Читать книгу Bill & Bill - Xaver Engelhard - Страница 10

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Bill, Pierre und die Mädchen sprangen in den Fiat, fuhren gefolgt von Bernardo und seinem Chevy in die Stadt zurück und borgten sich Kostüme in dem kleinen Theater, in dem Marianna gelegentlich in aktualisierten Versionen antiker Tragödien auftrat. Es war längst Nachmittag, als alle wieder in den Autos verstaut waren und wild hupend aufbrachen zu ihrer Expedition.

Kaum hatten sie die Außenbezirke der Hauptstadt hinter sich gelassen, gerieten sie auf eine holperige Landstraße, die sonst nur von verbeulten Lastwagen mit hohen Ladewänden und von Militärkonvois benutzt wurde. Die Hitze nahm merklich zu. Die Blätter flackerten wie Flammen an den Ästen riesiger Ceibas, vereinzelte Relikte eines Urwalds, der längst weitläufigen Haziendas und kleinen Bauernhöfen gewichen war, die aus wenig mehr bestanden als einer Hütte und ein paar Beeten inmitten von Gesträuch. Schweine gruben in Schlammlöchern. Ziegen zerrten an Ästen. Hunde bellten. Halbnackte Kinder hoben die Hände zur Stirn, sahen den beiden Autos hinterher und begannen, vorsichtig zu winken.

Sie kamen an einigen unverputzten, mehrstöckigen Häusern vorbei, deren Balkone von rostigen Baustreben gestützt wurden und noch ohne Geländer waren. Die Stadt, von der die Insassen des Fiats automatisch meinten, dass sie auf diese Mietskasernen unmittelbar folgen würde, tauchte erst eine halbe Stunde später auf. Schwer bepackte Mulis behinderten den Verkehr auf ihrer Hauptstraße. Die Männer, die sich an den Theken der Cafés drängten und an den Säulen der Arkaden lehnten, starrten die Fremden in den auffälligen Autos unverhohlen an. Isabella streckte ihnen die Zunge heraus und sorgte für Unruhe.

Ein Telefonkabel folgte nun der Straße auf windschiefen Holzstangen. Die Landschaft wurde hügelig. Bernardo im Wagen vor ihnen hupte, als ihm ein rot gestrichener Viehtransporter entgegenkam. Zäune liefen davon, aber es war unklar, was sie abteilten.

„Seltsames Land!“, stellte Marianna fest. Die Vier im Fiat hatten kaum gesprochen, seit sie losgefahren waren. Sie kannten eigentlich nur Havanna und die Küste bis rüber nach Varadero. Außer Pierre hatte bisher keiner von ihnen einen Ausflug in das Landesinnere gewagt, auf dem der Himmel schwerer lastete, als sie es gewohnt waren.

„Asche zu Asche!“, murmelte Isabella, als sie an einem schwelenden Feuer vorbeikamen, über das ein Junge wachte, aufgestützt auf eine Harke. Er trug eine Machete im Gürtel und kaute auf einem Stück Zuckerrohr. Schwarze Rauchwolken verdunkelten den Horizont, als stünde auch der Rest der Welt in Flammen.

„Sie fackeln die Zuckerrohrfelder ab, um die Ernte zu erleichtern“, erläuterte Pierre. Bill nickte desinteressiert. Er bereute die Idee zu diesem Ausflug längst und dachte an den Strand, an dem sie stattdessen hätten liegen können, ein Stück Melone oder einen eisgekühlten Drink in der Hand.

Endlich bogen sie von der Landstraße ab, und nach weiteren 15 Minuten auf einer zunehmend löcherigen Piste, die über struppige Weiden mit einzelnen Rindern führte, erreichten sie die Ranch von Bernardos Eltern, deren Gebäude im Schatten einiger weit ausladender Bäume standen.

„Willkommen auf Kuba!“, rief Bernardo, der lässig auf sie zu schlenderte, während sich die vier noch aus dem Fiat zu befreien versuchten.

„Ich kenn dieses Land nicht.” Marianna sah sich um und schüttelte verwundert den Kopf.

„Es ist unser Land. Unsere Erde!” Bernardo bückte sich, hob eine Handvoll rötlichen Dreck auf und ließ ihn andächtig durch die Finger rieseln. Er wirkte verändert. Er stapfte mit großer Selbstverständlichkeit über den gesprungenen, ausgedörrten Boden. Er trug plötzlich hochhackige Stiefel und hatte zum Schrecken der Frauen sogar die Hosenbeine in die schwarzen, mit aufwendigen Ziernähten geschmückten Schäfte gestopft.

Sie folgten ihm zu dem Wohnhaus, das zwar groß war, aber längst nicht so herrschaftlich, wie Bill es sich vorgestellt hatte. Es war einstöckig und mit roten Ziegeln gedeckt. Das nur leicht geneigte Dach sprang weit vor und bildete so eine umlaufende, von dunklen, teilweise mit Schnitzereien verzierten Holzsäulen begrenzte Veranda. Wagenräder, Kummets und Zaumzeug hingen an der weiß getünchten Fassade. Abseits gab es noch einige andere Gebäude, aber bis auf den ebenfalls gemauerten Pferdestall waren es von Termiten befallene Holzkonstruktionen.

Die schwere, mit handgeschmiedeten Angeln und Ziernägeln beschlagene Haustür öffnete sich; und eine grauhaarige Frau in einem langen Rock und roter, verblasster Bluse trat auf die Veranda: Bernardos Mutter, die zuerst abwartete und ihrem Sohn dann doch überschwänglich um den Hals fiel. Pierre und Bill gingen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel des Fiats in Deckung, schlüpften hastig in ihre Uniformen und schritten als hellblau und türkis gewandete Offiziere eines verwunschenen Märchenreichs auf das Haus zu. „Marine!“, würde der Großvater noch am gleichen Abend voll Verachtung seinem Sohn gegenüber ausstoßen, als erübrige sich jeder weitere Kommentar.

„Meine Freunde!“, rief Bernardo, der Pierre und Bill seiner Mutter vorstellen wollte, und bekam einen Schreck, als er genauer hinsah. „Ähh … Kameraden!“, verbesserte er sich hastig.

Der Vater war unterwegs auf den Weiden; der Bruder verkaufte Vieh. Der Großvater humpelte an einem Stock herbei und musterte die Neuankömmlinge abfällig.

„98“, brummte er, als er die neugierigen Blicke auf seinem steifen Bein spürte, spuckte aus und ließ sich zu keinen weiteren Erklärungen herab.

„Mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn!“, murmelte die Mutter und klammerte sich mit beiden Händen an Bernardos Arm.

„Ein tapferer Soldat, dessen größten Talente gleichwohl anderswo liegen!“, behauptete Korvettenkapitän Evian. Zu einem solchen ernannte sich Bill spontan, als sich der Großvater nach seinem Dienstrang erkundigte. Den lustigen Tressen auf seinen Schultern, die stark an seine frühere Uniform im Kasino erinnerten, war beim besten Willen keine Information abzulesen.

„Und ihr Akzent, wenn die Frage erlaubt ist?“, hakte der misstrauische Alte auf dem Weg ins Haus nach. „Ich glaube, einen leichten Akzent in Ihrer Stimme zu hören.”

„Ich bin mit meinen Eltern vor Jahren aus England eingewandert.“ Bill war von den Vorurteilen, die in Bernardos Familie bezüglich der Amerikaner herrschten, unterrichtet. „Ich hoffe, durch den Offiziersdienst meinem neuen Vaterland seine Gastfreundschaft wenigstens teilweise vergelten zu können.”

Der Großvater nickte, baff erstaunt angesichts dieser Anmaßung und eines weiteren Indizes für den Niedergang der einst so stolzen Marine seines Landes, die inzwischen offenbar nicht einmal mehr davor zurückschreckte, Nachfahren des verfluchten Drakes in ihren Reihen aufzunehmen.

Die Frauen sorgten für zusätzliche Verwirrung. Da eine von ihnen Mestizin war und sich der Großvater nicht vorstellen konnte, dass es sich bei ihr um die Verlobte eines Offiziers handelte, wurden sie wie Mätressen behandelt und in einem Nebengebäude untergebracht, während man den beiden Männern Zimmer im Haupthaus zuwies.

Die Dunkelheit fiel wie das Tuch des Häschers unversehens aus dem Himmel und brachte die Vögel zum Verstummen. An ihrer Stelle lärmten jetzt die Baumzikaden und übertönten jedes Geräusch außer dem gurgelnden Quieken des für das Festmahl bestimmten Ferkels, das neben dem Stall mittels eines Dreibeins an den Hinterläufen hochgezogen wurde und noch mit durchgeschnittener Kehle heftig über der Zinkwanne zappelte, in die sich sein Blut ergoss.

Die Schläge der Köchin gegen eine grobe, vom Hufschmied verfertigte Triangel riefen die Gäste, die sich nach der langen Fahrt und einer unter den gegebenen Umständen eher oberflächlichen Wäsche auf ihren Zimmern ausgeruht hatten, in den Speisesaal, der bereits von Dutzenden Kerzen an den Wänden und auf der langen Tafel erleuchtet wurde. Massige, aus dunklem Holz gefertigte Möbel standen im Halbdunkel. Die Mutter hatte ein Kleid angezogen, in dem sie deutlich jünger wirkte als noch vor zwei Stunden bei der Begrüßung der Gäste; der Vater war von seinem Ausritt zum Vieh zurück. Sein Gesicht war von der Sonne gerötet, die Brauen so schwarz wie die Augen, das restliche Haar grau meliert. Der Kragen seines weißen Hemds wurde von einer Kordel und einem großen, aus einem Jadestein geschnittenen Stierkopf zusammengehalten, der ihm direkt unter dem Adamsapfel saß. Er empfing die Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und stellte ihnen seinen ältesten Sohn vor, eine etwas größere, dunklere Version Bernardos. Die Gesellschaft nahm Platz und begann schweigend mit dem Mahl, zu dem in schweren Kristallkelchen schwerer Wein aus Spanien gereicht wurde. Und als das über offener Glut gegrillte Schwein mit Süßkartoffeln und Bohnen verzehrt worden war, erzählte Bill den staunenden Eltern, wie er zusammen mit Bernardo während eines Sturms ein Fischerboot aus höchster Seenot gerettet hatte, und strich die Rolle seines Kameraden ganz besonders heraus.

„Ein Held!“, entfuhr es der Mutter. Ihr Mann wiegte den Kopf, als wolle er sich dieser Einschätzung nicht vorschnell anschließen.

„Ganz richtig!“, bestätigte Bill entschieden.

Pierre wandte sich ab und versuchte, den taxierenden Blick des Großvaters zu ignorieren. Ihm war die ganze Angelegenheit längst peinlich. Er war empört über die Kälte, mit der Marianna und Isabella behandelt wurden. Er murmelte eine undeutliche Entschuldigung, als Bill mit Begeisterung zu einem längeren Bericht über ein Feuergefecht zwischen ihrem Kutter und einem schmuggelnden Schnellboot ausholte, ließ den eben servierten Karamellpudding im Stich und schlich nach draußen.

Fledermäuse wischten an den beiden Petroleumlampen vorbei, die den Hauseingang markierten. Es schien, als wären die Zikaden die Stimme der Stille. Je mehr sie lärmten, desto deutlicher wurde das allgemeine Schweigen, eine tiefe, allumfassende Gleichgültigkeit.

Bill & Bill

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