Читать книгу Tod am Aphroditefelsen - Yanis Kostas - Страница 10
Pénte – 5
ОглавлениеZwei dunkle Augen, eng zusammenliegend, darunter eine befellte Nase und ein Maul mit kleinen Zähnen. Das Maul öffnete sich stetig, doch es kam kein »Mäh« heraus. Dafür trug das Schaf eine Polizeiuniform, die ihm wie auf den Leib geschnitten war. Es stand mitten auf der Straße und rief immer wieder: »Kato Koutrafas«, »Kato Koutrafas«, »Kato Koutrafas«. Dabei lachte es wie Kostas. Oder doch wie Adonis?
Sofia schreckte hoch. So ein beschissener Traum. Sie musste eingeschlafen sein, dabei hatte sie sich vorhin nur kurz hinlegen wollen, um nicht vor Erschöpfung und Dehydrierung umzukippen. Was für ein Tag. Sofia stand auf und ging zum Spiegel. Der Anblick auf der Bordtoilette in der Aegean hatte ihr besser gefallen. Da war sie noch sorgenfrei gewesen. Es kam ihr so vor, als wäre dieser Tag der längste ihres Lebens. Egal. Es musste weitergehen. Sie zog sich die Lippen nach, frischte ihre Wimperntusche auf und puderte sich einmal kurz ab. Dann ging sie auf den Flur, die breite Treppe hinunter und in den leeren Gastraum. Die alten Herren waren verschwunden, auch von Adonis und Constantina keine Spur. Sofia sah sich gründlich um, und als sie sich sicher war, dass die Haushexe nicht hinter der Türzarge auf sie wartete, ging sie blitzschnell hinter die Bar, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine riesige Flasche eiskaltes Wasser und eine Dose Keo. Sie hielt sich die Wasserflasche an den Kopf, dachte, dass das Pudern eben doch keine gute Idee gewesen war, und atmete dennoch erleichtert auf. Die Kühle tat so gut. Sie bemerkte, dass vor dem Kafenion eine Gestalt unter der hellblauen Markise saß, und ging hinaus. Sofia war eben durch die Tür, als ihr nicht nur die Hitze entgegenschlug, sondern ihr auch eine weibliche Stimme zusäuselte: »Oh darling, come to me, please. Come and sit down, darling, really, it is so hot, isn’t it?«
Die alte Dame, zu der die überaus elegante Stimme gehörte, sah aus wie ein Weihnachtsbaum. Sie hatte zwar eine weite weiße Bluse aus Leinen an, dazu eine passende Hose. Doch sie war über und über behangen mit goldenen Ketten und Armreifen, mit breiten runden Ohrringen, bunte Bänder zierten ihre Handgelenke, als wäre sie ein Teenager mitten in der Sommerfestivalsaison. Sie hatte weiße Haare, die wild vom Kopf abstanden, und ein Gesicht, das die gleiche Farbe hatte wie die Gesichter der alten Männer. Nur die Furchen waren viel weniger ausgeprägt – sie war insgesamt sehr gepflegt und wohl ihr Leben lang eine gute Kundin der französischen Kosmetikindustrie gewesen. Ein durch und durch erfreulicher Anblick. Ihre kleinen Augen schauten freundlich, fast euphorisch drein, während sie Sofia zu sich winkte, die der Einladung gerne folgte. In der Sonne hätte sie es ohnehin nicht länger ausgehalten.
»Oh darling, ich sehe, du hast Getränke gefunden. Wonderful, ansonsten hätte ich dir etwas gebracht.«
»Gehören Sie auch zur Familie?«, fragte Sofia und zeigte auf das Kafenion.
»Oh no, my dear. And I’m thankful every day. Sehr, sehr dankbar. Was für eine Familie. Aber du hast sie ja kennengelernt. Wie unhöflich, dass ich mich nicht vorstelle. Lady Georgia Gladstone, Frau des verstorbenen Sir Richard Gladstone, aus Sussex in England. Und du, my dear, bist auch von dort? Das ist jedenfalls, was die Menschen im Dorf erzählen.«
»Es freut mich sehr, Lady Gladstone. Ich bin Sofia Perikles. Ich habe lange in England gelebt, aber eigentlich bin ich von hier. Also, nicht genau von hier. Sondern aus Limassol. Ich bin die Tochter des Botschafters Perikles.«
Sofia brauchte nur die beiden Worte Botschafter und Perikles auszusprechen, und schon hauchte die Lady: »Oh, wonderful, the ambassador. I think I met him, wann war das noch gleich, auf einer Party in Geneva, in Genf, in den Achtzigern. Kann das sein? Oh, meine Liebe, da warst du noch nicht mal auf der Welt, nehme ich an?«
Es stimmte wirklich: Jeder aus Zypern, der über dreißig war, kannte ihren Vater – immerhin war er seit Jahrzehnten im diplomatischen Dienst und inzwischen ein regelrechter Promi. Und diese Lady hier war eher drei mal dreißig Jahre alt.
»Und was macht eine englische Lady wie Sie hier in diesem …«
»Kuhkaff? Sprich es ruhig aus, my dear. Nun ja, mein Kind, ich bin hier geboren. Auch ich bin Zypriotin. Ich war die Tochter des wichtigsten Schafbauern im Ort. Damals war Kato Koutrafas eine blühende Gemeinde, in den Dreißigern und Vierzigern.«
»Und wie haben Sie es dann bis nach Sussex gebracht?«
»Die Liebe, my dear, die Liebe. Ein britischer Lord hat seinen Armeedienst im Commonwealth-Außenterritorium gemacht. Einer der drei Söhne von Familie Gladstone. Die Einheit war im Kafenion in Nikosia untergebracht, genau wie ich. Ich kann dir sagen, ich war ein verdammt heißer Feger damals. Der arme alte Lord, Gott hab ihn selig, konnte gar nicht anders, als mir innerhalb von Stunden zu Füßen zu liegen. Er hat mich nach einigen Monaten, als sein Dienst beendet war, mit nach England genommen. Und dann hatten wir ein sehr schönes Leben in Sussex. Bis ich die Nase voll hatte vom endlosen Regen dort drüben. It is horrible, isn’t it?«
Sofia nickte und wollte etwas erwidern, aber Lady Gladstone sprach einfach unbeirrt weiter.
»Da hab ich so lange genörgelt, bis er im Foreign Office nachgefragt hat, ob es einen Job für ihn gibt. Was soll ich sagen: Er war ein Lord. Sie haben ihn nach zwei Wochen ziehen lassen und extra eine Stelle für ihn geschaffen. In Nikosia. Wir hatten ein wunderschönes Haus oberhalb von Kyrenia. Die Orangenbäume blühten um uns herum, das ganze Jahr lang, und das Meer glitzerte. Ich erinnere mich, als würde ich immer noch dort sein.«
Kyrenia. Noch so eine Sache. Es gab keinen Zyprioten über fünfzig, der nicht von Kyrenia schwärmte. Die schönste Stadt der Insel, die jetzt den plumpen Namen Girne trug. Ein Hafen wie eine Sichel, wunderschöne weiße Häuser, ein kleiner Marktplatz, traditionelle Tavernen und die endlose Sonne in der vor Wind geschützten Bucht. Kein Wunder, dass sich die Türken genau diese Stadt gekrallt hatten, als sie in den Siebzigern die Insel überfielen und den Norden einnahmen. Kurz nachdem die britischen Kolonialherren den Zyprioten die Freiheit geschenkt hatten. Richtig gutes Timing – für die Türken. Echt mieses für die griechischen Inselbewohner.
»Und was ist dann passiert?« Sofia hörte atemlos zu. Am Anfang hatte sie Lady Gladstone etwas exaltiert gefunden, aber mittlerweile hing sie wie gebannt an ihren Lippen. Sie war eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Und Sofia brannte darauf zu erfahren, warum sie statt in Kyrenia oder Sussex jetzt hier in diesem Kaff gelandet war.
»Oh, my dear. Du kennst ja unsere Geschichte. Kein Stein war mehr auf dem anderen. Der gute alte Lord Gladstone, er war ein tapferer Held. Er war im Außenministerium zuständig für die Polizeikräfte der zypriotischen Regierung. Eine Schlüsselposition, besonders als die Krise begann. Sie haben ihn schnell ausgemacht, die verdammten Hunde von der Befreiungsfront. Die verdammte EOKA.«
Sie brach ab, und Sofia spürte, wie sie mit sich rang. Die Geschichte dieser Insel hatte so viele Opfer gefordert. Und die EOKA, diese sogenannten Patrioten, hatte den ganzen Quatsch, der zur türkischen Invasion führte, erst ausgelöst.
»Sie haben ihn, als er auf einer Fahrt nach Paphos war, in die Luft gesprengt. Mit einer simplen Bombe auf der Straße. Er war nicht sofort tot, ich hatte noch das Glück, mich von ihm verabschieden zu können. Und dann war ich Witwe, mit 39. Kinderlos. Und die Familie Gladstone in Sussex gab mir die Schuld an allem. In deren Augen hatte ich ihren mittleren Sohn in ein Kriegsgebiet entführt – sie strichen mir jegliche Unterstützung. Ich hatte aber das Haus in Kyrenia, wir hatten es sofort gekauft, als wir zusammengezogen waren. Aber ich hatte es eben nur, bis die Türken kamen. Sie vertrieben uns alle. Und jetzt hängt in dieser wunderschönen Stadt an jeder Laterne eine rote Flagge mit Sichel. Es ist nicht auszuhalten. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr drüben.«
Da war es wieder. Drüben.
»Das ist ja eine furchtbare Geschichte. Es tut mir sehr leid«, sagte Sofia.
»Oh, my dear. Das nennt sich Leben. Ich bin sehr dankbar. Wir hatten gute Jahre. Ich war sehr glücklich mit dem wunderbaren Lord Gladstone. Und ich trage seinen Namen und sein Andenken in Ehren, ich habe seitdem nicht einmal mehr einen anderen Mann angeschaut. Na ja, also, ich meine, zumindest keinen in meinem Alter.« Sie lachte.
»Ich verstehe …«
»Ich meine … dieser Christos … Hast du ihn schon kennengelernt?«
»Wen?«
»Christos. Den Barmann. Adonis’ Bruder.«
»Ob ich ihn schon kennengelernt habe? Nein. Aber wenn die beiden Brüder Zwillinge sind, dann wird Christos …«
Lady Gladstone schüttelte den Kopf. »Zweieiige, mein Kind, zweieiige Zwillinge. Na, wart’s nur ab.« Wieder brach sie ab und lachte wie ein junges Mädchen. »Jedenfalls hatte ich keinen Ort mehr, an dem ich sein konnte. Ich hatte kein Haus mehr, die Familie meines Mannes wollte mir kein Geld geben, nach Antarktis-England wollte ich um keinen Preis zurück. Also bin ich wieder in mein Heimatdorf zurückgekehrt. Hierher. Heimat ist sehr wichtig, wenn man nichts mehr hat und sich sehr allein fühlt, mein Kind, du wirst es eines Tages noch bemerken.«
Sie hatte recht. Vor wenigen Minuten noch hatte Sofia gedacht, dass eines Tages bereits eingetreten war, und sie hatte an keinem Ort der Welt lieber sein wollen als in Limassol. In ihrer großen Villa am Strand. Mit ihrer Mutter, die am Pool lag und Baudelaire las. Oder Rimbaud. Und mit ihrem Vater, der die Geschichte des Ersten Weltkrieges studierte. Mit einem kühlen Glas Champagner in der Hand. Doch nun, während des Gesprächs mit der alten Frau, spürte sie, dass es ihr schon besser ging.
»Ich habe eine Weile genäht und gestickt, und wir haben die Sachen an Touristen verkauft. Dann war ich im Halloumi-Marketing. Und dann habe ich einen Spezialitäten-Versandhandel mit zypriotischen Produkten in England eröffnet. So hatte ich ein Auskommen. Und nun zahlt der Staat für mich. Mehr schlecht als recht.«
Sofia besah sich ihren Schmuck. So schlecht konnte die Rente jedenfalls nicht sein. Beim derzeitigen Goldpreis hätte die Lady sich allein mit ihrem rechten Arm das Haus in Kyrenia zurückkaufen können. Oder es waren allesamt Schmuckstücke aus der Ehe mit Lord Gladstone. Sofia hätte gern ein Foto dieses feinen englischen Herren gesehen.
»Ich danke Ihnen für diese wunderbare Erzählung«, sagte sie und meinte jedes Wort genau so, wie sie es sagte. »Sie haben mir einen merkwürdigen Tag ein Stück leichter gemacht.«
Lady Gladstone nahm Sofias Hand und drückte sie fest.
»So gern, my dear. Wirst du hierbleiben? In meiner Nähe? Es wäre schön, eine Freundin im Ort zu haben, die weiß, wie es in der Aristokratie zugeht, und die sich dann und wann gern anregend unterhält. Die meisten anderen Damen im Ort sind … nun ja, wie sage ich es höflich, Bäuerinnen.«
Sofia trank einen großen Schluck Wasser und schaute zum ersten Mal seit einer halben Stunde nicht in Lady Gladstones faltiges Gesicht, sondern auf die staubige Landstraße. Seitdem sie sprachen, war nicht ein einziges Auto vorbeigekommen. Es fehlte eigentlich nur der Tumbleweed, der wie in den Western einmal quer über die Straße wehte.
»Ich kann das noch nicht versprechen. Ich denke, mich hat ein gewaltiger Irrtum hierhergeführt. Ich werde meinen Vater anrufen, der alle Hebel in Bewegung setzen wird, um mich auf meinen eigentlichen Posten zu verfrachten. Nach Nikosia. Aber natürlich kann ich auch von da ab und zu hierherkommen, und wir können uns auf einen Tee verabreden.«
»Oder einen Drink. Ich bevorzuge einen Drink«, sagte die Lady und lachte. »Aber bitte, my dear, erzähl mir von dem Irrtum. Was ist passiert?«
Sofia umriss in groben Zügen die Geschehnisse der letzten Monate – von der Bewerbung im Innenministerium bis zu den Neuwahlen, ihrer Ankunft am Morgen, der Mail am Flughafen und der ersten Begegnung mit den Menschen von Kato Koutrafas. Als sie geendet hatte, sah die alte Frau Sofia fasziniert an.
»Die neue Kollegin von Kostas. Wer hätte das gedacht.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht gedacht hätte, dass jemals wieder jemand mit Kostas zusammenarbeitet. Selbst die Bürger von Kato Koutrafas trauen sich nicht in seinen Container. Wenn was passiert ist, klärt man es selbst. Nur wer Ärger will – oder ganz schlechte Laune braucht –, der klopft an die Tür. Und zur Wahl, als sie den Container zum Wahllokal umfunktioniert haben, hat jeder Wähler erst mal vorm Reingehen geprüft, ob Kostas auch ja nicht im Büro ist.«
»Aber wie kann das sein? Er ist doch der Polizist?«
»Das ist eine lange Geschichte. Und die erzähle ich dir ein anderes Mal. Ich muss los, ich muss die Waren des Tages nach England schicken. Ich arbeite schließlich noch, bei der Rente. Also, wir sehen uns bald. Wir werden noch viel Zeit haben. Bye bye, my dear.«
Sie stand auf, deutete zwei Küsse in die Luft an und wackelte davon, auf hohen Hacken über die Dorfstraße. Kein Wunder, dass sie hier keine Freundinnen fand. Sie war ein echter Paradiesvogel.
Etwas in ihrem Innern sagte Sofia, dass es vielleicht wirklich nicht schlecht wäre, hier eine Freundin zu haben – falls, ja, falls das Ganze hier doch eine Weile länger dauern würde.
Sie nahm endlich das Keo aus dem Schatten und öffnete es. Dann führte sie die gelbe Dose an den Mund und trank das kalte Bier in einem Zug. Sofort schmeckte sie die Heimat. Das Bier aus der Brauerei in Limassol schmeckte wie ihr Zuhause. Es war sofort alles wieder da. Sie lächelte. Nun würde sie nach Nikosia fahren. Für den Abend konnte sie etwas Ablenkung gebrauchen. Sofia öffnete die Tür zum Kafenion und ging hinein.
Und dann sah sie Christos.