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Eptá – 7

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Sofia bekam immer gute Laune, wenn sie die breite Einfallstraße nahm, die sie ins Zentrum der Hauptstadt führte, durch die Gewerbegebiete der Vorstädte, am Busbahnhof vorbei und auf eine riesige Brache mitten in der Stadt, wo sie parkte. Sofort wurde ihr Auto umschwärmt von zwanzig herrenlosen Katzen. Sie sahen wohlgenährt aus. Wahrscheinlich fütterte sie der alte Mann, der auf einem Plastikstuhl saß und von den Gästen des Parkplatzes die drei Euro einsammelte. Tagesgebühr. Das zahlte sie in London für eine halbe Stunde.

Nikosia strahlte Großstadtflair aus. Als einzige Stadt in Zypern. Dabei war es nicht viel größer als eine mittlere Kleinstadt in Kontinentaleuropa. Eine Viertelmillion Einwohner. Auf einer Fläche so groß wie Newcastle oder Tübingen.

Es schien hier noch heißer zu sein als in Kato Koutrafas. Das lag wahrscheinlich an dem ganzen Asphalt und Beton, die die Hitze zurückstrahlten. Im Sommer war es hier nicht auszuhalten, deswegen blieb Sofias Familie immer am Meer, wenn die Tage zu heiß wurden. Im Winter war es dafür stets zehn Grad kälter als an der Küste. Sogar schneien konnte es dann.

Sofia ging durch zwei kleinere Straßen immer geradeaus in Richtung Ledra Street, die Haupteinkaufsstraße und gleichzeitig der wichtigste Grenzübergang. Die Straßen waren immer noch englisch bezeichnet, ein Relikt aus Zyperns Zeit unter britischer Krone. Einige Meter vor der Ledra kam sie an der Querstraße Grammou vorbei, blickte hinein, und sofort durchlief sie dieses Schaudern aus Aufregung und Heimatgefühl. Am Ende der Straße sah sie Dutzende übereinandergestapelte Sandsäcke. Zwei oder drei Hinweisschilder, die das Weitergehen und das Fotografieren verboten. Oberhalb befanden sich mehrere viereckige Schießscharten. Und über allem stand der wackelige Wachturm auf seinen vier dünnen Beinen. Darauf hatte sich ein junger Soldat mit einem Gewehr postiert. Und auch hinter einer der Schießscharten sah sie einen sitzen, einen noch jüngeren. Sie konnte sogar die Akne in seinem Gesicht erkennen, er war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt.

Nikosia war die letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Hier, mitten in der Stadt verlief die Grenze. Und diese jungen Soldaten, diese Kinder, beschützten einen Grenzwall, den eigentlich niemand mehr wollte, niemand mehr brauchte, der nichts mehr verhinderte als nur den alten Affen Angst. Auf dieser Seite waren es die griechisch-zypriotischen Soldaten, auf der anderen Seite einige Meter weiter die türkischen. Und in der Mitte gab es Container mit Blauhelmsoldaten der UNO. Es war eine bizarre Situation. Die Mauer aus Steinen und Sandsäcken zog sich durch die ganze Stadt. Blickte man hinüber, sah man in Sichtweite die Türme der großen Moschee und immer wieder aufreizend gehisst die türkischen Flaggen. Die Türken drüben liebten es zu provozieren. Sie zu provozieren. Sie, die Griechen. Die selbst ein so stolzes Volk waren. Das gerne provozierte. Griechen und Türken. Maus und Katze. Wobei die Griechen natürlich die kluge, flinke Maus waren und die Türken die riesige dämliche Katze. So sahen es zumindest die Griechen.

Eigentlich hatte Sofia dazu keine Meinung. Doch von klein auf war ihr wie jedem griechisch-zypriotischen Kind beigebracht worden, dass die Türken hinterhältig und nationalistisch seien und man sie deshalb fürchten und, noch wichtiger, verachten müsse. Sie hatte sich nicht wehren können. Der Ärger, oder besser der Hass, wurde hier vererbt.

Dabei, dachte Sofia, sind wir uns schon sehr ähnlich, wir beiden Völker. Ängstlich vorm jeweils anderen. Gastfreundlich, chaotisch, liebenswert. Wir würden all die Ähnlichkeit nur niemals zugeben. Wir würden nur zugeben, dass die Türken immer ein wenig schlimmer sind als wir.

Sofia spürte, wie sie von dem jungen Soldaten auf dem Wachturm gemustert wurde, was wohl mehr eine Frage der Anziehung als von innerer Sicherheit war. Er schmiss seine Kippe weg, die von der Mauer abprallte und aus der Sperrzone auf die griechische Seite fiel. Die Zigarette als Grenzgänger. Sofia winkte ihm lächelnd zu und ging dann die paar Meter in Richtung Ledra. Sofort war sie in einer anderen Stadt, so schien es ihr. Hier gab es alles, was es auch in jeder englischen High Street gab. H&M, Mango, Marks&Spencer, Zara. Zusätzlich gab es aber auch noch das beste Souvlaki der Stadt, gegrillt auf Holzkohle. Krosse Pita, frische Pommes und wunderbar gegrilltes Schweinefleisch. Dieser Laden hatte ihr schon oft das Leben gerettet, wenn sie nachts um vier völlig betrunken aus einer der Bars weiter unten in der Altstadt getorkelt war.

Sie schaute sich aufmerksam die Menschen an, die die Ledra entlanggingen, und bummelte langsam an den Schaufenstern vorbei. Es gab zwei Unterschiede, verglichen mit der Oxford Street in London. Erstens: Die Menschen wirkten viel entspannter. Sie schlenderten, blieben stehen, quatschten – und zwar mit fast jedem, den sie erblickten. Es waren ungemein viele Familien hier, die Kinder liefen wild kreuz und quer durch die Fußgängerzone, zogen hier an Mamas Bein, wurden dort von Papa in die Luft geschleudert. Zweitens: Es gab genauso viele Boutiquen und Schuhläden wie traditionelle Geschäfte für orthodoxe Ikonen und Kirchenbedarf. In fast jedem zweiten Schaufenster standen Gottheiten und Marienabbildungen in feinstem Silber, daneben goldene Ornamente und Kerzen. Sofia geriet beim Schlendern in fast kontemplative Stimmung.

Schließlich bog sie von der Ledra ab, zog an der riesigen Faneromenis-Kirche vorbei mit ihren Säulen und der wunderschönen Kuppel, die die Altstadt überragte, und bog in die Lefkonos Street. Wieder war da die Grenze. Dahinter wieder die türkische Flagge. Die Mauer auf ihrer Seite war blau-weiß gestreift angemalt. Die letzten Gebäude vor der Grenze waren früher einmal Wohnhäuser gewesen, jedenfalls bis die Invasion und die Teilung gekommen waren. Jetzt waren es Geisterhäuser, deren Fenster in den oberen Etagen rausgenommen und entweder zugemauert oder durch Sandsäcke ersetzt worden waren. Die Einschusslöcher und riesigen Krater im Mauerwerk zeugten davon, dass Zypern in den Siebzigern wirklich kein Spielplatz gewesen war, kein niedliches kleines Inselchen. Sondern ein echtes Kriegsgebiet. Sofia lief es kalt den Rücken runter.

Kurz vor der Sperrzone in Sichtweite der Schießscharten und der Soldaten hatte ein findiger Grieche einen kleinen Pavillon aufgebaut. Kebab-House stand über dem Eingang, und kam man näher, erkannte man auch, was auf den vielen Schildern stand, die rund um den Pavillon aufgestellt waren: Berlin Wall. So oder so ähnlich musste es im geteilten Berlin ausgesehen haben. Es war bloß noch gefährlicher gewesen. Und sicherlich viel kälter. Überall um den Tresen hingen Devotionalien aus Ost- und West-Berlin: ein Schild vom Checkpoint Charlie, Berliner Ortsschilder, alte Fotos. Ansonsten war es eine ganz normale Kebab-Bude. Und heute Abend eine ziemlich laute. Sie waren alle schon da.

Sofia konnte beim Näherkommen jede einzelne Stimme ausmachen. Sie war ewig nicht hier gewesen.

»Sofia«, rief der Erste, der sie sah.

»Sofia, Sofia«, stimmten dann ihre Freundinnen ein, und Dana war die Erste, die auf sie zustürmte und ihr fest um den Hals fiel.

Endlich, ich bin zu Hause, dachte Sofia. Auch sie umarmte Dana, drückte ganz fest zu und vergrub ihr Gesicht in ihrem Haar, küsste sie, und als sie sich wieder losließen und Dana Sofia ansah, fragte ihre Freundin: »Hast du geweint? Sofia, was ist los?«

Sie zog den Neuankömmling hinter sich her ins Berlin Wall, hielt ihre Hand ganz fest und setzte sie auf einen Stuhl. Sofia wurde von den anderen bestürmt, von Chloe, Lefteris und von Nikolaio, die hier auf sie gewartet hatten. Doch Dana unterbrach sie alle mit einer Handbewegung und rief in Richtung Barkeeper: »Bring uns zwei Flaschen Xynisteri und sieben Gläser, paragalo. Und nun, Sofia, erzähl, was ist los?«

Alle schauten sie an, schienen ihre feuchten Augen zu bemerken und zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Sofia wartete noch auf den wunderbaren kalten fruchtigen Weißwein aus dem Troodos-Gebirge, auf den sie sich seit Wochen gefreut hatte. Weil er immer einen besonders schönen Schwips machte. Dann begann sie, ihre Geschichte zu erzählen. Und die Augen ihrer Freunde weiteten sich, bevor sie sich zu Schlitzen verengten. Die Highlights waren wohl die Mail vom Hornochsen von Innenminister – die sie vollständig vorlas – und das Aufeinandertreffen mit Kostas Karamanlis, dem besoffenen Polizeichef.

Für Dana gab es aber noch ein Highlight: »Na, sieh mal, du strahlst ja schon wieder«, sagte sie, »und komischerweise, seit du von dem Barkeeper aus dem Kafenion angefangen hast. Zeig mal ein Foto.«

»Ich kann den Kerl doch nicht einfach fotografieren«, entgegnete Sofia.

»Wieso denn nicht?«, fragte ihre Freundin. »Du bist jetzt die Dorfpolizistin. Für deine Kartei.«

Ein lauter Lachflash der Freundinnen folgte, die Jungs sahen sich an und rollten mit den Augen.

»Ihr müsst mich da besuchen kommen.«

Sofort schauten alle irgendwie betreten.

»Ach, Süße, du weißt doch, ich hab so Unistress«, sagte Dana, und die anderen stimmten ein.

»Was willst du machen?«, fragte schließlich Nikolaio. »Das kann doch nicht sein, dass die Regierung so mit dir umspringt. Du hast dich doch auf eine ganz andere Stelle beworben. Da kann der doch nicht einfach Operation Zeus ausrufen …«

»Operation Prometheus«, korrigierte Sofia.

»Wie auch immer der Typ das genannt hat. Also: Du musst da hingehen. Zum Ministerium. Und dich beschweren. Du hast einen Vertrag. Wenn ich schon Anwalt wäre, dann würde ich die für dich verklagen.«

Dabei sah er sie wieder an, als würde er noch ganz andere Dinge für sie tun. Nach wie vor. Seit achtzehn Semestern studierte Nikolaio Jura. Er sah nicht schlecht aus und stammte aus einer richtig wohlhabenden Familie in Nikosia. Er würde sein Studium nie zu Ende bringen. Cabrio und Eigentumswohnung am Meer gab es auch so. Sie hatte sich nie mit ihm eingelassen. Er hatte einfach einen zu riesigen Stock im Arsch. Außerdem hatte sie mal eine Liaison mit Lefteris gehabt. Dem Immobilientycoon, der keiner war, aber gerne einer wäre, und neben dem sie nicht noch mit jemand anderem aus ihrer Clique rummachen wollte.

»Ich hab doch erzählt, was der Typ im Fernsehen gesagt hat. Die ziehen das jetzt durch. Und meinst du, irgendeiner im Volk beschwert sich darüber, wenn die Politiker etwas gegen die höheren Beamten machen? Da klatschen alle Beifall. Weißt doch, wie die Stimmung seit der Krise ist.«

»Aber es geht trotzdem nicht«, sagte Dana – auch sie eine Tochter aus gutem Hause. Sie hatte mit achtzehn ihre eigene Birkin Bag bekommen und trug ihr weißblond gefärbtes Haar kurz über ihren stets schulterfreien Kleidern.

»Die können das nicht mit dir machen. Dich zu solchen Bauern zu schicken«, pflichtete Chloe Dana bei. »Das sind Wilde. Die haben ja nicht mal jeden Tag Strom. Hab ich gehört. Gibt’s da Netz? Sorry, aber da kann ich dich echt nicht besuchen. Das würde mein Vater nie erlauben.«

Klar, dachte Sofia. Aber er erlaubt dir sicher, jedes Wochenende kiloweise Koks durch die Nase zu ziehen.

»Ach, wisst ihr, die sind alle sehr nett da, wirklich. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen und habe sogar schon eine echte englische Lady kennengelernt, die spannende Geschichten erzählt«, begann sie und spürte, dass sie sich selbst komisch vorkam, als sie anfing, Kato Koutrafas zu verteidigen. Doch etwas in ihr hatte sich zusammengekrampft, als Chloe die Bewohner des kleinen Dorfes so beleidigte, die sie, Sofia, heute erst kennengelernt hatte. Chloe sah sie ratlos an und nahm dann einen großen Schluck Xynisteri. Die anderen taten es ihr gleich.

»Nun gut, Leute, wollen wir Sofias Rückkehr wie geplant feiern?«, fragte Dana.

»Ja«, riefen Lefteris und Chloe, und alle waren froh über die Ablenkung. Sie zahlten, und dann schlugen sie sich durch in die Altstadt auf der Suche nach lauter Musik, kaltem Gin Tonic und endloser Zerstreuung.

Tod am Aphroditefelsen

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