Читать книгу Bill & Bill - Xaver Engelhard - Страница 4

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Bill Evian - oder Boy, wie er später wegen seiner ewigen Jugend und der zunehmend groteskeren Bemühungen um diese genannt werden sollte - wurde in New York als uneheliches Kind einer Schneiderin geboren. Er schämte sich auch während seiner größten Erfolge dieses bescheidenen Ursprungs nicht, der seiner ohnehin abenteuerlichen Geschichte einen geradezu märchenhaften Zug verlieh, und erzählte gerne davon, ein Martini-Glas in der einen Hand, einen Cocktailspieß in der anderen.

Er wuchs in der Lower East Side von Manhattan in einem kleinen Appartement voll Bergen fremder Wäsche, Bügelbrettern und Schneiderpuppen auf, hörte Geschichten über seinen Vater, den der Dienst für das amerikanische Volk und immer tollkühnere Heldentaten auf zunehmend exotischeren Schlachtfeldern daran hinderten, zu ihm und seiner Mutter zurückzukehren, und wurde auf Botengänge ausgeschickt in die vornehmsten Wohnhäuser der Upper East Side, wo er geänderte Anzüge und Kleider ablieferte. Die Einblicke in eine fremde Welt, die sich ihm dabei ergaben, lösten in ihm eine Art Heimweh aus, wie er allerdings erst im Rückblick erkannte, als ihm dieses Gefühl auch in seiner eigentlichen Form vertraut geworden war.

Der kleine Junge, der einem Herrn, der zur gestreiften Unterhose ein Smokinghemd mit Fliege und Socken an dünnen Strapsen trug, im letzten Augenblick den an Bund und Rücken ausgelassenen Anzug geliefert hatte und jetzt in der Küche, die so groß wie das ganze Appartement seiner Mutter war, auf das Ergebnis der Anprobe und die Bezahlung wartete, verfolgte die hektischen Vorbereitungen, die für eine festliche Abendgesellschaft getroffen wurden, mit Staunen, aber auch Wissbegierde. Er versuchte, dem hin und her eilenden, zum Teil extra für diesen Anlass angeheuerten Personal aus dem Weg zu gehen und möglichst viele der appetitlichen Häppchen von den silbernen Tabletts zu stibitzen, mit denen Anrichten und Tische bedeckt waren, gleichzeitig hatte er ein Auge für die Kristallskulpturen, Porzellanvasen und Ölbilder von Pferden und nackten Frauen, mit denen Vorraum und Flur der herrschaftlichen Wohnung geschmückt waren, und ein Ohr für die Beschwerden der Bediensteten und die ungehaltenen Kommandos der Gastgeberin, denn er war bemüht, so viel wie möglich zu lernen. Er wusste, was er seinem Vater, der angeblich aus ähnlichen Kreisen stammte, schuldig war, und wollte ihn bei seiner Rückkehr nicht enttäuschen. Als er seiner Mutter später von seinen Beobachtungen berichtete, bestätigte sie, was er instinktiv geahnt hatte, nämlich, dass sein Vater ebenfalls plissierte Hemden besaß und zu bestimmten Anlässen sogar Sockenhalter trug, letzteres eine Eigenheit, die einem auf Bills Schule nur Hohn, Spott und erbarmungslose Prügel eingebracht hätte. Jetzt, da er wusste, dass sich sein Vater ihrer gelegentlich bediente, wenn er nicht gerade in Uniform Nazis, Japsen oder Kommis jagte, wollte Bill aber jedem, der es wagte, sich über solch ein elegantes Accessoire lustig zu machen, die Nase polieren.

Kaum hatte er von der Verwandtschaft seines Vaters mit jenem vornehmen Herrn im Smoking erfahren, drückte ihn sein Gewissen wegen einiger silberner Dessertlöffel, die er im Vorbeigehen aus einem Körbchen gefischt hatte. Zu gerne hätte er sie zurückgebracht und sich als der Sohn seines Vaters zu erkennen gegeben. Er war sich sicher, die bis dahin so herablassende Dame des Hauses und ihr viel beschäftigter Mann hätten ihm nach dieser doppelten Offenbarung lachend verziehen, denn er war ja jetzt einer der ihren. Ein dummer Irrtum, hätte er erklärt. Er sei sich seiner tatsächlichen Herkunft noch nicht bewusst gewesen, werde sich aber selbstverständlich von nun an ihr entsprechend und standesgemäß benehmen. Er hätte einen der Löffel als Andenken behalten dürfen und diesen als Talisman in jeder neuen Wohnung, in jedem neuen Haus mit einem verträumten Lächeln und einem dünnen Faden an der Wand befestigt. Und sie hätten ihm eine Schachtel voll übrig gebliebener Carré Four mitgegeben für seine Mutter als Dank dafür, dass sie so liebevoll auf ihn aufpasste. Aber er traute sich nicht, und als er seiner Mutter gestand, was er inzwischen für einen komisches Missverständnis hielt, bekam er von ihr eine Ohrfeige zur Strafe, mit der sie ein weiteres Mal demonstrierte, dass sie leider überhaupt nichts verstand und mit dem geheimen Ehrenkodex seiner eigentlichen Welt nicht wirklich vertraut war.

Sein Vater war ein Kriegsheld: als einer der ersten an Land gegangen, hinter den feindlichen Linien abgesprungen, in einem Rettungsboot auf ein einsames Atoll gespült. Obwohl Sprössling eines der vornehmsten Häuser Bostons hatte er, gerade was die Frauen anging, immer demokratische Gesinnung bewiesen und auch nicht davor zurückgeschreckt, seiner Geliebten mit Fäusten Respekt zu verschaffen, sollte jemand die Nase rümpfen, weil es sich bei ihr um eine einfache Arbeiterin handelte. Nur seinen Eltern gegenüber war er machtlos, die seine Liebe zu Nancy eine Mésalliance nannten und nichts von seiner Verlobten wissen wollten. Trotzdem hatte er an dem Plan festgehalten, sie zu heiraten, sobald der ewige Krieg vorbei war und sein Herz nicht mehr von Sorge um Amerika bedrückt wurde, und war, ohne von dem Kind zu ahnen, das ihn bei seiner Rückkehr erwarten würde, wieder in den Kampf gezogen. Japan hatte sich ihm inzwischen ergeben wie zuvor schon das Nazi-Reich, und die Russen zitterten längst beim bloßen Gedanken an ihn, aber zu Hause mussten sie weiter auf ihn warten, und irgendwann galt er als vermisst. Tief in ihrem Herzen wusste Nancy, dass dies nur eine Finte war zu seinem und ihrem Schutz und dass er, sobald seine patriotische Pflicht endgültig erledigt wäre, wunderbarerweise heimkehren würde, und sie war fest entschlossen, das Ihre zu tun und tapfer auszuharren. Wenn es sein musste, für immer! Sie seufzte, wenn sie dies alles erzählte, blickte trauerumflort von der Nähmaschine auf und betrachtete ihren Sohn wie jemanden, der schon mehr erfahren hat, als gut für ihn war. Und auch diesem kamen bei solchen Gelegenheiten die Tränen.

Sie war eine hübsche Frau, das wusste Bill schon früh zu beurteilen. Sie hatte schwarzes Haar und dunkle, seelenvolle Augen. Sie hatte sich mit dem eigenen Schicksal abgefunden, was aber nicht hieß, dass sie auch der Zukunft ihres Sohns resigniert entgegensah. Im Gegenteil! Oft war daher eine seltsame Befangenheit in ihrem Verhalten ihm gegenüber zu spüren, als wäre er gar nicht ihr leibliches Kind, sondern ihr wie einer Amme nur vorübergehend zur Aufzucht überlassen, bis er sein Potenzial endlich ausschöpfen und fern von ihr sein wirkliches Leben beginnen würde. Seine Garderobe genügte dabei von Anfang an höchsten Ansprüchen und bestand zumeist aus Teilen, die den Kindern ihrer vermögenden Kundschaft zu klein geworden waren. Manches fertigte sie auch eigens für ihn. Nie würde er zum Beispiel den dunkelblauen Samtanzug vergessen, den sie anlässlich eines Kostümballs für ihn genäht hatte, den er hinterher aber auch bei ihren sonntäglichen Ausflügen in den Central Park tragen durfte, wo sie beide dann vollends wirkten wie der Sohn aus gutem Haus in Begleitung seiner Gouvernante.

Jeden Samstag gingen sie zusammen ins Kino und schauten sich meist ein Melodram an, manchmal aber auch einen Gangsterfilm, denn Nancy meinte, so etwas verschaffe Einblick in den Lauf der Welt und beuge leichtfertiger Naivität vor. Bill selbst bevorzugte Western und genoss sie heimlich in Begleitung von Freunden und hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, denn er wusste, sie waren eigentlich unter seinem Niveau. Er kopierte einige Gesten der Cowboys, spuckte mit fies herabgezogenem Mundwinkel bedrohliche Phrasen aus und zog den Hut, den er beim sonntäglichen Spaziergang tragen durfte, tief ins Gesicht, aber anstatt wie sonst über seine Scherze zu lachen, schimpfte ihn seine Mutter mit einer Wut, die er an ihr nicht kannte.

„Das gehört sich nicht“, behauptete sie. „Das ist alles Gesindel.“ Und sie meinte nicht die Bösewichter, die er imitierte.

Aber er ließ nicht locker! Ein Freund - Bill bewunderte ihn besonders wegen seiner langen, lockigen Haare und der Tatsache, dass ihn seine Eltern gelegentlich mit dem Auto zur Schule brachten - berichtete von seinen Auftritten als Komparse in einem Theater am Broadway und ließ sich durch Betteln und Schmeicheleien dazu erweichen, auch Bill Zugang zu verschaffen zu dem kleinen, ruhelosen Herrn, der all die Gestalten bereitstellen musste, die gelegentlich auf der Bühne zu sehen waren, ohne dass sie etwas zu sagen oder Wichtiges zu tun hatten. Bill wurde für die nächste Produktion ausgewählt und war außer sich vor Freude. Seine Mutter wollte es ihm verbieten und willigte erst ein, als sie erfuhr, wie wenig Geld er dafür bekommen würde. Eine Liebhaberei, wie sie auch einem Gentleman gut zu Gesicht stand! An drei Abenden die Woche gab er also den Jungen in Knickerbockers, der mit einem Stock einen Reifen über den hinteren Teil der Bühne trieb, bis ihn das Kommando einer Frau in Rosa ereilte, an deren Seite er nun noch einige Zeit auf einer Gartenbank zu sitzen hatte. Nancy, die der Generalprobe beiwohnen durfte, war hingerissen. „Vielleicht bist du ja wirklich ein kleiner russischer Adliger!“, rief sie glücklich aus, während er das Eis verschlang das sie ihm auf dem Weg nach Hause zur Belohnung gekauft hatte.

Die Schule war eine Zumutung. Allenfalls Erdkunde, wo er sich über die Länder, in denen sein Vater gekämpft hatte, und andere Orte, die Ruhm oder wenigstens Reichtum versprachen, informieren konnte, so wie Sport interessierten ihn. Er übte jeden Morgen eine halbe Stunde mit Hanteln und Expandern und lernte je eine Viertelstunde spanische und malaysische Vokabeln, um sich auf seine Arbeit als Abenteurer vorzubereiten. Und er brachte es zu einer gewissen Fingerfertigkeit im Umgang mit Spielkarten, denn jeden Freitagabend trafen sich er und ein paar Jungs aus der Nachbarschaft in einem Heizungskeller, zu dem ihnen der Sohn der Hausmeisters Zugang verschaffte. Dort spielten sie die ganze Nacht hindurch, bis sie im Morgengrauen benommen die Treppe hoch wankten. Es ging um Pennys; und trotzdem kam es immer wieder vor, dass einer von ihnen seinen ganzen Besitz inklusive Taschenmesser, selbstgebastelter Raumschiffpistole und zerfledderten Comic-Heften verlor. Das Bier, die paar Tüten Kartoffelchips, die Zigaretten reichten für zwei, drei Stunden; und dann gab es nur noch den wackeligen Tisch, die fünf oder sechs Gesichter und die Karten. Sie sprachen immer weniger, rieben sich den Schlaf aus den Augen, gelegentlich schleppte sich einer nach oben, um gegen die Mülltonnen zu pinkeln, manchmal nickte einer kurz ein und ließ den Kopf auf die Brust sinken, aber es war wie ein Zauber: Keiner der Jungen ging vor dem Morgengrauen; und nichts konnte sie daran hindern, sich am nächsten Freitag wieder in dem Heizungskeller einzufinden. Nie empfand Bill den Morgen intensiver, als wenn er nach einer solchen Nacht an die frische Luft trat. Der graue Himmel barg ein Geheimnis; die Steine der Stadt waren ein Versprechen.

Er bekam eine kleine Rolle in einer Komödie, die sich mit den amourösen Problemen witzigen Werbegesindels beschäftigte. Die Schauspielerinnen in der Garderobe behandelten ihn wie ihr Maskottchen. Sie bemutterten ihn einerseits, andererseits machten sie ihn zum Objekt anzüglicher Scherze, denn sie spürten bereits etwas von der Attraktivität, die er später auf Ihresgleichen ausüben sollte. Ein echter Herzensbrecher wachse da heran, versicherten sie einander kichernd und richteten ihre Strümpfe. „In ein paar Jahren werden sich die Frauen prügeln um ein Wochenende mit ihm in Havanna“, behauptete eine große Brünette, die nicht nur in dem Theaterstück die eifersüchtige Intrigantin spielte. Er nickte zustimmend und schlug den Kragen seines Hemds hoch, wie er es sich seit ein paar Wochen angewöhnt hatte.

„Und du wirst die erste sein, die ich dorthin einlade, Betty“, versprach er ihr. „In meinem Herzen wird immer ein Platz für dich reserviert sein.”

Sie lachten und klatschten sich auf die nackten Schenkel. Sie bewegten sich in seiner Gegenwart ganz ungeniert in Unterwäsche, hatten das Gesicht voll Fettcreme und das Haar voller Nadeln; und er empfand dies als Herablassung ihm gegenüber und nicht als Privileg, das er nur mit dem Friseur und dem schwulen Bühnenassistenten teilte, und er nahm es ihnen übel, auch wenn er sich bei ihnen deutlich wohler fühlte als bei den Männer, die sich in seiner Gegenwart über Baseball und Autos unterhielten, ansonsten aber hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Nur manchmal erzählten sie ihm schweinische Witze; und es fiel ihm schwer, über diese zu lachen, und das zum einen, weil er sie nicht immer verstand, und zum anderen, weil er sie instinktiv als ungehörig den Frauen gegenüber empfand.

Ein paar Monate später verliebte er sich in ein Mädchen mit Faltenrock und Perlenkette, das er manchmal im Park sah, wo es zwei Hunde ausführte, langbeinige, hochnäsige Geschöpfe wie sie, und er verzagte trotz seiner schon mehrfach erwiesenen Unverfrorenheit vor der Aufgabe, sie anzusprechen und zu einem Eis aus einem der bunten Karren einzuladen. Er war ihr, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, bis zu ihrem Haus in einer der Querstraßen, die auf den Park zuliefen, gefolgt, hatte beobachtet, wie sie in der ganz in Marmor gehaltenen Eingangshalle verschwand, und war dann vor dem grimmigen Blick des Portiers geflohen. Von nun an kam er jeden Tag gleich nach der Schule hierher und wartete, und das oft umsonst. Zweimal noch folgte er ihr und den Afghanen durch den Park. Beim dritten Mal, zehn Tage, nachdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, fasste er sich ein Herz, trat mit dem Mut, mit dem andere sich von einer Brücke stürzen, an sie heran, und fragte sie, obwohl es ein wenig regnete, mit belegter, kaum verständlicher Stimme, ob er sie auf eine Erfrischung einladen dürfe. Sie wandte sich ihm zu, musterte ihn wie einen Idioten und wölbte die schmalen, bereits gezupften Brauen.

„Ich glaube nicht“, sagte sie und setzte im Gefolge der tänzelnden Hunde ihren Weg fort. Er hätte sich am liebsten vor Scham tief unter der Erde verkrochen, weit unter der Subway noch, mit der er immer zum Park fuhr, und hasste nicht sie, sondern sich selbst und sein Leben inkognito, im Wartestand. Dieses wurde ihm unerträglich. Er schenkte Betty Blumen zu ihrem Geburtstag und eine Schachtel Pralinen; und das Lachen, mit der sie und die anderen Frauen dieses Geschenk kommentierten, klang ihm wie Hohn. Zu seinem 15. Geburtstag wünschte er sich ein Paar schwarz-weißer Schuhe und bekam es auch, nur hatte seine Mutter es vorsichtshalber zwei Nummern zu groß gekauft. Kaum hatte er dies bei der ersten Anprobe entdeckt, packte er die Schuhe, stopfte sie in den Mülleimer und rannte hinaus.

Er hatte das Meiste von seiner kleinen Gage gespart. Er schob einen Arm tief zwischen die Stapel frisch gemangelter, mit verschiedenen Monogrammen versehener Laken in dem riesigen Schrank, der fast das ganze Schlafzimmer einnahm, förderte von dort den Schatz seiner Mutter, eine Tüte voll zumeist kleiner Scheine, zutage und steckte ihn ein. Er kehrte in die Wohnküche zurück, wo er bisher auf der Couch geschlafen hatte, und packte den einzigen Koffer. Das blütenweiße, noch ungetragene Hochzeitskleid, das samt Schleier in diesem gelegen war, hängte er auf einem Bügel an den Küchenschrank und befestigte mit einer Stecknadel ein Blatt aus einem seiner Schulhefte daran, auf das er Vielen Dank für alles! geschrieben hatte. Er fuhr zur Central Station, wo er überrascht feststellte, dass Havanna keine Stadt im Süden der Vereinigten Staaten war, kein exotischer Felsvorsprung der biederen Kontinentalmasse, sondern auf einer eigenen Insel in der Karibik lag.

„Umso besser!“, erklärte er dem Schalterbeamten, der zögerte, ihm das Ticket nach Florida auszuhändigen, und mit der Versicherung beruhigt wurde, dass Bill nicht selber fahren werde. „Leider! Aber Schule ist nun einmal Schule, nicht wahr? Ich helfe nur meinem Onkel aus Omaha, für den schon Manhattan so fremd ist wie für uns Havanna.” Er lachte, stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete auf einen Kiosk. „Er sucht da drüben noch nach einem Reiseführer. Den hätte er ohne mich schon für Manhattan gebraucht!”

Er hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was ihn erwartete. Er hatte von Kasinos und Musik gehört, vor allem aber von den Frauen. Schon jetzt, da er kaum über den Anflug eines Oberlippenbarts verfügte, ließ er erkennen, dass er Frauen vergötterte und für den Inhalt eines echten Männerlebens hielt. Er lächelte ihnen auf der Straße entgegen, hielt ihnen die Tür auf und stellte ihnen seinen Sitzplatz in der überfüllten U-Bahn zur Verfügung. Eine Insel voll schöner Frauen musste das Paradies auf Erden sein, da war er sich sicher. Er machte es sich im Aussichtswagen des Snow Birds bequem, der Kurs auf Key West nahm, und ließ sich vom monotonen Rattern der Räder, das noch nichts von den synkopierten Rhythmen der Karibik verriet, in den Schlaf lullen. Als er erwachte und sich auf die Suche nach etwas zu essen machte, geriet er an eine Gruppe lautstarker Studenten, welche die Frühlingsferien für einen Ausflug nach Kuba nutzten. Seit sie in Boston in den Zug gestiegen waren, tranken sie und spielten Karten. Sie schüttelten verwundert die Köpfe, als sie erfuhren, dass er alleine unterwegs war, und noch belustigter zeigten sie sich, als er sie fragte, ob er in ihre Poker-Partie einsteigen dürfe. Er zügelte sich, um nicht für Ärger zu sorgen, besserte seine Reisekasse gleichwohl deutlich auf; und sie nannten ihn bald einen Glückspilz und einen tollen Kerl, legten die Arme um seine Schultern und sangen im Chor beliebte Broadway-Hits. Als sie sich endlich in den Schlafwagen zurückzogen, machte er es sich wieder auf seinem Sitzplatz bequem. Am nächsten Tag nahmen sie ihn in dem Taxi mit, das sie vom Bahnhof zur Fähre bringen sollte, und wiesen ihn als Erste darauf hin, dass er für die Weiterreise einen Pass brauchen würde. Er ließ sich durch seinen Mangel an Ausweisen und offiziellen Dokumenten nicht bekümmern, was die Studenten mit Verwunderung zu Kenntnis nahmen und erheitert seiner Jugend und seiner fehlenden Vertrautheit mit dem Lauf der Welt zuschrieben. Die US-Beamten vom Zoll, bei denen er sich über seine Eltern beschwerte, die ihn auf dem Parkplatz vergessen hätten, winkten ihn rasch durch und wünschten ihm viel Vergnügen. Für ihre kubanischen Kollegen würde es grünes Papier anstelle des blauen Kartons tun.

Er betrachtete die chromblitzenden Karossen, die auf die Fähre rollten, ohne Neid, wusste er doch, er würde, sobald die Zeit reif war, auch eine solche besitzen. Er hatte zum Meer das gleiche Vertrauen wie zum brüchigen Pflaster New Yorks. Er stand im Bug, lächelte und genoss den Anblick der im Licht der untergehenden Sonne schillernden Wellen. Einer der Studenten, der mit seinem Vater jedes Jahr zum Hochseefischen hierher kam, hatte ihm von den Haien und vom Marlin erzählt, die unter der kostbaren Oberfläche hausten; und Bill hatte interessiert zugehört, aber immer unter dem Vorbehalt, dass man sich von so etwas nicht erschrecken lassen sollte, so lange man nicht selbst über Bord gegangen war. Später, als sie in ein Gewitter gerieten und das Schiff schwerfällig der Insel entgegen stampfte, stand er noch immer in seinem dünnen, mittlerweile ganz durchnässten Hemd an der Reling und beobachtete die Seekranken, die in der Dunkelheit vergebens den unsichtbaren Horizont zu fixieren versuchten.

Die Studenten setzten Bill auf dem Malecon ab, Havannas legendärer Uferpromenade. Als er seinen schäbigen Pappkoffer vom Dach des Taxis zerrte, hörte er die drei gedämpft debattieren. Einer war der Ansicht, man dürfe Bill, der eindeutig nicht wisse, was ihn erwarte, nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Die anderen erinnerten daran, dass man nicht so weit gereist sei, um Kindermädchen zu spielen. Bill klopfte an das Fenster und versicherte seinen Landsleuten lachend, dass sie sich um ihn keine Sorgen zu machen bräuchten.

Als das Taxi verschwunden war, setzte er sich erst einmal auf die hüfthohe Mauer, welche die vierspurige Straße mit ihrem breiten Gehweg zum Strand hin abschloss. Links und rechts saßen und standen Liebespaare, Männer in weißen Anzügen und verwaschenen Ringelhemden, Frauen in rosa Rüschen und blauem Kaliko, und genossen den erfrischenden Wind und die Gischt, die dieser immer wieder bis hoch zu ihnen wehte. Sie küssten sich, blickten einander in die Augen, flüsterten und lachten. Bill lächelte freundlich und wandte sich dem Autoverkehr zu, der, wie er schnell feststellte, eine noch höhere Cadillac-Dichte aufwies als der in Manhattan. Er drehte sich um und betrachtete das Meer. Am Horizont ballten sich erneut Wolken zusammen, darunter zogen Schiffe vorbei. Auf der einen Seite der Bucht ragte die alte Festung der Spanier empor, auf der anderen waren gerade noch die Schornsteine der amerikanischen Raffinerie zu erkennen, dazwischen breitete sich die Stadt mit ihren pastellfarbenen, drei und vierstöckigen Gebäuden im Kolonialstil aus. Kleine Motorräder lärmten und verstießen überhaupt gegen alle Gebote der Vor- und Rücksicht. Busse, aus deren offenen Türen Menschentrauben hingen, hinterließen schwarze Rauchschwaden, die sich in der schwülen Luft nur zögerlich auflösten. Aus dem Wipfel einer der Kohlpalmen, die sich entlang der Straße mit den gusseisernen Laternen abwechselten, sprang eine Ratte, landete zwischen den Passanten, die sich nicht weiter um sie kümmerten, schlüpfte durch einen Regenabfluss und erreichte den Strand, der hier sehr schmal war und auf der einen Seite vom Fundament des Malecon begrenzt wurde, auf der anderen von Felsbrocken, zwischen denen angeschwemmte Kisten, Tonnen, Netze und Tang-Haufen lagen.

Bill bekam Hunger, rutschte von der Mauer und wagte sich mit seinem Koffer in der Hand in eine der Straßen, die weiter in die Stadt hinein führen mussten. Zwei Männer kamen ihm entgegen und boten an Stangen aufgereihte Lose für die nächste Lotterie feil. Schuhputzer, teilweise deutlich jünger als er selbst, schoben sich mit ihren Holzkisten und Schemeln zwischen den Fußgängern hindurch und hatten den Blick auf den Boden und die Füße der gemächlichen Flaneure und eiligen Geschäftsleute geheftet. Ein fliegender Händler hatte seinen Karren am Straßenrand geparkt und verkaufte geschabtes Eis mit Sirup. Bill entdeckte einen Laden, in dem es Fruchtsäfte und gegrillte Sandwichs gab. Er bestellte automatisch auf Englisch und wollte mit Dollar bezahlen und hatte auch Erfolg damit, wurde aber belehrt, dass er sich eigentlich in einem anderen Land befinde, auch wenn dies viele seiner Landsleute nicht wahrhaben wollten. Er gab sich reumütig und führte einige der spanischen Phrasen vor, die er in der Schule gelernt hatte. Der dunkelhäutige Verkäufer war begeistert und entblößte ein Gebiss, das unvollständig war, aber strahlend weiß wie sein Hemd.

Bill gelangte an einen großen Brunnen, setzte sich auf eine der Stufen, die zu dem Becken hoch führten, packte sein Sandwich aus, biss hinein und merkte auf einmal, wie müde er war.

„Neu hier?“, fragte ihn jemand.

Bill zuckte zusammen und drehte sich um. Der junge Mann, der schräg hinter ihm ebenfalls auf einer der Stufen saß, war nicht viel, aber entscheidend älter als er. Er trug einen grauen Sommeranzug und hatte eine zusammengefaltete Zeitung untergelegt, damit dieser nicht schmutzig wurde. Eine dunkle Haartolle hing ihm ins Gesicht. Bill nickte.

„Das Pappding da verrät dich, was nicht ganz ungefährlich ist, wenn du hier in die falsche Gasse gerätst.“ Der junge Mann grinste und wies mit dem Kinn auf den Koffer, den Bill neben sich abgestellt hatte.

„Ich bin gerade aus New York angekommen. Was ist mit dir? Du schaust auch nicht wie ein Einheimischer aus.“

„Paris!“

„Eine schöne Stadt, heißt es.“

„Von New York erzählt man sich dasselbe.“

„Zugegeben, Manhattan hat seinen Reiz. Aber keine Champs Élysées!“

„Dafür den Broadway!“

„Aber kein Moulin Rouge!“

„Dafür den Times Square!“

„Kein Montmatre!“

„Dafür Greenwich Village!“

„Ich sehe, wir verstehen uns.“

„Durchaus!“

Sie standen auf, gaben sich die Hand und stellten sich einander vor.

„Was führt dich hierher?“, fragte Pierre, der die Zeitung aufhob und sie eine Stufe hinab trug, um sich neben seinen neuen Freund zu setzen.

„Mein altes Leben hat mich gelangweilt.“

„Wenn du ein neues suchst, bist du genau am richtigen Ort gelandet.“

„Freut mich, zu hören!“

„Zuerst einmal wirst du eine Unterkunft brauchen, oder?“

„Stimmt!“

„Etwas Preiswertes für den Anfang?“ Pierre wölbte eine Braue. Er wollte Bill mit dieser Unterstellung keinesfalls zu nahe treten.

„Das käme gelegen.“

„Auch ich ziehe es vor, mein Geld für anderes auszugeben als ein Bett, das ich eh nur selten benutze.“ Pierre zwinkerte; Bill gab sich wissend. „Bei uns im Haus ist zufällig ein Zimmer frei geworden. Wenn du willst, zeige ich es dir.“

„Gerne!“ Bill schob sich das letzte Stück Sandwich in den Mund, wischte die Hände an der Hose ab und stand auf. Noch bevor er seinen Koffer nehmen konnte, hatte sich Pierre dessen bemächtigt und ging mit dem überraschend leichten Gepäckstück voraus in eine der dunklen Gassen, die auf dem Platz mit dem Brunnen mündeten.

„Du sprichst ausgezeichnet Englisch.“ Bill hatte Mühe, Pierre zu folgen. Sein Hemd war bereits durchgeschwitzt.

„Danke! Ich habe viel Gelegenheit zum Üben. Sprichst du Englisch, bis du in Havanna ein gemachter Mann.“

„Das sollte mir zu Gute kommen.“ Bill lachte. „Lebst du schon lange hier?“

„Ja. Meine Eltern sind russische Juden. Sie sind erst vor den Kommunisten nach Frankreich und dann vor den Deutschen nach Kuba geflohen.“

„Eine bewegte Vergangenheit! Aber wo hast du dabei Englisch gelernt?“

„Ich arbeite als Croupier im Kasino.“

„Ein schöner Beruf! Gehilfe des Schicksals sozusagen!“

„Eher Handlanger des Hauses! Aber ich beschwere mich nicht!“

Bald darauf standen sie vor einem alten Gebäude, das früher vielleicht einem reichen Kaufmann gehört hatte, das inzwischen aber stark heruntergekommen war. Im Sockelgeschoss, das aus großen Steinquadern gefügt war, hatte es halb unterirdisch einmal Läden und Werkstätten gegeben, deren Tür- und Fensteröffnungen inzwischen mit Brettern vernagelt waren. In der Mitte öffnete sich eine große Einfahrt, von deren Tor nur noch rostige Angeln übrig waren. Im Hof führte eine breite Treppe in den ersten Stock, in dessen hohen Räumen zum Teil Hühner und Ziegen untergebracht waren. Ein Zimmer wurde von einem älteren Männerpaar bewohnt, das höchstens einmal durch einen gedämpften Streit auffiel, ein anderes von einer jungen Prostituierten, die es bislang geschafft hatte, ihrem Geschäft auf sich alleine gestellt nachzugehen. Die meisten anderen Wohnung lagen im zweiten Stock des Gebäudes, darunter die eines Setzers, der eine kleine, runde Nickelbrille trug und darunter litt, dass er statt aufrührerischer Pamphlete meist nur Visitenkarten und Einladungen für die Bourgeoisie drucken durfte. Er war Pierres Vermieter und wusste von einem Zimmer bei den Nachbarn, einem Ehepaar aus dem Oriente. Pierre stellte den Neuankömmling vor und dolmetschte zwischen ihm und seinen künftigen Mitbewohnern. Trotz seines nur rudimentären Spanisch verstand sich Bill ausgezeichnet mit allen und wusste bald, was guaguas waren und was bayús. Bevor Pierre sich auf den Weg ins Casino machte, prophezeite er seinem neuen Freund noch, dass er nach vier Wochen reden werde wie ein Kubaner, und sollte Recht damit behalten. Bill richtete sich in seinem Zimmer ein, benutzte es aber fast nur zum Schlafen und trieb sich die übrige Zeit auf den Straßen und Märkten herum und redete mit den Menschen oder setzte sich in eines der Cafés und versuchte, die Nachrichten in den Zeitungen zu entschlüsseln. Die vier Wochen waren noch nicht vorbei, da war sein Spanisch bereits gut genug, um sich damit auf Vermittlung Pierres im Casino für einen Job zu bewerben.

„Glaubst du dich dieser Aufgabe gewachsen?“ Sr. Pérez, Assistent der Casino-Leitung, sprach fast akzentfreies Englisch und musterte Bill voll Misstrauen.

„Selbstverständlich! Nichts könnte mich mit größerem Stolz erfüllen, als in Ihrem herrlichen Kasino arbeiten zu dürfen. Auch will ich gar nichts anderes, als mit einer bescheidenen Aufgabe zu beginnen, behalte mir gleichwohl vor, Sie durch Leistung von meinen Qualitäten zu überzeugen und mich zu verantwortungsvolleren Posten hochzuarbeiten.“

„Nun, man wird sehen. Für den Anfang trägst du mehr Verantwortung, als mir lieb ist. Aber es gibt nun einmal nicht viele wie dich in Havanna! Wir werden es mit dir versuchen.“

Bill verbeugte sich und wurde in den Keller geschickt, wo man ihm eine Livree aushändigte, die ihm zwar etwas zu klein war, aber trotzdem ausgezeichnet stand und mit ihren Tressen und Schulterstücken ein militärisches Aussehen verlieh, das durchaus angemessen war bei jemandem wie ihm, der restlos erfüllt war vom Verlangen, seiner neuen Rolle gerecht zu werden. Man hatte ihm die Betreuung grauer und grüner Witwen aus seiner Heimat überantwortet, die ohne Begleitung zögerten, sich dem abendlichen Glücksspiel hinzugeben. Es handelte sich zumeist um übergewichtige Matronen in ärmellosen Seidenkleidern, deren Männer entweder von ihren Geschäften in Anspruch genommen wurden oder bereits verstorben waren, aber es gab auch ein paar allein reisende Sekretärinnen, die mit zunehmendem Alter immer verwegener wurden und Hüte trugen, klein und hässlich, als hätte der Wind sie ihnen aus dem Rinnstein auf den Kopf geblasen, und Blondinen, die mit ein wenig Taschengeld ausgestattet sich selbst überlassen worden waren, weil ihre Begleiter in dieser so abwechslungsreichen und erfrischend vorbehaltlosen Stadt ungestört eigenen, speziellen Vergnügungen nachgehen wollten. Ihnen allen stand Bill als Kavalier zur Seite und überredete sie mit jugendlicher Herzlichkeit, ihr Geld in Spielen zu riskieren, deren Regeln sie oft nicht einmal ansatzweise verstanden.

„Sehen Sie, es ist ganz einfach“, erklärte er einer Mrs. Dreiser aus Cleveland, deren Mann Spirituosen importierte und in der Nähe von Santiago Rum-Destillerien besichtigte. „Sie kaufen ein paar Chips - ich erledige das gerne für Sie -, und Sie legen sie auf eine Farbe Ihrer Wahl.“

„Junger Mann, ich habe so etwas noch nie gemacht und fürchte, man will mich betrügen.“

„Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch Bill!“ Er berührte sie leicht am Oberarm. „Und selbstverständlich können Sie gar nicht verlieren, denn bei jedem Treffer erhalten Sie mindestens den doppelten Einsatz zurück, was Sie für alle eventuellen Verluste entschädigen sollte. Außerdem ist es ein Vergnügen, für das man gerne ein wenig zahlt! Eine Fahrt in der Achterbahn! Ein aufregender Film!“ Er lächelte treuherzig. In seiner Uniform wirkte er wie eine Märchengestalt, die von nichts Bösem wusste.

„Sie sind schon in sehr jungen Jahren ein Charmeur, dem nur schwer zu widerstehen ist, mein lieber Bill. Nicht auszudenken, zu welch Taten sich die Frauen hinreißen lassen werden, wenn Sie ein wenig älter sind!“ Mrs. Dreiser seufzte. „Nun gut, ich will es riskieren. Aber Sie dürfen nicht von meiner Seite weichen!“

„Ich könnte mich niemals von einer faszinierenden Dame wie Ihnen auch nur für eine Sekunde entfernen!“ Bill blinkte treuherzig mit den blauen Augen und widerlegte diese Behauptung augenblicklich, indem er verschwand, um Chips zu besorgen und ein Glas Champagner, das Mrs. Dreiser helfen würde, mögliche Skrupel zu überwinden. Eine Stunde später rief er: „Aber Mrs. Dreiser, Sie dürfen nicht gehen, bevor wir uns nicht wenigstens Ihr Geld zurückgeholt haben! Sie haben ja gar nicht viel verloren. Setzen Sie einfach etwas mehr! Zwei-, dreimal die richtige Zahl und wir sind saniert! Stellen Sie sich vor, Sie können Ihrem Mann morgen erzählen, Sie hätten 5000 Dollar gewonnen!“

„Meinetwegen, versuchen wir’s. Nach so viel Pech müssen wir ja endlich einmal Glück haben.“

Und wieder eine Stunde später erinnerte er Mrs. Dreiser an ihren Ehemann, der zu Jähzorn neigte und sich wegen seines Herzens eigentlich schonen sollte:

„Was wollen Sie ihm sagen? Unsere Situation ist verzweifelt, also greifen wir zu verzweifelten Mitteln: Geben Sie mir Ihre Halskette! Wir setzen sie auf Ihre Glückszahl.“

Und dann, als Mrs. Dreiser schon längst mit den Tränen rang, verbeugte er sich zum Abschied tief.

„Vielen Dank für einen bemerkenswerten Abend! Ich muss mich jetzt leider zurückziehen, denn ich bin nicht zur Erholung hier und muss mich schon morgen früh wieder zum Dienst melden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in unserer wunderbaren Stadt. Sollte Ihnen an einem der nächsten Tage erneut der Sinn nach meiner Gesellschaft stehen, zögern Sie bitte nicht, bei der Kasino-Leitung nach mir zu fragen!“

Manche der weiblichen Hotelgäste fanden trotz der Verluste im Kasino, zu denen er sie animierte, großes Gefallen an dem jungen, adretten Pagen und luden ihn mal mehr, mal weniger unverhohlen ein, sie in ihrer Suite zu besuchen und zu trösten, aber er achtete instinktiv darauf, eine gewisse Distanz zu seinen Opfern zu wahren und freundete sich stattdessen mit Bela an, der jungen Prostituierten, die im selben Haus wohnte wie er und ihn gegen entsprechende Englisch-Lektionen in allen Varianten der Liebe unterwies. Sie war eine große, schlanke Mulattin mit einer kleinen, schiefen Nase. Sie genoss die Treffen mit Bill genauso wie dieser und behauptete überhaupt, ihrem Beruf zum Spaß nachzugehen und nicht aus Not. Sie pflegte ihren Körper mit Hingabe und blockierte jeden Nachmittag für eine Stunde das Etagenbad, weil sie sich wusch und salbte und puderte. Sie war kein Außenseiter, der aus der Hausgemeinschaft ausgeschlossen blieb. Im Gegenteil, Sra. Martínez, die für die Damen aus dem Quartier Näharbeiten erledigte, überließ ihr ihre Singer, wenn sie sie nicht gerade selbst brauchte, damit Bela sich damit freche Kleider anfertigen konnte, und so kam es, dass Bill oft um fünf Uhr morgens, wenn er aus dem Kasino zurückkehrte, die Maschine rattern und Bela mit leiser, klarer Stimme singen hörte. Meist war er zu müde, aber manchmal blieb er stehen, klopfte an die Tür und unterhielt sich noch ein bisschen mit ihr.

„Kannst bei mir bleiben“, schlug sie bei einer solchen Gelegenheit vor. „Gratis!“ Sie sah von der Nähmaschine auf und lächelte zu Bill hinüber, der sich auf dem zweiten Stuhl ihres recht großen, penibel aufgeräumten Zimmers niedergelassen hatte. Es verfügte über kein Fenster, sondern nur über eine Öffnung zu einem Belüftungsschacht. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke. Anstelle eines Schranks hatte Bela eine Stange an der Wand befestigt, an der ihre Kleider hingen. Bill hatte ihr ein Buch mit Englisch-Lektionen besorgt nicht ahnend, dass sie gar nicht lesen konnte. Sie hatte es trotzdem behalten; und seither lag es gut sichtbar auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett.

„Ich bin zu müde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend diese Frauen sind.“ Bill rieb sich das graue Gesicht und nippte an dem Bier, das er als Schlaftrunk aus dem Kasino mitgebracht hatte.

„Brauchst nichts zu machen. Legst dich hin und wennde willst, geb ich dem Kleinen noch’n Gute-Nacht-Bussi.“ Wieder lachte Bela und entblößte dabei Zähne, um die es nicht zum Besten stand.

„Wann anders!“ Bill schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Wer nich will, der hat wohl schon.“ Sie wandte sich wieder der Singer zu und beugte sich weit nach vorne, um im schwachen Licht zu sehen, was sie tat. Sie trug nur Slip und Unterhemd. Die Maschine ratterte kurz, dann schaute Bela wieder zu ihrem Besucher hinüber. „Weißde, wir würden’n ziemlich gutes Paar abgeben, wir beide. Wir versteh’n uns. Du könntest mir die Kunden verschaffen. Americanos, wo gut zahlen! Und ich zeig dir, wie du’s mit den Hühnern machen musst. Ich sag dir, die sin bald verrückt nach dir. Du kannst sie rupfen und ausnehmen und grillen, und wennde mit ihnen fertig bist, schlecken sie dir auch noch deinen fettigen Finger sauber, so dankbar wer’kn die sein, dass du ihnen die nackten Knochen gelassen hast.“

„Ein verlockendes Angebot, Bela, aber ich habe Hoffnung, dass das Kasino mich bald an einen der Black-Jack-Tische lässt. Ich habe Sr. Pérez zeigen dürfen, was ich drauf habe, und ich glaube, er war davon angetan.“

„Kartengeber?“ Bela schüttelte den Kopf. „Das reicht dir? Wenn wir’s richtig angehen, schwimmen wir bald in Geld und haben noch jede Menge Spaß dabei. Du magst doch Spaß, oder?“ Sie sah Bill an, als zweifle sie plötzlich daran.

„Ja, schon!“ Er zuckte mit den Achseln. „Aber mir gefällt die Arbeit im Kasino!“

„Du hältst dich für was Bess’res, stimmt’s?“ Sie schnaubte. „Sogar wenn ihr nur davon lebt, alte, vertrocknete Schreckschrauben zu vögeln, haltet Ihr Americanos euch noch für was Besseres.“

„Ich vögle sie nicht; und sie sind nicht alt und vertrocknet. Und ich halte mich für nichts Besseres.“ Bill lächelte und wusste, im Grunde hatte sie Recht. Er glaubte, zu anderem geboren zu sein als zum Zuhälter einer kariösen Prostituierten, auch wenn er nicht genau wusste, zu was. Das Verhältnis zwischen ihm und Bela kühlte jedenfalls nach diesem Gespräch deutlich ab; und bald beendete sie den gegenseitigen Unterricht mit der Begründung, dass sie ihm nichts mehr beibringen könne.

Bill & Bill

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