Читать книгу Bill & Bill - Xaver Engelhard - Страница 8

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Der hämische, weiß geschminkte Conférencier hatte das alte Jahr um Mitternacht ausgezählt wie einen angeschlagenen Boxer, der nicht mehr auf die Beine kommt; die Sylvester-Gesellschaft im Casino hatte gejubelt wie über einen vermeintlichen Sieg; die Mambas hatten einen Tusch gespielt; und die hektische, spannungsgeladene Stimmung, die ohnehin über der ganzen Insel lag, hatte sich zu einem frenetischen Tanz am Abgrund gesteigert und erst wieder beruhigt, als die Sonne aufging und offenbarte, dass sich nichts geändert hatte. Die Gäste wurden plötzlich müde und gingen nach Hause; die Musiker packten Noten und Instrumente ein; die Kellner begannen, die überall herumstehenden Gläser und Teller einzusammeln.

Ein paar letzte Spieler belagerten Pierres Tisch. Bill hatte seine Karten längst weggepackt und sah seinem Freund zu, wie dieser mit grauem Gesicht stoisch seiner Arbeit nachging. Endlich hatte einer der Aufseher, die mit hinter dem Rücken verschränkten Händen durch die Säle schlenderten, ein Einsehen und gab mit einem Nicken die Erlaubnis, Schluss zu machen; und Pierre durfte dem leisen Protest der Süchtigen zum Trotz zum letzten Spiel aufrufen. Er kontrollierte noch einmal die Chips, überreichte sie dem Kontrolleur und breitete, als sich die Gäste dem Gehen und vielleicht weiteren Vergnügungen zugewandt hatten, mit Bills Hilfe eine schwere Plane über sein Roulette.

„Wurde auch Zeit“, stieß Pierre zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

„Du wirkst, als könntest du die Pause gut gebrauchen.“

„Du etwa nicht?“ Pierre warf Bill einen verwunderten Blick zu. Seit Weihnachten arbeiteten sie praktisch ohne Unterbrechung und hatten dafür jetzt vier Tag frei.

„Doch!“ Bill grinste. „Und ich verspreche dir, du wirst über die Mädels staunen. Tänzerinnen im Tropical!“

„Dann kenne ich sie schon! Ich kenne sie alle, die sogenannten Tänzerinnen vom Tropical.“

„Nein wirklich! Sie sind echte Tänzerinnen. Ich habe ihre Schenkel geprüft. Hart wie Stahl!“

„Und mit denen schneiden sie uns vermutlich den Kopf ab oder etwas noch Wichtigeres!“

„Es gibt nur einen Weg, herauszufinden, ob das stimmt.“

Sie machten sich auf den Weg zum Personalausgang und winkten den Putzfrauen zu, die bereits damit beschäftigt waren, die gröbsten Spuren der Gala zu beseitigen, damit möglichst bald der Alltagsbetrieb wieder aufgenommen werden konnte. Die Freunde gelangten zum Parkplatz hinter dem Kasino und stiegen in Pierres zweifarbigen Fiat Millecento, einem der ganz wenigen Exemplare auf der Insel, der aus einem fehlgeschlagenen Versuch stammte, die italienische Marke auf Kuba heimisch zu machen. Sie öffneten das Rolldach der kleinen Limousine, fuhren zum Meer und folgten der Küstenstraße westwärts. In jeder Kurve gehorchten sie den Zentrifugalkräften und warfen sich mit Begeisterung nach außen. Pierre steuerte einhändig, wann immer Bill ihm die Rumflasche überließ, die er halb leer auf einem Tisch im Kasino gefunden hatte. Sie umrundeten die erste Bucht und die nächste und erreichten ein kleines Kap. Unten am Strand stand die Bar Flamingo, ein schmuckloser Kubus mit einem Flachdach, auf dem immer noch Gäste zu den Klängen einer Victrola tanzten, als wollten sie nicht wahr haben, dass die Nacht längst vorüber war, und genau dieses Etablissement steuerten die beiden Freunde jetzt an.

„Ah, mes amis, les messagers du bonheur!“, jubelte ein dicker Schwarzer hinter der Theke, als Pierre und Bill durch den mit Glasperlen verhängten Eingang schlüpften. Théophile stammte ursprünglich aus Haiti. Er stellte das Glas beiseite, das er gerade poliert hatte, und kam mit weit ausgebreiteten Armen auf die beiden zugewatschelt. „Mes freres, je vous souhaite une année très très heureuse! Ich hatte schon die `offnung aufgegeben, dass ihr noch kommt.“ Er umarmte beide und presste sie an sein buntes Hemd. „Aber es sind noch fast alle da. Ich `ab gesagt, es geht keiner, bevor nicht Pierre et Biel ´ier sind. Espécialement les deux danseuses, ganz bezaubernde Geschöpfe, die sich verzehren vor Sehnsucht und sich trösten auf dem Dach, so gut es geht, mais naturellement il n’y a personne, der mit meine Brüder konkurrieren könnte.“

„Das wollen wir hoffen, du alter Kuppler.“

„Ein Kuppler, moi?“ Théophile verdrehte empört die Augen, so dass nur noch das Weiße von diesen zu sehen war. „Das ist sehr ungerecht, cher Pierre. Ich will nur, dass alle glücklich sind. Sind die Gäste glücklich, ist der Wirt glücklich.“

„Und die Kasse erst recht!“ Pierre gelang es endlich, sich aus Théophiles Umarmung zu befreien. Er setzte sich an einen langen, mit Gläsern, Tellern und Flaschen übersäten Tisch, an dem einige Gestalten in verschiedenen Stadien der Trunkenheit und Verwahrlosung lungerten. Bill begab sich derweil auf die Suche nach den Mädchen.

„Was ist denn mit dem los?“ fragte Pierre seinen Kumpel Balancero und wies mit dem Daumen auf Nico, einen jungen Trompeter, der bei den Mambas spielte und jetzt ganz allein am anderen Ende des Tischs saß. „Bekommt ihm das Tageslicht nicht?“

„Hat sich mal wieder mit Souza gestritten“, erläuterte der riesige Balancero mit einem Bühnenflüstern. Er trug ein Barett, das er bis zu beiden Ohren herabgezogen hatte. „Er hat sich an Souzas Tochter rangemacht, damit die ihren Vater überredet, es mal mit einem von Nicos Arrangements zu versuchen, aber Souza hat Lunte gerochen und ist jetzt stinksauer.“

„Gar nicht wahr“, brummte Nico, der plötzlich den schwarzen, kugelrunden Kopf hob. „Wir haben uns nicht gestritten. Nicht diesmal! Laura hat ihm heimlich die Noten in die Tasche gesteckt; und er hat sie sich angeschaut und findet, was ich komponiert habe, auch ganz gut, aber er meint, wir brauchen keine neuen Nummern mehr.“ Nico blies die Backen auf. „Natürlich braucht er keine neuen Nummern mehr! Er ist bald sechzig und spielt bei den Americanos im Fernsehen und in den Clubs von Miami, aber ich, wenn ich mir nicht noch schnell nen Namen mache, werd nur die Wahl haben zwischen patriotischen Märschen und ner Karriere als Küchenhilfe. Das wird hier nicht anders laufen als in Russland. Die Revolution ist eine feine Sache, aber eher was für die Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern und nicht für jemanden, der dekadente Unterhaltungsmusik spielen will.“

„Was redest du da von Russland!“ Pierre schüttelte den Kopf. „Es wird eine Landreform geben, mehr nicht. Die Americanos und die Bosse der Centrales müssen Angst haben, klar, aber doch nicht Musiker wie du. Der Mambo, der Son, der Bolero, das ist alles unsterblich. Das wird hier immer gespielt werden.“

„Ach ja?“, rief Nico höhnisch. „Auf der Straße vielleicht! Du meinst doch nicht etwa, dass die Americanos, wenn wir ihnen ihre Plantagen wegnehmen, weiter unsere Kasinos und Clubs besuchen, wo sie bisher fett dafür bezahlt haben, dass wir ihnen ein bisschen Leben in die Lenden blasen?“

„Mein Gott, jetzt warte doch erst einmal ab! Das sind doch alles Spekulationen.“

„So so, ich soll abwarten, während Balancero mit seinen marxistischen Studenten schon den nächsten Generalstreik plant!“

Pierre blickte verblüfft zu Balancero, der sich verschämt zu ducken schien, was komisch wirkte bei jemandem mit seiner Körperfülle.

„Ist das wahr? Ich dachte, nach dem letzten Reinfall wäret ihr geheilt.“

„Wir haben mit dem Gedanken gespielt“, gestand Balancero kleinlaut.

„Pass bloß auf mit dem Scheiß! Irgendwann holen sie dich ab und rammen dir einen glühenden Grillspieß in den Arsch, wie sie’s mit Enrique getan haben.“

„Das erzählt sein Bruder doch nur um sich interessant zu machen“, warf Nico verächtlich ein.

„Ja?“ Pierre funkelte ihn wütend an. „Und ist Enrique wieder aufgetaucht?“ Dann wandte er sich wieder an Balancero. „Am besten gehst du gleich zur Garnison und erzählst ihnen, was ihr vorhabt. Aber steck vorher noch ne Dose Vaseline ein!“

„Der Congresso Estundantil ist ein offizielles Organ der Universität; und wir diskutieren dort über legitime politische Kampfmaßnahmen. Also überhaupt kein Grund für Paranoia!“

„Natürlich! Denn wir haben ja einen demokratisch gewählten Präsidenten und eine Polizei, die sich selbst an die Gesetze hält, die sie zu schützen vorgibt. Es gibt keine Gewerkschaftler, die unerklärlich verschwinden; es gibt keine Politiker, die sich beim Verlassen ihres Hauses eine Kugel einfangen; und …“

„Hey Pierre!“ Bill hatte sich mit zwei schlanken, verschwitzten Mädchen im Arm hinter seinem Freund aufgebaut. „Darf ich dir Marianna und Isabella vorstellen? Sie haben auf dem Dach alle Herren in den K.O. getanzt, sind aber immer noch nicht müde, und da dachte ich mir, wir befreien dich aus dieser verlogenen Diskussionsrunde. Balancero, dieser Heuchler, behauptet doch immer, zu den Armen zu halten, dabei hortet er in seinem Bauch genug Fett, um damit 100 Schulkinder ein ganzes Jahr lang zu ernähren.“ Er griff an Pierre vorbei nach einer der Flaschen auf dem Tisch, trank daraus, bis ihm der Rum über das Kinn lief, und reichte sie an Marianna weiter, die ihr langes, schwarzes Haar kunstvoll hoch gesteckt hatte. Ohne zu zögern setzte sie die Flasche an, trank drei tiefe Schlucke, und ehe sie sich mit dem Handrücken die Lippe abwischen konnte, hatte Bill sie gepackt und seinen Mund auf den ihren gepresst. Sie ließ sich das gerne gefallen, schlang ein Bein um seine Hüfte und reichte blind die Flasche an ihre Freundin weiter, eine Mulattin, deren kurze Locken den Schädel wie eine eng geschnittene Wollmütze bedeckten. Auch Isabella bediente sich vom Rum, ließ sich unvermittelt auf Pierres Schoß nieder und umarmte ihn mit der Flasche in der Hand.

„Hallo!“, sagte sie mit rauchiger Stimme. „Kennen wir uns nicht?“

„Das ist Pierre!“ Bill hatte sich ein wenig von Marianna gelöst. Seine Zähne blitzten, als wären sie mit Silber beschlagen. „Und mach dir keine Sorgen wegen des Rings! Den trägt er schon seit langem; und keiner weiß, warum.“

Isabella griff nach Pierres rechter Hand, studierte kurz deren Schmuck und legte sie auf ihrem Schenkel ab.

„Er ist süß.“ Sie lächelte Bill erleichtert zu.

„Hab ich’s nicht gesagt?“ Bill blickte triumphierend in die Runde. Er fasste Marianna an der Hand, führte sie um den Tisch herum zu zwei freien Stühlen und stellte ihr seine Freunde vor: „Nico kennst du ja schon, Egberto akquiriert Werbung fürs Radio; Anita erholt sich von einer unglücklichen Ehe; die drei da drüben sind nichtsnutzige Studenten; Balancero ist Journalist mit den Spezialgebieten Handtaschenraub und Versäumnisse der Stadtverwaltung; und Bernardo war Offiziersanwärter bei der glorreichen kubanischen Marine.“

„War?“ Marianna musterte Bernardo, einen hübschen Burschen, der mit glasigen Augen vor sich hin starrte.

„Er ist kurz vor Weihnachten wegen Unzucht in einem Rettungsboot entlassen worden.“ Bill blickte zu Bernardo. „War doch ein Rettungsboot, oder?“

Bernardo zuckte nur mit den Achseln. Er war der mittlere dreier Söhne eines Großgrundbesitzers aus dem Oriente. Der Älteste würde die Hacienda übernehmen; der Jüngste sollte studieren und Arzt oder Anwalt werden; und Bernardo musste der Familientradition entsprechend zum Militär. Es hatte ihn schon alle Kraft gekostet, wenigstens die Erlaubnis zu einer Laufbahn in der Marine anstatt der Armee zu erhalten. Sein Großvater, der Oberst, verachtete ihn seither unverhohlen; sein Vater hatte sich nach verbittertem Schweigen erst von der auf Knien weinenden Mutter dazu erweichen lassen, ihn nicht zu enterben: Alle Matrosen waren in seinen Augen Deserteure, die nur auf eine Gelegenheit warteten, sich nach Miami abzusetzen. Kein Kubaner hätte Schwimmen gelernt, wenn es nach ihm gegangen wäre. Er machte die Vereinigten Staaten und ihre geografische Nähe für alle Übel im eigenen Land verantwortlich.

„Das Boot hat dich vor einem Leben als Soldat gerettet. Darauf sollten wir anstoßen.“ Bill füllte ein paar große Gläser mit Rum. „Auf die Freiheit!“

Bernardo nahm eines der Gläser, zuckte aber unwillig mit dem Kopf.

„Wenn jeder tut, was er will, ist das nicht Freiheit, sondern ihr genaues Gegenteil. Schau dich doch um!“ Er machte eine große, trunkene Geste. „Wir denken nur an uns. Wir haben nie gelernt, frei zu sein, weil wir uns nicht beherrschen können.“

„Das Militär hat dich rausgeschmissen, deine Familie tut es sicher auch bald: Wie viel freier willst du denn sein? Verkauf Schuhe oder Bücher! Fahr zur See! Werd Schauspieler!“ Bill wirkte ganz beglückt von diesen Möglichkeiten und schlug Bernardo, der kaum jünger war als er selbst, kräftig auf den Rücken.

„Es würde meine Mutter umbringen“, murmelte Bernardo und kratzte an einem Wachsfleck auf der Tischplatte.

„Dann musst du es ihr halt schonend beibringen!“ Bill wandte sich an Pierre, der Isabella ein paar Zaubertricks vorführte. „Was hältst du von einem kleinen Ausflug in den Oriente? Ich war noch nie dort; und Bernardo hat Angst, alleine zu seinen Eltern zu fahren.“

„Stimmt das?“ Pierre ließ eine Münze verschwinden und blickte verwundert zu Bernardo.

„Schon, aber …“

„Na also!“ Bill warf eine Hand in die Lust. „Wir fahren mit und erklären seinen Eltern die Sache mit dem Rettungsboot. Das wird viel lustiger als drei Tage Strand.“ Er sprang auf, packte Marianna am Handgelenk und zerrte sie lachend zu der Treppe, über die sie zur Dachterrasse und der dort unermüdlich plärrenden Victrola gelangten.

Bill & Bill

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