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Es riecht nach Krieg

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Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 2. Juni anno Domini 1870, Rotterdam, in meinem Schlafgemach

Mein Gott, zwei Wochen, vergangen wie im Fluge. Seit dem Abend in Leiden komme ich nicht mehr zur Ruhe. Ich werde zwischen meinen kaufmännischen Verpflichtungen, den wissenschaftlichen Belangen des Doktors und unseren Reisevorbereitungen regelrecht zerrissen. Wenigstens konnte ich Ingmarson nun endgültig aus seinem Dienst entlassen und gegen einen echten Lakaien tauschen. Für mein geliebtes Tagebuch fehlte mir abends die Kraft. Deshalb vorab ein kurzes Resümee:

Von Leiden holte uns gegen Mittag des 21. Mai die Kutsche ab. Jasper hatte einen Jagdwagen geschickt. Ein erneuter Beweis, dass mein Kontorist ein kluger Kopf ist. Ich liebe diese schnellen Gefährte. Der größte Teil unseres Gepäckes war auf der „St. Egidius“ geblieben. Der Himmel zeigte sich zur Begrüßung in der Heimat freundlich, fast wolkenlos. Beste Voraussetzungen für eine fröhliche Tour im leichten, offenen Wagen. Schneller kommt man nur voran, wenn man selbst reitet.

Nach der langweiligen Schiffspassage genoss ich das flotte Tempo und den warmen Frühlingswind um die Ohren. Die Dampfeisenbahn soll zwar ähnliche Geschwindigkeiten erreichen aber von Leiden führt keine direkte Verbindung nach Rotterdam. Überhaupt messen meine Landsleute dem Thema Bahn bislang wenig Bedeutung bei. Die meisten Güter werden nach wie vor auf Kanälen transportiert. Ob das mit Blick auf künftige Entwicklungen klug ist, sei dahingestellt. Außerdem sagen die Leute, störe bei so einem Dampfross der ewige Qualm und Ruß. Vielleicht sollte ich es irgendwann selbst ausprobieren. Aber für den Moment? Nein, besser ging‘s nicht. Erst die guten Neuigkeiten von Tarik, dann die rasante Fahrt durch blühende Wiesen und Felder. Das Getrappel der Hufe und das Klappern der unzähligen Windmühlen, an denen wir vorüber kamen.

Unterwegs schmiedeten Doktor Ingmarson und ich bereits eifrig Pläne, wie uns unser weiterer Weg nach Granada führen sollte. Denn nach Tariks Erzählungen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will, sind wir uns nahezu vollständig sicher, dass genau dort die Trollhexe zu finden sein muss. Wobei ich den Namen „Trollhexe“ nicht mehr verwenden darf. Ingmarson bat mich darum. Soviel wir bisher über die Wahrsagerin in Erfahrung bringen konnten, neigt er dazu, sie ein für allemal „Kassandra“ zu nennen. Er ist in das Weib regelrecht vernarrt. Dabei kennt er sie gar nicht persönlich. Ich lasse ihm seinen Willen. Er hat ja recht. Ehre, wem Ehre gebührt.

In Rotterdam angekommen, erwartete mich eine böse Überraschung. Neue Einfuhrbeschränkungen und Zölle für maritime Erzeugnisse, die nicht von holländischen Fischern stammen. Egal, ob sie hierzulande überhaupt zu erlangen sind oder nicht. Gieriges Bürokratenpack! Sogar mit meinen Robbenpelzen erziele ich nur mäßige Gewinne. Einerseits überschwemmen wieder einmal die Russen den Markt mit billigen Rauchwaren, andererseits verdirbt die Rivalität zwischen Preußen und Franzosen jegliches Börsengeschäft. Es riecht nach Krieg. Die spanische Krone ist vakant. Beide Großmächte wittern ihre Chance. Sie lassen die Muskeln spielen.

In ihrer Angst agieren unsere Händler vorsichtig. Wenigstens bei Luxusgütern. Sowohl der Norddeutsche Bund als auch das französische Kaiserreich sind wichtige Absatzmärkte. Ihr schwelender Konflikt schneidet uns vom Rest des europäischen Festlandes ab. Ich hätte meinen Pittsburgher Stahl lieber direkt nach Hause bringen sollen. Eisen erzielt in unruhigen Zeiten immer höchste Preise.

Am enervierendsten benimmt sich allerdings mein lieber Dr. Frans Ingmarson. Seitdem er wieder Herr seiner selbst ist, überschwemmt er mich fast täglich mit Sonderwünschen: Schaufeln, Lupen, Pinzetten, Kerzen, Fackeln, Papier, Bleistifte und weiß der Kuckuck was alles. Ich habe ihm jetzt ein festes Budget gesetzt. Mit dem muss er auskommen. Außerdem habe ich ihm einen meiner Lagerarbeiter zugewiesen, der ihm den ganzen Krempel schleppen hilft. Bis zur Abreise.

Unsere Reisegesellschaft selbst soll möglichst klein bleiben. Arbeitskräfte und sonstige Helfer werden wir sicher vor Ort finden. Tarik hat uns einen Begleitbrief an seine Verwandten mitgegeben. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wird er obendrein einen Boten voraussenden. Also reicht es, wenn uns mein neuer Kammerdiener begleitet.

Der Knabe heißt Fridolin und genauso sieht er aus. Pausbäckig, rotblond mit Stubsnase und Sommersprossen. Keine Schönheit. Ich muss ihn mal fragen, ob seine Mutter aus Irland stammt. Väterlicherseits ist er wohl Deutscher. Sein Familienname lautet Bergmann. Allerdings spricht er akzentfrei niederländisch, weswegen ich es bei seinem Vorstellungsgespräch versäumte, ausdrücklich zu fragen. Muss ich demnächst nachholen.

Fridolin ist etwa fünfzehn Jahre jünger als ich, Mitte zwanzig. Er versteht sein Handwerk blendend. Ein Mann, passend für unsere Zwecke. Jedenfalls auf den ersten Eindruck. Für eine anstrengende, langwierige Reise brauche ich keinen distinguierten Butler englischen Zuschnitts, der sich die Hände nicht schmutzig macht und bestenfalls das Personal zu kujonieren versteht. Wir brauchen einen Menschen mit Herz und Verstand, einer Portion Abenteuerlust und kräftigen Muskeln. Auf diese Arbeitsplatzbeschreibung passte Fridolin von allen Bewerbern am besten.

Ich hoffe, dass wir bald zum Aufbruch bereit sind. Warum die Eile? Ganz klar, jetzt, wo schon so viele von unserem Vorhaben wissen, könnte es auf jede Stunde ankommen. Nur wenn wir die ersten sind, die Kassandra finden, werden wir Nutzen aus dem Geschäft ziehen. Außerdem bin ich neugierig, wie die Geschichte ausgeht.

Gott sei Dank muss ich mich nicht um Johanns Verwandte kümmern. Die wissen noch gar nichts von ihrem „Glück“. Sie wohnen draußen in der Provinz und bekommen nicht viel mit von dem, was bei uns in der Stadt passiert. Jasper wird ihnen am Sonntag einen Kondolenzbesuch abstatten und bei der Gelegenheit Johanns zurückgelassene Habseligkeiten und von mir einen Scheck überreichen.

Tagebuch des Dorian van Delft Sonntag, 5. Juni anno Domini 1870, Rotterdam, in meinem Schlafgemach

Immer noch daheim. Es ist wie verhext. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ständig türmen sich neue Hindernisse auf, die der Reise entgegenstehen. Ob die Trollhexe, pardon, Kassandra, nicht will, dass wir sie finden? Mal hängt es an Visums- oder Zollformalitäten, dann wieder meldet sich unverhofft ein wichtiger Geschäftspartner, dessen Anliegen keinen Aufschub duldet. So wie es aussieht, sitzen wir mindestens weitere vierzehn Tage in Rotterdam fest. Es ist zum Haare raufen. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.

Tagebuch des Dorian van Delft Montag, 20. Juni anno Domini 1870, Flandern, in einer Postkutsche,

Vor ein paar Minuten haben wir die belgische Grenze passiert. Endlich! Es ging ohne größere Verzögerungen ab. Die Mühen der vergangenen Wochen waren nicht umsonst. Mein Kontorist hat einfach an alles gedacht. Die Papiere sind tadellos. Am interessantesten fanden die Zöllner unsere vielen Arbeitsutensilien. Weil sich Frans Ingmarson jedoch als Archäologe ausweisen konnte und unser Reiseziel nicht in Belgien liegt, verzichteten die Beamten auf langes Prozedere.

Wir haben uns für den Landweg entschieden. Zum einen wegen der Anfälligkeit meines Wikingers bei Wellengang, zum anderen gibt es eine Eisenbahnlinie von Brüssel nach Paris und von da weiter nach Südfrankreich. Praktisch gesprochen:

Wir erreichen Brüssel voraussichtlich gegen Abend. Von dort nehmen wir ein Schlafwagenabteil im Nachtzug und sind schon am nächsten Morgen in Paris. Jasper hat die Billetts telegrafisch bestellt. Unglaublich, was mit moderner Technik alles möglich ist. In Paris kümmern wir uns um eine schnelle Anschlussverbindung und wenn alles gut geht, sind wir in zwei Tagen in den Pyrenäen. Das schafft kein Schiff und keine Kutsche! Ich freue mich auf meine erste Zugfahrt. Bin gespannt, ob ich in so einem stählernen Ungetüm schlafen kann.

Wie heute Morgen in der Zeitung stand, hat Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen gestern erklärt, er sei bereit, die spanische Krone anzunehmen. Es ist ja nun schon die zweite Offerte der Madrider Übergangsregierung nach Ende des Bürgerkrieges. Ich nehme an, Bismarck hat ihm in den Allerwertesten getreten, damit er nicht wieder kneift. Napoleon wird schäumen! Hoffentlich beeinträchtigt der Thronstreit nicht unsere Pläne.

Tagebuch des Dorian van Delft Mittwoch, 22. Juni anno Domini 1870, im Zug von Paris nach Toulouse

Grandios! Wir fliegen förmlich über Felder und durch Wälder dahin. So schnell schafft das kein Jagdwagen der Welt. Nicht mal vierspännig. Und dabei ist so eine Eisenbahnfahrt erstaunlich ruhig. Nur das sanfte klack-klack, klack-klack der Schienenstöße spürt man. Aber das ist nicht halb so enervierend wie das Geholper einer Kutsche auf Kopfsteinpflaster oder gar ungepflasterten Waldwegen.

Wir reisen natürlich erster Klasse. Jedenfalls Doktor Ingmarson und ich. Fridolin sitzt hinten in der vierten Klasse. Ganz in der Nähe des Gepäckwagens. Von dort aus kann er besser die Verladung unserer Koffer überwachen. Er hatte bislang wenig Arbeit. Überall wo wir hinkamen standen sofort dienstbare Geister auf dem Perron, die beim Ein- und Ausladen behilflich waren.

Ich habe von Paris aus die östliche Route über Andorra gewählt, obwohl die etwas länger ist. Das kleine Pyrenäenfürstentum fehlt mir bislang in meiner persönlichen Sammlung kurioser Reiseziele. Außerdem scheint mir die dortige Passstraße zuverlässiger. Im Westen machen seit ein paar Jahren baskische Sezessionisten die Gegend unsicher.

Uns gegenüber im Abteil sitzt eine elegante Pariserin mit ihrer Zofe. Sehr aparte Person. Doktor Ingmarson hat sie gleich in ein kleines Gespräch verwickelt. Irgendwie schreckt der Kerl vor nichts zurück. Ich hätte mich nie getraut, die Dame ohne vorherige offizielle Vorstellung anzusprechen. Aber so sind diese Intellektuellen. Keine Manieren. Zum Glück. Die Französin zeigte sich ihrerseits keineswegs schüchtern. Typisch! Die Folge ist eine äußerst angeregte und amüsante Unterhaltung, aus der ich mich gerade für ein paar Minuten heraushalte, um meiner Chronistenpflicht in eigener Sache Genüge zu tun. Wenn der Doktor redet, komme ich sowieso nicht zu Wort.

Madame ist auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Toulouse. Ein paar Wochen ausspannen vom Pariser Trubel der vergangenen Ballsaison, sagt sie. Der Herr Gemahl käme nach, sobald er seine Geschäfte beendet habe. Sommerfrische nenne sich so etwas. Also einfach nur verreisen, zum Vergnügen. Das sei der neueste Schrei in den besseren Kreisen.

Sachen gibt es! Ist das nun der endgültige Verfall der Sitten oder vielleicht der Beginn eines goldenen Zeitalters? Ich weiß es nicht. Aber im Ernst, welcher normale Mensch, der nicht gerade wie ich Reisen und Beruf miteinander verbinden kann, ist in der Lage, sich so eine Sommerfrische zu leisten? Wenn beispielsweise einer meiner Lagerarbeiter in Rotterdam sich erdreistete, eine oder womöglich gar zwei Wochen am Stück frei nehmen zu wollen, um in die Sommerfrische zu fahren, er wäre die längste Zeit bei mir angestellt! Und ich selbst? Gut, nun bin ich mit Ingmarson auf Entdeckertour. Aber diese Reise verfolgt einen hehren wissenschaftlichen Zweck und wird hoffentlich Gewinn abwerfen. Unter kaufmännischen Gesichtspunkten muss ich besagte Sommerfrische deshalb wohl für eine ziemlich dekadente Idee halten. Persönlich verhilft mir die Reise der Dame nebenan allerdings zu einem ausgesprochen unerwarteten Vergnügen. Weswegen ich an dieser Stelle meine Notizen für heute beende, um nicht unhöflich zu wirken und mich wieder am Gespräch zu beteiligen.

Nachtrag zum gestrigen Tag: Man ruht in den Schlafabteilen des Nachtzuges wirklich vorzüglich!

Tagebuch des Dorian van Delft Montag, 27. Juni anno Domini 1870, Andorra la Vella, Hotel zum Mistral

Vom 19. Jahrhundert ins Mittelalter. Unglaublich. Zwei Tage durch ganz Frankreich. Fünf die paar Meilen von Toulouse hier herauf. Unglaublich! In den Pyrenäen ist Ende Juni der Winter zurückgekehrt. Unsere Reisebedingungen sind katastrophal. Schon ab Saint-Paul-de-Jarrat gab es für Kutschen kein Durchkommen mehr. Im Tal machen überquellende Bäche und Flüsse jeden Weg nahezu unpassierbar. Weiter oben zum Pass hin taut der meterhohe Schnee nur langsam. Lawinengefahr. Wir mussten unser Gepäck auf sechs Maultiere verteilen und laufen!

Was sich hier Straße nennt, spottet jeder Beschreibung. Unsere kleine Karawane kam nur sehr langsam vorwärts und einmal mussten wir sogar in einer Scheune nächtigen. Unterwegs verloren wir zwei unserer Maulesel. Einer rutschte direkt vor mir aus. Seine Hufe fanden auf dem eisigen Grund keinen Halt, er verlor sein Gleichgewicht und stürzte in die Schlucht. Ich hatte Glück, dass mich das dumme Vieh nicht mitriss. Mit ihm verschwand ein Gutteil von Doktor Ingmarsons teuren Gerätschaften. Alle nagelneu und unbenutzt.

Das zweite Tier verendete gestern ohne ersichtlichen Grund. Es brach einfach im tiefen Schnee zusammen und blieb liegen. Ich schätze mal, dass die Kälte Schuld daran trägt. Vielleicht war es auch schon vorher krank, denn es hatte die ganze Zeit Schaum ums Maul. Es transportierte Lebensmittel sowie den Koffer mit meinem Smoking, den weißen Hemden und einigen Schreibutensilien für dieses Tagebuch. Die Lebensmittel ließen sich problemlos auf die restlichen Tiere verteilen. Nicht so besagter Koffer. Ihn liegen zu lassen oder seinen Inhalt im nassen Schnee umzupacken, kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Weil die restlichen vier Maultiere aber ebenfalls fast am Ende ihrer Kräfte waren, mussten sich eben Menschen in die Schlepperei teilen. Genau genommen zwei Menschen. Ich bestand darauf, dass Ingmarson Fridolin zuweilen ablöste. Ich brauche meinen Bediensteten lebend in Spanien. Eigentlich hätte ich deshalb gern unseren Bergführer in die Arbeit einbezogen, aber der impertinente Knabe weigerte sich strikt. Jedem anderen hätte ich bei solchem Verhalten fristlos gekündigt. In seinem Fall musste ich nachgeben. Ohne ihn hätten wir nie und nimmer den richtigen Pfad durch Matsch und Geröll gefunden. Zum Glück konnte er uns hier am Ort Ersatz für das Maultier versorgen. Der Abstieg nach Spanien ist somit gesichert.

Mir tut jeder Muskel einzeln weh. Das Atmen in der dünnen Luft fällt schwer. Der Doktor klagt auch. Wir sind solche Höhen nicht gewohnt. Einzig Fridolin scheint unbeeindruckt. Allmählich beginne ich zu bereuen, nicht das Schiff genommen zu haben.

Fast vergessen: In Ax-les-Thermes, am Fuße der Pyrenäen, erweiterte ich unsere Reiseausstattung vorsorglich um dicke Winterstiefel und warme Pelzjacken. Außerdem erwarb ich auf Anraten unseres Führers eine große Zeltplane. Der Nutzen dieser Investition erwies sich spätestens auf der Passhöhe des Port d‘Envalira. Fast zweitausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel fegte ein unsäglicher Sturm über uns hinweg. Schlimmer kann es selbst am Nordpol nicht kommen. Fast vier Stunden saßen wir, Mensch und Tier dicht bei dicht gedrängt, unter der Plane fest. Hinterher mussten wir uns mühsam aus dem schweren, fest gepressten Schneepanzer graben.

Während ich diese Erinnerungen zu Papier bringe, hocken wir am Kamin und wärmen uns mit heißem Würzwein. Unser „Hotel zum Mistral“ liegt an einer Straße die sich „Avenida Santa Coloma“ nennt. „Mistral“! Allein der Name des Wüstenwindes ist in dieser Gegend der blanke Hohn. Bei der „Avenida“ handelt es sich um einen ausgefahrenen, schlammigen Hohlweg, rechts und links von Hütten aus Naturstein gesäumt. Unser Nachtlager im „Hotel“ ist ein unbeheizter Schlafsaal. Die ganze Kneipe erinnert eher an ein Wirtshaus aus finsterer Ritterzeit. Dunkel, verräuchert, ohne Kultur. Jedenfalls wurde hier seit Karl dem Großen nicht mehr renoviert. „Hotel“, „Mistral“ und „Avenida“! Ha! Dass ich nicht lache! Die Leute in Andorra neigen eindeutig zu Hochstapelei. Drei Kreuze, wenn wir das Gebirge endlich hinter uns lassen. Gut, das Schlimmste sei überstanden, meint unser Führer. Ich hoffe, er neigt nicht ebenfalls zur Hochstapelei.

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Eine Randbemerkung im Rückblick, um nicht ungerecht zu wirken. Natürlich ist dieses kleine Fürstentum in den Bergen mit seiner trotzigen Eigenständigkeit zwischen französischen und spanischen Herren ein Eldorado für romantische Geister. Die Zeit scheint dort oben irgendwann stehengeblieben. Kirchlein und Brücken aus rohem Felsgestein sind wie für die Ewigkeit geschaffen. Der Menschenschlag in Andorra la Vella und Umgebung zeigt angesichts der rauen Witterung ein erstaunliches Stehvermögen. Allerdings waren mir solche Überlegungen damals völlig fremd. Ich war einfach nur erschöpft.

Für die folgenden anderthalb Wochen bricht mein Tagebuch wieder einmal komplett ab. Unerwartete Ereignisse zwangen mich zur Tatenlosigkeit. Im Anschluss fehlte mir die Kraft, das Erlebte sofort aufzuarbeiten. Ich versuche, das nun an dieser Stelle nachzuholen. Mit Hilfe meines kleinen Doktors, den ich gebeten habe, sich zu beteiligen. Ich werde seine Erinnerungen von Zeit zu Zeit einfügen. Selbst Fridolin war bereit, ein paar Gedanken beizusteuern. Ich habe ihm dafür heute frei gegeben. Er sitzt nebenan und schreibt.

Kehren wir also in die Pyrenäenwildnis Andorras zurück. Ich glaube, am besten lasse ich Dr. Frans Ingmarson den Anfang machen. Sein nüchterner wissenschaftlicher Blickwinkel dürfte erhellender ausfallen als mein emotional aufgeladener. Ich bin heute noch sehr erregt, wenn ich an jene Tage denke.

Dorian van Delft

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