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3. Herleitung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung

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(1) Einführung: Der unbestimmte Rechtsbegriff „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ bedarf der Konkretisierung, um auf den jeweiligen Einzelfall angewendet werden zu können. Bei der Herleitung der GoB bestehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil es sich bei den GoB nicht um ein starres System handelt. Vielmehr unterliegen die GoB im Zeitablauf Änderungen, um die Bilanzierungspraxis an die wirtschaftlichen Entwicklungen und an die sich wandelnden Auffassungen über die mit der Handels- und Steuerbilanz verfolgten Ziele anpassen zu können.

Die folgende Erläuterung zur Herleitung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung dient dem Verständnis dafür, dass sich für die Behandlung eines bestimmten Geschäftsvorgangs in der handels- oder steuerrechtlichen Rechnungslegung häufig keine eindeutige Aussage ableiten lässt. Es soll deutlich werden, weshalb ein Interpretationsspielraum unvermeidlich ist und dass sich bei einer Veränderung der Anforderungen an die Rechnungslegung der Inhalt der GoB ebenfalls ändert.

Für die Konkretisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung stehen prinzipiell drei Vorgehensweisen zur Verfügung. Entscheidend ist die teleologische Ermittlung. Die ausschließliche Anwendung der induktiven oder der deduktiven Ermittlung ist abzulehnen.

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(2) Induktive Ermittlung: Bei der induktiven Ermittlung bestimmt sich der Inhalt der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung aus dem Handelsbrauch und der Verkehrsanschauung „ehrenwerter“ Kaufleute. Es wird allerdings nicht ausschließlich darauf abgestellt, wie in der Praxis tatsächlich bilanziert wird (deskriptive Vorgehensweise), sondern vielmehr darauf, wie ordentliche und ehrenwerte Kaufleute bilanzieren sollten (normativer Ansatz). Eine unmittelbare Übernahme der Bilanzierungspraxis scheidet aus, weil ansonsten die Kaufleute zu Richtern über sich selbst werden würden: Die zur Rechenschaftslegung verpflichteten Personen würden sich die Maßstäbe selbst setzen.

Die induktive Methode ist aus mehreren Gründen problematisch: (1) Es lassen sich keine konkreten Kriterien dafür finden, wer als „ehrenwerter“ Kaufmann gilt und in welcher Weise er sich von einem „unehrenwerten“ Kaufmann unterscheidet. (2) Auch ordentliche und ehrenwerte Kaufleute stellen nur eine Partei des sich in der handelsrechtlichen Rechnungslegung widerspiegelnden Interessenkonflikts zwischen Eigentümern, Managern und Gläubigern dar. Wenn diejenigen, die die Handelsbilanz aufstellen, den Inhalt der GoB selbst bestimmen können, werden deren Interessen im Vergleich zu den Interessen der anderen Jahresabschlussadressaten stärker gewichtet. (3) Neuartige und strittige Bilanzierungsfragen bleiben so lange unbeantwortet, bis sich in der Praxis eine einheitliche Handhabung herausgebildet hat. Damit wird eine Weiterentwicklung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung erschwert. (4) Die induktive Methode ist mit dem Fiskalzweck der steuerlichen Gewinnermittlung und dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar. Da auch ehrenwerte Kaufleute ihre eigenen Ziele verfolgen, werden sie die GoB so interpretieren, dass die Belastung der erzielten Erfolge möglichst niedrig gehalten bzw so weit wie möglich in die Zukunft verlagert wird. Dies würde zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Einkünften aus Gewerbebetrieb und den anderen Einkunftsarten und damit zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung führen.

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(3) Deduktive Ermittlung: Bei der deduktiven Vorgehensweise werden die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung aus den Zielen der Rechnungslegung abgeleitet. Dieser Weg ist insofern nicht hilfreich, als sich aus dem Gesetz kein eindeutiger Zielplan ableiten lässt und auch keine einheitliche Auffassung darüber besteht, in welchem Verhältnis die mit der externen Rechnungslegung verfolgten Ziele zueinander stehen. Damit fehlen allgemein anerkannte Oberprinzipien, aus denen die einzelnen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung abgeleitet werden können. Bezogen auf die Ziele, bei denen sich eine einheitliche Meinung herausgebildet hat (Dokumentations–, Informations- und Zahlungsbemessungsfunktion), ergibt sich die Schwierigkeit, dass diese zu allgemein sind, um als konkrete Leitlinie zur Lösung spezieller Bilanzierungs- und Bewertungsfragen zu dienen.

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(4) Teleologische Ermittlung: Ausgangspunkt der teleologischen Methode ist die Charakterisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung als unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Inhalt nach den üblichen Auslegungsregeln der Rechtswissenschaft zu bestimmen ist. Bei der Interpretation der gesetzlichen Vorschriften sind heranzuziehen:

der Wortlaut und Wortsinn der handelsrechtlichen Normen, wobei auf den allgemeinen Sprachgebrauch und die fachspezifische Terminologie zurückzugreifen ist,
die Bedeutungszusammenhänge der einzelnen Vorschriften, dh die systematische Stellung im Gesetz sowie das Verhältnis zur Einblicksforderung (Grundsatz des True and Fair View) und zu anderen Einzelregelungen,
die Entstehungsgeschichte des Gesetzes,
der Wille des Gesetzgebers, wie er in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt,
die Prioritätsregeln, nach denen höherrangige Rechtsnormen (insbesondere die Verfassung) den für die handelsrechtliche Rechnungslegung relevanten (einfachen) Gesetzen vorgehen.

Das Problem bei der Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ liegt darin, dass die heranzuziehenden Rechtsmaterialien zu unbestimmt sind, um damit ein eindeutiges, allgemein anerkanntes und geschlossenes System zu entwickeln. Obwohl die teleologische Auslegung des Begriffs der GoB nicht zu intersubjektiv eindeutigen Ergebnissen führt, muss deren Inhalt konkretisiert werden, um die handels- und steuerrechtliche Rechnungslegung in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften gestalten zu können. Anhaltspunkte für diesen von jedem Rechtsanwender vorzunehmenden (subjektiven) Auslegungsprozess bilden sein Vorverständnis über den Inhalt der handelsrechtlichen Rechnungslegung sowie seine Wertentscheidungen hinsichtlich des Inhalts der einzelnen Rechtsquellen sowie des Verhältnisses zwischen sich widersprechenden Interpretationsquellen.

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Zur Konkretisierung des Inhalts der GoB sind zahlreiche, sehr unterschiedliche Quellen auszuwerten:

Gesetze (insbesondere Handelsgesetzbuch und Einkommensteuergesetz) und die dazugehörenden Gesetzesmaterialien einschließlich der Rechtsmaterialien zum europäischen Bilanzrecht,
aus betriebswirtschaftlichen Ansätzen abgeleitete Ziele der handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegung,
die Ansichten und praktischen Handhabungen der rechnungslegenden Unternehmen,
die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs sowie des Europäischen Gerichtshofs, sofern sie die Bilanzierung und Bewertung betreffen,
Stellungnahmen von Standes- und Berufsorganisationen, wie dem Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK),
internationale Rechnungslegungsgrundsätze, insbesondere IFRS und US-GAAP,
die vom Deutschen Standardisierungsrat (DSR) verabschiedeten Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS),
die Stellungnahmen weiterer an der handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegung interessierter Personen in Fachliteratur und auf Fachtagungen.

Der Rechtsanwender hat die verschiedenen Informationsmaterialien so lange auszuwerten, bis er – zumindest aus seiner Sicht – zu einem eindeutigen Ergebnis kommt.

Die teleologische Ermittlung der GoB lässt sich durch drei Merkmale kennzeichnen:

Bei der Ableitung des Inhalts der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung handelt es sich um einen mehrstufigen Erkenntnisprozess, der neben dem Rückgriff auf rechtswissenschaftliche Prinzipien ansatzweise auch Elemente der deduktiven Methode und der induktiven Ermittlung enthält. Abb. 5: Teleologische Ermittlung der GoB [Bild vergrößern]
Bei der Konkretisierung der GoB handelt es sich um einen permanenten Auslegungsvorgang, da die aus dem Vorverständnis und aus Wertentscheidungen des Rechtsanwenders abgeleiteten Lösungen beim Auftreten von neuen bilanzierungsrelevanten Geschäftsvorgängen oder beim Zugang von neuen Informationen immer wieder überprüft werden müssen. Bei einer Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen oder der Auffassung der an dem Auslegungsprozess beteiligten Personen ist es nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt der GoB modifiziert wird.
Da jeder Rechtsanwender aufgrund seines unterschiedlichen Wissens über die relevanten Einflussfaktoren und seiner durch Wertentscheidungen beeinflussten Interpretation der Materialien den Inhalt der GoB festlegt, führt der Auslegungsprozess nicht zu einem intersubjektiv einheitlichen Ergebnis, vielmehr handelt es sich (zumindest in Teilbereichen) immer auch um eine subjektive Gesetzesinterpretation. Dies ist auch der Grund dafür, dass für zahlreiche Bilanzierungs- und Bewertungsfragen unterschiedliche Lösungen vertreten werden.

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Der Vorteil der teleologischen Ermittlung der GoB besteht darin, dass bei der Ableitung von Rechnungslegungsregeln möglichst vielfältige Aspekte berücksichtigt werden. Ihr Nachteil liegt darin, dass unterschiedliche Lösungsvorschläge über den Inhalt der GoB erarbeitet werden. Dies führt dazu, dass bei vielen Sachverhalten über die Behandlung im handels- und steuerrechtlichen Jahresabschluss unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, ohne dass ein intersubjektiv nachprüfbarer Maßstab zur Verfügung steht, anhand dessen gemessen werden kann, welcher Lösungsvorschlag der „Richtige“ ist. Dieses Ergebnis ist zwar unbefriedigend, es lässt sich aber nicht vermeiden. Die mit der Aufstellung eines Jahresabschlusses vorgenommene Unterteilung der Gesamtlebensdauer eines Unternehmens in einzelne Teilabschnitte lässt sich niemals willkürfrei vornehmen.[1] Die einzelnen GoB schränken jedoch den Ermessensspielraum des Bilanzierenden ein. Im Steuerrecht wird durch eine noch stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens (Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit, § 38 AO) der Gestaltungsspielraum des Bilanzierenden weiter eingegrenzt. Dennoch wird auch bei einer Einschränkung des Maßgeblichkeitsprinzips häufig für einen konkreten Bilanzierungssachverhalt keine eindeutige Lösung gefunden. Durch eine stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens lässt sich zwar im Steuerrecht der Ermessensspielraum des Bilanzierenden reduzieren, aber niemals vollständig aufheben.

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