Читать книгу Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen - Yasar Kirgiz - Страница 7
1 Einleitung
ОглавлениеSeit den sechziger Jahren sind Kurd*innen ein Teil von dynamischen Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten in die westeuropäischen Staaten, insbesondere nach Deutschland (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 218, Şenol 1992: 186). Seither hat die Migration der Kurd*innen praktisch nie aufgehört – auch wenn sie von Zeit zu Zeit abgenommen hat. Die letzte Welle der (Flucht‑)Migration der Kurd*innen – hauptsächlich aus Syrien und dem Irak – begann um 2014, intensivierte sich in den Jahren 2015/2016 und hält, wenn auch nicht mit gleicher Intensität, weiterhin an (vgl. Pürckhauer 2019). Da die Konflikte in den Herkunftsländern der Kurd*innen fortbestehen bzw. sich intensivieren, ist ein Ende ihrer Flucht(‑Migration) nicht abzusehen. Schon jetzt bilden die Kurd*innen eine der größten Migrant*innengruppen in Deutschland; ihre Zahl wird auf 1,2 Millionen Menschen geschätzt (vgl. Engin 2019: 9).
Die sozialpolitische Situation der Kurd*innen in Deutschland und in ihren Herkunftsländern dominiert die Themen, die in Deutschland in die öffentlichen und zum Teil auch in die wissenschaftlichen Diskussionen gelangen. Ihre alltägliche Lebenswelt, ihre sozioökomische und soziolinguistische Situation in Deutschland stehen dagegen kaum zur Diskussion und werden seitens der Forschung wenig aufgegriffen (vgl. Karataş 2019: 12, Ozmen 2010: 162, Schleimer 2019: 84). Der Spracherwerb ihrer Kinder unter Einbeziehung ihrer Sprache hat beispielsweise so gut wie keine Beachtung gefunden. Und dies trotz der Tatsache, dass an den allermeisten existierenden Studien zum Spracherwerb immer wieder auch kurdischsprachige Kinder beteiligt waren (vgl. Apeltauer 2008, Reich 2009).
Die vorliegende Studie betritt also ein neues Forschungsfeld. Dabei befasst sie sich in einer longitudinal angelegten Konzeption damit, wie sich die Sprachkompetenz der sechs ausgewählten Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in Kurmancî-Kurdisch und in Deutsch entwickelt. Zu diesem Zweck wurden über den Zeitraum von etwa acht Monaten in einer bilingual kurdisch-deutschen Kindertagesstätte mit verschiedenen Methoden und Instrumenten Daten erhoben.
Die Varietät Kurmancî des Kurdischen, die hier der Untersuchungsgegenstand ist, wird Schätzungen zufolge von etwa zwei Dritteln der Kurd*innen weltweit gesprochen (vgl. Bulut 2018: XX). Selbst wenn die kurdische Diaspora in Westeuropa bzw. in Deutschland gesondert betrachtet wird, so müsste laut Ammann immer noch die Zahl der kurmancîsprachigen Kurd*innen überwiegen (vgl. Ammann 2019: 28, siehe auch Ghaderi 2014: 136).
Damit die vorliegende Studie sich in diesem neuen und zudem überaus großen Forschungsfeld nicht „verirrt“, operiert sie mit bestimmten Forschungsfragen, die in Kapitel 2 ausgeführt werden. Die Forschungsfragen strukturieren die Studie und richten sie auf ihr Ziel aus: auf Erfassung und ersten Einblick zur Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch bei Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren. In Kapitel 2 sind außerdem die Hypothesen der Studie ausgeführt und erläutert, die den Blick auf den Forschungsgegenstand zusätzlich schärfen. Im Anschluss daran folgt das Kapitel zum Forschungsdesign (Kapitel 3), welches das Format, die Methoden und Instrumente der Studie vorstellt und kurze Informationen zu den Studienkindern beinhaltet.
Kapitel 4 verfolgt zunächst das Ziel, im weiteren Sinne das Kurdische und im engeren Sinne das Kurmancî-Kurdisch zu kontextualisieren. Dabei wird zunächst ein Überblick über die Länder und Regionen gegeben, in denen das Kurdische, insbesondere das Kurmancî, geschichtlich beheimatet ist, und wie seine Varietäten aufgeteilt sind. Dazu werden zwei Landkarten zur Illustration herangezogen. Die Kontextualisierung wird mit einem Überblick zu den soziolinguistischen Rahmenbedingungen des Kurdischen/Kurmancî in den Herkunftsländern Irak, Syrien, Iran und Türkei fortgeführt. Dem folgen Ausführungen zur Migrationsgeschichte der Kurd*innen in den westeuropäischen Staaten. Dabei geht der Blick vom Allgemeinen zum Spezifischen: Erst wird die westeuropäische, dann die deutsche und schließlich die Berliner Diaspora der Kurd*innen dargestellt. In Berlin befindet sich auch das Forschungsfeld dieser Studie.
Auf die allgemeine Kontextualisierung des Kurdischen/Kurmancî folgt, ebenfalls in Kapitel 4, die grammatische Charakterisierung des Kurmancî. Dabei wird auf die phonologischen, syntaktischen und vor allem auf die morphologischen Charakteristiken wie Ezafe, Obliquus und Tempusformen eingegangen. Dieser Teil dient als Grundlage für die Ausführungen zu den grammatischen Merkmalen der sprachlichen Daten der Studienkinder.
Spiegelbildlich wird ebenso in Kapitel 4 mit der Erläuterung der grammatischen Merkmale des Deutschen verfahren. Der Unterschied ist dabei, dass die Erläuterungen zum Deutschen auf eine breite Grundlage in der Spracherwerbsforschung zurückgreifen können (vgl. u.a. Kaltenbacher 2015, Kauschke 2012, Meisel 2009, Ruberg/Rothweiler 2012, Schulz/Tracy 2011, Wegener 1995). In Kurmancî muss dagegen aufgrund fehlender Studien zum Spracherwerb auf allgemeine grammatische Untersuchungen – auch kurmancîsprachige – zurückgegriffen werden (vgl. u.a. Bedir Khan/Lescot 1986, Haig/Öpengin 2018, MacKenzie 1961, Omarkhali 2011, Tan 2005).
In Kapitel 5 finden sich schließlich beide Sprachen unter dem umfassenden „Dach“ des Begriffs der „Mehrsprachigkeit“. Es wird dabei sowohl auf allgemeine Grundlagen als auch auf den Kontext Kindertagesstätte – im Folgenden meist als Kita abgekürzt – eingegangen. Hier wird zunächst versucht, Bilingualismus/Mehrsprachigkeit zu definieren. Des Weiteren werden zentrale Theorien des Spracherwerbs kurz umrissen, die versuchen, den Spracherwerb aus der kognitiven Perspektive zu erläutern (vgl. Grießhaber 2010, Katerbow 2013, Schulz/Grimm 2012). Darüber hinaus erfolgt die Kategorisierung des Erwerbs des Deutschen, der das Alter und der Beginn des systematischen Zuganges zugrunde gelegt werden. In diesem Kapitel wird auch auf den Erwerb der Erzähl- und Grammatikkompetenz eingegangen und in dieser Weise eine Grundlage für die Analyse der Daten geschaffen.
Kapitel 6 der Studie ist ihrem Forschungskontext, methodischen Vorgehen und ihren Studienkindern gewidmet. Die Kindertagesstätte Pîya, die im Folgenden meist als Kita Pîya bezeichnet wird, stellt den Forschungskontext der Studie dar. Bezüglich der Kita Pîya, die bilingual Kurmancî-Deutsch konzipiert ist, werden zunächst einige Eckpunkte – Gründungsjahr, Kapazität, Konzept, Gründungshintergründe etc. – eingeführt. Den Schwerpunkt der Ausführungen bildet jedoch die Darstellung der bilingualen Praxis der Kita. Diese Darstellung beruht hauptsächlich auf den Erkenntnissen der Leitfadeninterviews mit den Erzieher*innen. Im Einzelnen wird auf die materiellen und personellen Ressourcen der Kita eingegangen. Dabei werden die Herausforderungen und Schwierigkeiten erläutert, die Erzieher*innen im Kita-Alltag insbesondere im Hinblick auf das Kurmancî zu überwinden haben.
Ein großer Teil des Kapitels 6 handelt von dem methodischen Vorgehen. In diesem Zusammenhang werden zunächst die Leitfadeninterviews erläutert, die mit den Erzieher*innen, der Leitung der Kita und der Geschäftsführung des Kita-Trägers durchgeführt worden sind. Auf die Darstellung der Leitfadeninterviews folgt die Erläuterung des Fragebogens für Eltern, der aus zwei Teilen besteht. Dieser wurde um offene Fragen zur Sprachenbiografie der Eltern ergänzt. Die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen wurden, dienen dazu, die Rahmenbedingungen des Spracherwerbs der Studienkinder auszuleuchten.
Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Dokumentation und Analyse des Spracherwerbs und der Sprachkompetenz der Studienkinder. Dies erfolgt mit drei verschiedenen Instrumenten: LITMUS-MAIN – ab hier meist nur noch als MAIN abgekürzt (Gagarina et al. 2012, 2019a), LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011) und HAVAS 5 (Reich/Roth 2004a, 2004b). Hinzu kommt als Ergänzung eine speziell für diese Studie zusammengestellte Lexikonabfrage. Für welche Sprachen, wie oft und in welchen Zeitabständen diese Instrumente eingesetzt waren, wird im Detail im dritten Kapitel „Design der Studie“ erläutert. In Kapitel 6 wird dagegen ausführlich dargestellt, was genau mit diesen Instrumenten elizitiert wird. Hier finden sich ausführliche Erläuterungen zur Vorbereitung, Durchführung und Auswertung dieser Instrumente. Die Erläuterungen zu MAIN und LiSe-DaZ, die die zwei Hauptinstrumente der Studie bilden, sind dabei umfangreicher und umfassen auch ihre theoretischen Grundlagen.
In Kapitel 6 erfolgt auch die Vorstellung der Studienkinder ausgehend von den Erkenntnissen, die durch Eltern, Erzieher*innen sowie durch teilnehmende Beobachtungen ermittelt wurden. Dabei werden der Weg und die Zugangsbedingungen der Studienkinder zu ihren Sprachen detailliert herausgearbeitet und erläutert. Dadurch wird die Analyse ihrer Kompetenz in ihren Sprachen im späteren Verlauf nachvollziehbarer.
Kapitel 7 ist der umfangreichste Teil der Studie und führt die Ergebnisse nach Sprachen aufgegliedert im Detail aus. Zunächst werden die sprachlichen Ergebnisse der Studienkinder in Kurmancî mit MAIN und in Deutsch mit MAIN und LiSe-DaZ kurz erörtert und tabellarisch dargestellt. Die Erörterung und Darlegung erfolgt für jedes Kind einzeln und gegliedert nach einzelnen Messzeitpunkten. Für vier Studienkinder liegen Ergebnisse in einer dritten Sprache Arabisch bzw. Französisch vor, im Fall eines dieser Kinder auch in der vierten Sprache Türkisch.
In Kapitel 7 werden auch die grammatischen Merkmale der sprachlichen Daten der Studienkinder in Kurmancî und Deutsch, die durch MAIN und LiSe-DaZ gesammelt wurden, auf der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebene dargelegt und analysiert. Die theoretische Grundlage bilden dabei die Ausführungen zu den grammatischen Eigenschaften des Kurmancî und des Deutschen im vierten Kapitel. Abschließend wird auf die Äußerungen – seien es Wörter, Wortgruppen oder Sätze – eingegangen, die aus einer anderen Sprache übernommen sind. Hier wird eine vorsichtige Analyse unternommen, wie bei der Übernahme grammatisch verfahren wird.
Kapitel 8 ist das letzte Kapitel der Studie und rundet sie ab. Dabei werden die Ergebnisse der Studie diskutiert. Dies umfasst zum einen die Testergebnisse der Kinder in Kurmancî und in Deutsch sowie in weiteren Sprachen. Zum anderen stehen die grammatischen Eigenschaften der sprachlichen Daten in Kurmancî und in Deutsch zur Diskussion. Des Weiteren wird in diesem Abschnitt die Rolle der Kita Pîya für den Spracherwerb und die Sprachkompetenz der Studienkinder unter die Lupe genommen, bevor in einem Ausblick die Relevanz der Studie innerhalb der Spracherwerbsforschung verortet und kurz umrissen wird, inwiefern die Studie für die zukünftige Forschung eine Grundlage und/oder eine Perspektive bietet.