dabei hat, liegt wiederum daran, dass er nicht dachte, dass er Sie zurückbringen muss. Normalerweise wären Sie jetzt schon tot. Standrechtlich erschossen. Ihre Erpressung hat ihn bewogen, anders zu entscheiden.“
„Erpressung? Ich bitte Sie.“
„Schon gut.“
„Und warum kommen Sie mit, wo es doch kein Geld gibt?“
„Bei mir ist das was anderes. Wenn ich draufgehe, ist es in den Augen der Basken kein Verlust. Auch nicht, wenn ich stiften gehe. Ich bin als Frau in deren Augen nur eine billige Magd. Eine wie mich kriegen sie überall in den Dörfern, glauben sie. Die sind nicht zimperlich, wenn es um die Rekrutierung von Frauennachschub geht. Dass ich die Soldaten zurückbegleite, war darum eigentlich von Anfang an ausgemacht. Also Teil des gebuchten Pakets. Nur konnte vor fünf Tagen niemand ahnen, dass gefährliche Gefangene transportiert werden müssen. Meine Leute interessiert die Planänderung des Leutnants nicht die Bohne. Geschäft ist Geschäft. Sie haben ihren Teil erfüllt und abkassiert. Basta!“ Sie schwieg. Wir lauschten. Nichts. Nur Schnarchen. Manchmal knisterte und knackte ein Holzscheit in den Flammen. Die Wächter würfelten und unterhielten sich leise. Ab und zu warfen sie einen Blick in unsere Richtung. Elisabeth hatte ihren Kopf fest ins feuchte Moos gedrückt. Ich konnte sie riechen, fühlte ihre Wärme. Zu sehen war sie in der Dunkelheit kaum. Der Lichtschein des Feuers drang nicht bis zu uns. Da ich nicht antwortete, begann sie erneut.
„Was ist jetzt mit Ihnen?“ Für mich war die Sache entschieden. Sie sagte es ja selbst: Wenn ich kein gefährlicher Deutscher wäre, würden wir alle erschossen. Ich durfte uns nicht in Gefahr bringen. Ich schluckte und flüsterte dann so entschieden als möglich:
„Es ist wie ich sagte. Ich bin preußischer Offizier.“
„Schade, als Holländer waren Sie mir sympathischer. Ich stamme aus Sachsen, müssen Sie wissen.“ Das kapierte ich nicht. Was ist falsch an einem Preußen, wenn jemand aus Sachsen stammt? Hatten die offene Rechnungen miteinander? Vermutlich. Vorsichtshalber sagte ich gar nichts mehr.
„Passen Sie auf, genau genommen ist es mir egal, wo Sie her sind. Viel wichtiger: Können Sie mir helfen, zurück nach Sachsen zu kommen? Wenn ja, bin ich bereit, Kopf und Kragen für Sie zu riskieren. Wenn nicht, können Sie von mir aus bleiben wo der Pfeffer wächst.“ Schwor ich einen Meineid, wenn ich ihr etwas versprach, das ich vielleicht nicht halten konnte? Andererseits, was hatte ich zu verlieren? Mynheer van Delft kannte die halbe Welt. Sicher wusste er einen Weg, die mysteriöse junge Dame nach Deutschland zu bringen, wenn sie darauf bestand. Also gab ich ihr die gewünschte Auskunft:
„Ich denke schon.“ Sie nickte kurz und verschwand so geräuschlos wie sie gekommen war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Hatte ich die richtige Antwort gegeben?
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Meine Güte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass mein Kammerdiener so ein Sensibelchen ist. Und dass er so ausführlich schreiben kann? Hut ab. Wenn ich das richtig sehe, zermartert er sich weitere zwei Seiten lang den Kopf über seine schlaflose Nacht. Höchste Zeit, dass ich unsere Geschichte ein wenig raffe. Beginnen wir am folgenden Morgen.
Wir wurden bei Tagesanbruch geweckt. Die Franzosen hatten es eilig. Mir konnte es recht sein. Je eher, desto besser. Beim Abmarsch gab es ein paar Diskussionen, weil die Banditen uns unser Gepäck und die Maultiere nicht zurückgeben wollten. Es fehlte nicht viel und ich hätte wieder Prügel bezogen. Zumindest die Zeltplane und meine Tagebücher durften wir dann aber doch behalten. Die Zeltplane, weil auch die Franzosen sie für eine erneute Überquerung des Gebirgskammes als sinnvoll erachteten und die Papiere wegen der darin vermuteten militärischen Geheimnisse. Leider weder Tinte, noch Feder oder Bleistift. Ganz zu schweigen von meinem Kleiderkoffer. Ärgerlich.
Ich grübelte ernsthaft, wie ich in Frankreichs Süden auf die Schnelle einen guten Schneider wenigstens für die dringendste Garderobe finden sollte. Gehrock, Frack, Hemden, Lackschuhe und so weiter. Mit der zusammengenwürfelten Winterkluft, die ich am Leibe trug, konnte ich mich unmöglich bei zivilisierten Menschen sehen lassen. Weder unter der Guillotine noch in der Hitze Spaniens. Sollte ich bis Paris zurückreisen müssen, nur um mich neu einzukleiden! Mal abgesehen davon, dass mir die Vagabunden all meine Bargeldreserven abgeknöpft hatten. Eine unangenehme Situation.
Zum Transport wurde uns schließlich eines meiner Maultiere bewilligt. Immerhin. Genug Proviant für mindestens drei Tage bekamen wir außerdem eingepackt. Womit deutlich wurde, dass unsere Bewacher sämtliche infrage kommenden Siedlungen weiträumig zu meiden gedachten. Trübe Aussichten.
Vom nächtlichen Besuch bei Fridolin hatte ich nichts mitbekommen und so war ich einigermaßen überrascht, als die Freischärler mit Ausnahme unserer jungen Führerin im Lager zurückblieben. Meist mussten wir im Gänsemarsch laufen. Vornweg das Mädchen, dann Leutnant de Lafontaine, danach das Maultier, Fridolin, ein Sergeant, Dr. Ingmarson, ich und am Schluss der zweite Sergeant. Wobei der Begriff „laufen“ für diesen Marsch eigentlich der falsche Ausdruck ist. Wir kraxelten, kletterten, stolperten, rutschten, um nur einige passendere Verben zu erwähnen. Immer die Bajonette und Gewehrläufe der Soldaten im Rücken. Einige Male hätte mich mein Sergeant fast versehentlich aufgespießt, weil er das Gleichgewicht verlor. Unangenehme Vorstellung.
Gott sei Dank hatte der Leutnant sein Versprechen gehalten und uns die Handfesseln wieder abgenommen. Gebunden hätten wir uns nirgends richtig festhalten können. Wer die Schluchten und Steilhänge der Pyrenäen kennt, weiß, dass fehlender Halt dortzulande schnell das Ende bedeuten kann. Zwischenzeitlich bestand unsere Führerin deshalb sogar darauf, eine Seilschaft zu bilden. Dabei blieben die Hände frei, der Strick um den Bauch half jedoch, unterwegs niemanden durch einen Fehltritt zu verlieren. Die Idee fanden unsere Franzosen so großartig, dass sie uns die Seile fortan dauerhaft umgebunden ließen. Hoffnungen auf spontane Ausbruchsgelegenheiten konnte ich damit natürlich endgültig fahren lassen.
Die kommende Nacht verbrachten wir in einer Talsenke. Unsere Plane ließ die Freischärlerin zwischen riesigen Felsblöcken aufspannen, gewaltigen Brocken, die wohl von einem höher gelegenen Felsmassiv abgebrochen, abgestürzt und in der Senke liegengeblieben waren. So erhielten wir ein geschütztes Plätzchen, an dem die Soldaten ein wärmendes Feuer entfachten. Da wir wieder gefesselt wurden und die Franzosen es nicht riskierten, uns allein zu lassen, beziehungsweise es für unter ihrer Würde hielten, zu arbeiten, wenn sich eine Magd im Tross befand, musste das Mädchen Brennholz suchen. Sie ertrug die Schikane klaglos. Allerdings bemerkte ich, wie sie einige Male Blicke mit Fridolin tauschte. Ich wurde aus dieser Esmeralda nicht klug. Führte sie etwas im Schilde? Und wenn ja, was? Welche Rolle spielte Fridolin dabei?
Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871
Um ehrlich zu sein, hatte ich in jenen Tagen im Gebirge mit mir und meinem Leben abgeschlossen. Ich verstand nur wenig von den Dingen, die um mich herum vorgingen. Nur eben, dass man uns für Spione hielt und früher oder später zu erschießen gedachte. Reden durften wir nicht miteinander. Am meisten litt ich allerdings, weil ich meine gesamten wissenschaftlichen Instrumente eingebüßt hatte.
Gut, die Abschriften vom Skessuhorn, die hatten die Verbrecher nicht behalten wollen. Zum Glück. Zum Unglück galten den Franzosen meine Runen, arabischen Symbole und lateinischen Übersetzungen vermutlich als Geheimschrift, die ihre Experten in Paris entschlüsseln sollten. Nun würden sie darin zwar nicht das finden, worauf sie aus waren, aber genau genommen hatten sie einen Schatz gewonnen, von dessen Ausmaß sie sich vorderhand keinerlei Vorstellung machten. Ich glaubte allerdings sicher, dass die französischen Spezialisten die Brisanz meiner Informationen schnell erkennen würden. Womit die Macht Kassandras definitiv in die falschen Hände geriete. Ich kenne kein skrupelloseres Regime als das dieses dekadenten Nachkommen des großen Bonaparte. Wann der nächste Krieg ausbräche, schien mir nurmehr eine Frage der Zeit. Bekanntlich behielt ich recht.
Um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken, brütete ich fortan Tag und Nacht über gewissen Passagen aus Kassandras Vermächtnis, deren tieferen Sinn ich bislang nicht ergründen konnte. Eine Arbeit, für die ich meine Papiere nicht benötigte. Ich kannte inzwischen nahezu den gesamten Text auswendig.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Angeber. Von wegen Tag und Nacht gebrütet. Während uns die Soldaten im Wechsel bewachten, schnarchte mein guter Doktor, dass es schauerlich von den Bergen widerhallte. Ich übertreibe. Aber glauben Sie mir, der Mann hat einen gesunden Schlaf. Fast wie Schecki, die kleine Schnarchnase. Pardon, den vergaß ich zu erwähnen. Der Hund musste nicht lang nachdenken, als er sah, dass die beiden einzigen Menschen, die sich um ihn kümmerten, das Lager der Freischärler verließen. Ohne zu zögern schloss er sich uns an. Ich habe zwar normalerweise nicht viel für Hunde oder Katzen übrig. In unserer damaligen Lage allerdings beruhigte die Begleitung des unschuldigen Tierchens meine angespannten Nerven.
Der zweite Tag unserer Wanderung verlief kaum anders als der erste. Die Franzosen verhinderten konsequent jedes Gespräch. Infolgedessen waren sie in dem unwegsamen Gelände dermaßen mit unserer Beaufsichtigung, ihren zu langen Gewehren und dem Bemühen beschäftigt, nicht zu stürzen, dass ihnen ein interessantes Detail entging. Unsere Marschrichtung hatte sich seit dem Mittag kaum merklich Stück für Stück geändert. Statt weiter nach Norden zu gehen, schwenkten wir nach und nach in Richtung Süden.
Mir war das früh aufgefallen. Ich hütete mich jedoch, ein Wort darüber zu verlieren. Eine kurze Bemerkung Fridolins am Morgen und ein Blickkontakt mit ihm und Esmeralda nachmittags, als die Veränderung immer offensichtlicher wurde, machten mir deutlich, dass dies kein Zufall sein konnte.
Unser schmucker Gardeleutnant, der in Gedanken wohl schon seine Beförderung durchspielte, sprach Esmeralda erst in den Abendstunden auf den Richtungswechsel an. Da befanden wir uns bereits auf der Suche nach einem Lagerplatz. Sie erklärte ihm kurz angebunden in gebrochenem Französisch, dass er gern eine kürzere Route wählen könne, wenn er sich hier so gut auskenne. Sie für ihren Teil habe keine Lust, sich auf vereisten Steilhängen das Genick zu brechen. Schüchtern wagte der Offizier einzuwenden, dass der Junge auf dem Hinweg seiner Erinnerung nach anders gelaufen sei. Esmeralda zuckte mit den Schultern und meinte, möglicherweise kenne der Schleichwege, die ihr unbekannt seien. Sie habe den Auftrag, uns alle sicher ins Tal zu geleiten und das könne sie eben nur da, wo sie Bescheid wisse. Damit war die Sache erledigt. Der Franzose gab sich zufrieden.
Innerlich musste ich über das erstaunliche Selbstbewusstsein des Mädchens schmunzeln. Oben, unter der Fuchtel der alten Vettel, hatte sie auf mich eher schüchtern gewirkt. Wie man sich in einem Menschen täuschen kann.
Der Doktor bekam von all dem nichts mit. Er trottete gedankenverloren vor sich hin. Fast fürchtete ich um seinen seelischen Zustand. Allein, ein gelegentliches Aufleuchten seiner Augen, verbunden mit tonlosen Lippenbewegungen sagten mir, dass sein Geist sich schlicht und ergreifend aus der unerfreulichen Gegenwart in die vergangenen Gefilde seiner geliebten Kassandra zurückgezogen hatte. Das würde sich wieder geben.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Als wir am neuen Lagerplatz ankamen, begann Elisabeth sofort, unsere Zeltplane aufzuspannen. Ich sollte ihr helfen. Den Soldaten war es recht. Die Männer sahen ziemlich erschöpft aus. Sie setzten sich, neckten Schecki und beobachteten uns müde. Unsere Führerin hatte einen ähnlichen Flecken wie am Vortag ausgesucht. Mit riesigen, einzeln herumliegenden Felsbrocken. Um die Plane fest zu verzurren, mussten wir um diese Steinhaufen herum laufen. Dahinter konnten uns die Soldaten nicht sehen. Gelegenheit für Elisabeth, mich in ihren Plan einzuweihen.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Geht so.“
„Ich hab extra eine schwierige Route gewählt, damit die Jungs heut Nacht gut schlafen. Natürlich wird immer einer Wache halten. Den lenke ich ab. Wenn sie es so wie gestern machen, ist die dritte Wache der lange dürre Sergeant. Der hat ein Auge auf mich geworfen. Schaffen Sie es, so lange munter zu bleiben?“
„Ich weiß nicht. Glaub schon.“
„Notfalls trete ich Ihnen irgendwie auf den Fuß, wenn es los geht. Nehmen Sie das Messer hier.“ Sie reichte mir ein schmales Stilett. „Stecken Sie‘s in den Stiefel. Ich denke, Sie kriegen es hin, sich damit die Fesseln durchzuschneiden?“
„Sicher.“ Das stimmte zwar nicht, denn wo hätte ich sowas lernen sollen? Ich bin doch kein Entfesselungskünstler. Aber was sollte ich sagen? Zaghaft wagte ich eine Nachfrage: „Und was machen wir mit den Franzosen?“ Sie sah mich erstaunt an.
„Wollen Sie die Herren zum Tanz auffordern oder was?“
„Nein, das nicht, nur …“ Wir mussten unsere Unterhaltung bis zum nächsten Felsen unterbrechen. Die Soldaten wären sonst misstrauisch geworden. Sobald wir wieder außer Sicht waren, fauchte sie mich an.
„Was soll das? Wollen Sie den Helden spielen und mit drei Gefangenen durch die Berge pilgern? Heiliger Santiago de Compostela! Kräftige junge Soldaten, bewacht nur von uns beiden? Die zwei halbtoten Zivilisten zählen ja wohl nicht, oder? Also wenn das Ihr Ernst ist, wären Sie ja noch dümmer als unser eitler Gardeleutnant. Soll ich Sie hier halbwegs sicher raus und nach Spanien bringen oder nicht?“
„Schon …“
„Dann müssen wir kurzen Prozess machen. Es geht nicht anders. Sie stechen die beiden Schläfer ab, ich mach den Wächter fertig. Wenn einer von uns beiden Probleme bekommt, hilft der andere. Solange wir in den Bergen sind, wird nach meinen Regeln gespielt. Unten in der Ebene dürfen Sie gern das Kommando übernehmen. Das Risiko ist auch ohne Heldenoper hoch genug und jetzt weg hier, sonst wird de Lafontaine vor der Zeit misstrauisch.“
Ja, es wurde höchste Zeit. Prompt kam der lange, dürre Sergeant, von dem sie gesprochen hatte, um die Ecke geschlendert, um nach uns zu sehen. Es war der Dolmetscher. Elisabeth schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und bat ihn, ihr aufzuhelfen. Sie hatte recht, der Kerl fraß ihr aus der Hand. Ich machte, dass ich in die Nähe von Mynheer van Delft kam. Ich musste mich mit ihm beraten. Denn ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Menschen getötet. Schon gar nicht im Schlaf. So etwas stand nicht in meinem Arbeitsvertrag.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Das hätte ich auch nie in einen Arbeitsvertrag geschrieben! Fridolin ist ein Witzbold. Aber als er damals nach dem Zeltaufbau zu uns kam, war ihm ganz sicher nicht nach Scherzen zumute. Er sah richtig schlecht aus. Ich ahnte, dass sein Zustand nicht von den Anstrengungen des Tages herrührte.
Zum Glück standen unsere Bewacher wirklich am Rande der absoluten Erschöpfung. Sie waren jetzt sechs bis sieben Tage fast pausenlos auf den Beinen. Im Gegensatz zu uns hatten sie aber außerdem Waffen, Munition, den üblichen Tornister mit Spaten, Decken, Essgeschirr und so weiter zu schleppen. Und sie mussten seit zwei Tagen aufpassen, dass wir keine Dummheiten machten. Dazu die kalte, dünne Höhenluft und die ständige Kletterei. Es wunderte mich gar nicht, dass sie es an diesem Abend etwas ruhiger angehen ließen. Sie waren überzeugt, dass es uns nicht besser ging als ihnen und nach diesem harten Tag folglich kein Fluchtversuch zu erwarten sei. Sobald sie uns die üblichen Fesseln angelegt hatten, ließen sie uns links liegen. Zum ersten Mal, seitdem sie bei den Freischärlern aufgekreuzt waren, ignorierten sie uns nahezu komplett. Sie setzten sich ans Feuer. Wenn ich das richtig sah, spendierte der Leutnant zur Feier des Tages sogar eine kleine Ration Branntwein oder etwas in der Art. Esmeralda hielt mit und holte aus ihrem Proviantbeutel eine Flasche Rotwein, die sie großzügig mit den Franzosen teilte.
Zum ersten Mal seit zwei Tagen fanden wir also Gelegenheit, miteinander zu reden. Der Doktor fiel aus allen Wolken, als er von dem Plan hörte. Allerdings beruhigte er sich schnell. Seine größte Sorge galt den Abschriften.
Für mich stand selbstverständlich fest, dass ein heimtückischer Mord nicht infrage kam. Nur was dann? Zweifellos hatte Esmeralda oder Elisabeth oder wie sie heißen mochte recht mit ihren Bedenken. Wir konnten die Burschen unmöglich weiter mit uns nach Spanien schleppen. Vorausgesetzt, das Mädchen brachte uns wirklich dahin und das ganze Manöver war nicht nur ein Bluff. Was tun?
Die einzige Alternative, die mir in den Sinn kam, war folgende: Fridolin musste als Erstes nicht nur sich selbst sondern auch den Doktor und mich befreien. Gemeinsam konnten wir den Wächter überwältigen und dann die beiden Schläfer binden. Morgen würden wir die Soldaten hier zurücklassen, den Ort irgendwie markieren und im nächsten Dorf Bescheid sagen. Die Bauern konnten die Eindringlinge dann einer gerechten Strafe zuführen oder sie wieder nach Hause schicken. Je nach dem. Natürlich mussten wir ihre Waffen sicherstellen. Wenigstens, so lange, bis wir spanischen Boden betraten.
Gesagt getan. Irgendwann spät in der Nacht, es dürfte so gegen drei in der Frühe gewesen sein, rüttelte es an meiner Schulter. Fridolin. Im Handumdrehen hatte er meine Fesseln gelöst. Elisabeth saß am Feuer und küsste den Sergeanten dass dem Hören und sehen verging. Seine Kopfbedeckung lag achtlos neben ihm. Während Fridolin um den Leutnant herum zum Doktor schlich, griff ich mir einen großen flachen Stein. Den hatte ich mir am Abend wohlweislich bereitgelegt. Ich schlich zu den beiden Turteltäubchen und hieb dem Sergeanten meinen Felsklumpen auf den Schädel. Er war sofort betäubt. Jedenfalls hoffte ich, nicht zu derb zugeschlagen zu haben. Über dem ganzen Hin und Her erwachte allerdings der Leutnant. Und zwar noch bevor Fridolin den Doktor völlig losgeschnitten hatte. Er sprang auf, griff nach seinem Gewehr. Eine Sekunde zu spät. Elisabeth rammte ihm das Bajonett ihres Verehrers in die Brust. Den zweiten Sergeanten, der nun auch aufwachte, packte Fridolin am Kragen. Er wagte keinen Widerstand. Ich band ihm Hände und Füße zusammen. Gerade so, wie er es zuvor mit uns getan hatte. Fridolin durchsuchte ihn nach Messern oder ähnlichen Gegenständen, mit denen er sich hätte befreien können.
Unsere kleine Retterin fauchte ziemlich ärgerlich, warum wir uns nicht an ihren Plan gehalten hätten. Sie wäre mit dem Knaben am Feuer locker allein fertig geworden. Ich wies sie nicht weniger ungehalten darauf hin, dass der Mann nur betäubt sei und dass auch der Leutnant nicht gleich hätte abgeschlachtet werden müssen. So etwas gehöre sich einfach nicht unter Christenmenschen. Sie sah das anders und meinte, wir hätten den Erfolg des ganzen Unternehmens aufs Spiel gesetzt. Leider mussten wir unseren Disput fürs Erste abbrechen, denn der Dolmetscher erwachte und es wurde höchste Zeit, auch ihn zu fesseln.
Natürlich legten wir uns danach nicht mehr schlafen. Elisabeth erzählte uns am Feuer ihre Geschichte. Eine traurige Sache. Sie lebte jetzt seit fast sechs Jahren mit den Freischärlern und hatte dort wohl mehr durchmachen müssen als sich die meisten Frauen ihres Alters überhaupt vorstellen können. Eigentlich stammte sie aus Deutschland, aus Sachsen. Ihr Vater war Pflanzenkundler gewesen. Er arbeitete für den botanischen Garten einer Universität. Sie hatte ihn und seinen Assistenten auf eine Forschungsreise begleiten dürfen. Damals war sie gerade 13 Jahre alt geworden.
Ähnlich wie wir jetzt waren die deutschen Wissenschaftler der „Baskischen Befreiungsarmee“ in die Hände gefallen, die für die drei Lösegeld forderten. Irgendwie ging dann aber alles schief und bei einem Befreiungsversuch wurden ihr Vater und der Assistent getötet.
Das Mädchen behielten die rauen Burschen danach als Entschädigung für ihr entgangenes Lösegeld. Noch in derselben Nacht, in der ihr Vater vor ihren Augen getötet wurde, verlor sie die Jungfräulichkeit. Ein abscheulicher Gedanke. Ich verstand langsam, wie sie so hartherzig und gnadenlos werden konnte. Wenngleich ich ihr Verhalten nicht guthieß.
Da Elisabeth damals als Dreizehnjährige allein völlig unmöglich hätte eine Flucht wagen können, nahm sie ihr Schicksal an. Heute gehöre sie zur Truppe, erzählte sie uns. Allerdings maß man ihrer Anwesenheit inzwischen keine große Bedeutung mehr bei. Wie schon bei Fridolin erwähnt, konnten sich die Banditen jederzeit neue Frauen aus den Dörfern der Gegend rauben. Was sie zuweilen auch taten. Als Ehefrau kam unsere Retterin mit ihrer erzwungenermaßen unkeuschen Vorgeschichte für die streng gläubigen Helden nicht mehr infrage. Armleuchter!
Elisabeth nutzte die Freiräume, die sich aus der wachsenden Gleichgültigkeit der Männer ihr gegenüber ergaben, und lernte von ihnen viel über Land und Leute. Aber auch über den Gebrauch von Waffen, Kampftechniken und so weiter.
Heute, mit 19 Jahren und profunder Ortskenntnis, könne sie sich theoretisch allein irgendwie in die Zivilisation durchschlagen, erklärte sie selbstbewusst. Aber ohne Pass, Geld oder sonstige Papiere? Die Behörden kannten ihr Gesicht wahrscheinlich von verschiedenen Überfällen, an denen sie als Lockvogel hatte teilnehmen müssen. Vielleicht sei mittlerweile auf ihren Kopf eine Prämie ausgesetzt. Das wisse sie nicht so genau. Dass sie aus Deutschland stamme, erleichtere die Angelegenheit nicht gerade. Wir hätten ja selbst gemerkt, dass es in Frankreich neuerdings reiche, deutsch zu fluchen, um sich verdächtig zu machen.
Das Mädchen tat mir leid und ich versprach, ihr im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen. Wir mussten sie nun unsererseits über die tatsächlichen Verhältnisse aufklären. Sie war zwar zunächst über Fridolins Lüge empört, verstand aber seine Gründe und vertraute meinem Wort. Ich hatte ohnehin auf unserem Weg nach Granada einen Zwischenhalt in Madrid vorgesehen. Dort gab es meines Wissens eine preußische Gesandtschaft, die Elisabeth weiterhelfen konnte.
Ich für meinen Teil wollte in der spanischen Hauptstadt einen Geschäftspartner aufsuchen. Pedro Morales. Ich hatte dem Mann unser Kommen von Rotterdam aus telegrafisch ankündigen lassen. Sein geschäftlicher Schwerpunkt lag auf lateinamerikanischen Produkten wie Kaffee oder Kautschuk. Mit Pedros Rückendeckung würde uns eines der großen spanischen Bankhäuser gewiss aus dem Schlamassel helfen. Ich stand nach dem Überfall bekanntlich gewissermaßen nackt da. Einzig den Pass hatten mir die Freischärler gelassen. Darauf musste ihr Auftraggeber mit Blick auf weitere Untersuchungen seiner Vorgesetzten bestehen. Meinen Begleitern ging es nicht besser. Woraus sich die nächste Frage ergab: Wie sollten wir unter diesen Umständen überhaupt bis Madrid kommen?
Schweren Herzens stimmte ich zu, die Taschen des jungen Gardeleutnants zu durchforschen. Sie enthielten nicht viel. Zusammen mit dem Erlös, den uns unsere Plane, die Pelzjacken, die Gewehre und das Maultier unten im Tal einbringen würde, reichte unser Vermögen knapp für die Postkutsche und ein wenig trocken Brot. Bevor wir aufbrachen, setzten wir Leutnant de Lafontaine in einem Grabhügel aus aufgeschichteten Steinen bei.
Bis zur spanischen Grenze war es von unserem Nachtlager aus nur noch ein Tagesmarsch. Elisabeth hatte die Route gut gewählt. Deshalb ordnete ich an, unsere beiden Gefangenen allen Gefahren zum Trotz nicht zurückzulassen. Mir war daran gelegen, dass sie ihre Familien gesund wiedersahen. Ich wollte den Franzosen zeigen, was es bedeutete, ein niederländischer Handelsherr zu sein. Unbezwingbar aber großzügig und freigeistig. Davon konnten sich diese Paranoiker eine Scheibe abschneiden. Bevor wir unsere beiden Sergeanten bei der spanischen Guardia Civil ablieferten, bläute ich ihnen unsere Botschaft gründlich ein: Wir sind keine Spione sondern ehrbare Händler und Wissenschaftler. Mit besten Grüßen an die Herren Vorgesetzten.
Fünf Tage nach jener denkwürdigen Nacht, am 6. Juli 1870, einem Mittwoch, erreichten wir wohlbehalten Madrid. Gesund und ohne nennenswerte Widrigkeiten. Dem Herrn im Himmel sei Dank!