Читать книгу Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen - Yasar Kirgiz - Страница 8

2 Forschungsziel, Forschungsfragen und Forschungshypothesen

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Die vorliegende Studie ist als eine qualitative und explorative Studie zu betrachten. Sie versucht, anhand von wenigen Fällen explorativ „dem Forschungsgegenstand möglichst nahe“ zu kommen (Mayring 2010: 231, für einen Überblick zur qualitativen Forschung siehe Brüsemeister 2008 und Flick 2009 und für die Beziehung zwischen qualitativer und explorativer Herangehensweise Mayring 2010). Im Einklang mit der qualitativen und explorativen Herangehensweise ist das Ziel der Studie breit aufgestellt: Erfassung und erster Einblick zur Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch bei Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Der Grund dafür ist, dass diese Erwerbskonstellation bisher kaum, eventuell sogar noch gar nicht untersucht wurde, obwohl sie keine Seltenheit in Deutschland ist und spezifische Besonderheiten aufweist, wie z.B., dass Kinder, die mit dieser Erwerbkonstellation aufwachsen, in erheblichem Maß Zugang zu weiteren Sprachen haben.

Darüber hinaus ist auch nicht bekannt, ob das Kurmancî überhaupt je im Fokus einer tiefgreifenden Studie zum Spracherwerb gestanden hat – sei es allein oder in der Konstellation mit anderen Sprachen. Hier wird von der Untersuchung von Mahalingappa abgesehen, die nicht den Erwerb des Kurmancî im Allgemeinen, aber immerhin den Erwerb der Ergativität in Kurmancî bei Kindern in der Altersspanne zwischen 1,6 und 4,3 Jahren thematisiert (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.).1

Damit die vorliegende Studie ihr Ziel erreichen kann, werden vier übergreifende Forschungsfragen formuliert:

1 Über welche Sprachkompetenz verfügen die Studienkinder in Kurmancî und Deutsch im Alter von drei bis sechs Jahren und wie entwickelt sich diese über den Erhebungszeitraum von etwa acht Monaten?

Diese Frage stellt den Schwerpunkt der Studie dar und wird in zwei Teilfragen bearbeitet. Erstens wird der Frage nachgegangen, wie sich die Erzählkompetenz der Studienkinder in Kurmancî und in Deutsch darstellt und wie der diesbezügliche Entwicklungsverlauf über die Erhebungszeit ist. In diesem Zusammenhang wird auch überprüft, ob die Erzählkompetenz in Kurmancî und in Deutsch vergleichbar ist. Darüber hinaus wird auch der Frage nachgegangen, ob die Erzählkompetenz unter Berücksichtigung des Kurmancî mit gleichaltrigen bilingualen Kindern vergleichbar ist, die mit anderen Spracherwerbskonstellationen aufwachsen.

Während die erste Teilfrage sich auf die Erzählkompetenz bezieht und beide Sprachen umfasst, fokussiert die zweite Teilfrage die Morphosyntax und wird nur in Bezug auf das Deutsche gestellt. Die Frage ist: Wie sind die Normwerte der Studienkinder in Deutsch und wie entwickeln sie sich über die Erhebungszeit? Dass diese Frage nur hinsichtlich der Morphosyntax beantwortet wird, ist bedingt durch das eingesetzte Instrument LiSe-DaZ, da dieses Instrument Normwerte im Wesentlichen für Morphosyntax erhebt. Ein äquivalentes Instrument für Kurmancî ist nicht vorhanden, so dass der Sprachvergleich hier aus methodischen Gründen nicht erfolgen kann.

Um diese Lücke im Hinblick auf das Kurmancî einigermaßen zu schließen und das Deutsch der Kinder in einem größeren Bild unter die Lupe zu nehmen, wird die zweite übergreifende Frage der Studie formuliert:

1 Welche grammatischen Merkmale weisen die semi-spontan2 und experimentell elizitierten sprachlichen Daten der Studienkinder auf?

Die Antwort auf diese Frage wird in drei Bereichen der Sprache – Phonologie, Morphologie und Syntax – gesucht. Mit dieser Frage wird der Bereich der Phonologie des Deutschen, der von LiSe-DaZ nicht behandelt wird, mit in die Analyse eingeschlossen. Auch einige morphosyntaktische Kategorien, die mit diesem Instrument nicht untersucht werden, wie das Genus und der Numerus (Schulz/Tracy 2011: 20), sind in dieser Weise der Analyse inkludiert.

Die ausführliche Auseinandersetzung mit den grammatischen Merkmalen der sprachlichen Daten bietet auch die Grundlage dafür, eine Unterscheidung in Bezug auf die Äußerungen der Kinder vorzunehmen, die aus anderen Sprachen übernommen sind. Die Frage, die dieser Unterscheidung Rechnung trägt, ist, ob diese Äußerungen an die Grammatik der jeweiligen Sprache angepasst werden oder nicht (vgl. Hock/Joseph 2019, Poplack 2018).

Da Kurd*innen zu jenen Migrant*innengruppen gehören, deren Mitglieder bereits in ihren Herkunftsländern meistens bilingual/multilingual sind und mit dieser Ausgangslage in dem Einwanderungsland ankommen, ist es häufig der Fall, dass ihre Kinder mit den Sprachen der Eltern und der Sprache des Einwanderungslandes und somit dreisprachig bzw. mehrsprachig aufwachsen (Herkenrath 2017, Ozmen 2010, Riehl 2014, Şimşek 2016). Im Fall dieser Studie kommt noch hinzu, dass fünf der sechs Studienkinder außerhalb Deutschlands geboren sind – vier in den Herkunftsländern und eins in einem weiteren Land. In diesen Ländern hatten sie Zugang zu einer weiteren Sprache außer Kurmancî oder waren von dieser Sprache umgeben. Bei einem Kind kommt hinzu, dass aufgrund der Familienkonstellation und Migration eine vierte Sprache zu seiner Lebenswelt gehört.

Da die vorliegende Studie bemüht ist, die Sprachkompetenz der Studienkinder insgesamt, also auch in weiteren Sprachen zu ermitteln, lautet eine weitere Frage:

1 Inwieweit ist bei den Studienkindern eine Sprachkompetenz in weiteren Sprachen – zusätzlich zu Kurmancî und Deutsch – vorhanden?

Die vierte und letzte Frage bezieht sich auf die Rolle der Kita, insbesondere auf die Rolle ihres Inputs beim Spracherwerb der Studienkinder. Die Kita wird in Deutschland als ein fester Bestandteil der Kindheit betrachtet (vgl. Bildung in Deutschland 2014: 45, König/Friederich 2014: 11). Des Weiteren wird sie als zweitrelevanteste Instanz – nach der Familie – aufgefasst, in der die sprachliche Sozialisation des Kindes stattfindet (vgl. Reich 2009: 13). Für Kinder, die zu Hause keinen oder wenig Zugang zum Deutschen haben, ist die Kita sogar die erste und eventuell die relevanteste Instanz für den Deutscherwerb (vgl. Jeuk 2003: 9, Schulz/Tracy 2011: 21). Daher ist die Rolle der hier untersuchten Kita Pîya für den Erwerb des Deutschen – aber auch für den des Kurmancî – zu beleuchten. Denn die Kita fördert neben dem Deutschen auch das Kurmancî konsequent. Insofern ist eine weitere übergreifende Frage wie folgt formuliert:

1 Welche Rolle spielt die Kita Pîya für den Erwerb des Kurmancî und des Deutschen?

Diese Frage wird in erster Linie vor dem Hintergrund der Kenntnis zu beantworten sein, welche Kinder zu Hause keinen plausiblen Zugang zu den untersuchten Sprachen haben und daher auf den Input in der Kita angewiesen sind und wie sie dadurch ihre Kompetenzen in der jeweiligen Sprache ausbauen.

Wenn auch zu Beginn mehr oder minder eindeutig war, welches Ziel mit welchen Forschungsfragen in der vorliegenden Studie verfolgt werden sollte, war die Aufstellung der Hypothesen – wie es ein Merkmal der explorativen Studien ist (vgl. Mayring 2010: 225) – nicht einfach. Dies lag daran, dass das Forschungsfeld neu war und es ungewiss war, welche Zusammenhänge und Wechselwirkungen in diesem neuen Feld überhaupt untersuchbar sind. Dennoch konnten, abgeleitet von Ergebnissen der Spracherwerbsforschung, flankiert von ersten informellen Gesprächen mit Eltern und Erzieher*innen sowie durch die ersten Eindrücke der teilnehmenden Beobachtungen in der Kita einige vorsichtige Hypothesen zu der spezifischen Erwerbkonstellation Kurmancî-Deutsch gebildet werden. Diese Hypothesen schärfen im Zusammenhang mit den Forschungsfragen den Blick für bestimmte Merkmale, Phänomene und Bereiche des untersuchten Gegenstandes (vgl. Grond 2018 für eine vergleichbare Vorgehensweise).

Die erste Hypothese ist, dass die bilingualen Kinder zwar in ihren beiden Sprachen eine ähnliche Erzählkompetenz auf der Makroebene – also bei der Wiedergabe der globalen Struktur – aufweisen werden (vgl. Gagarina et al. 2015), dies allerdings nicht, wenn der Zugang zu einer der Sprachen nicht über eine längere Zeit gegeben war. Denn das Erzählen einer Geschichte verlangt das Erreichen einer gewissen Schwelle der Sprachkompetenz (vgl. Bohnacker 2016: 24, siehe auch die Abschnitte 5.3 und 5.4). Jedoch ist nicht konkret ermittelt, nach welcher Dauer des Zuganges zu der jeweiligen Sprache die Erzählkompetenz eintritt. Für Sprachen wie Deutsch ist allerdings bekannt, dass erst am Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges, manchmal auch erst danach, die Grundstrukturen der Sprache durch die sukzessiven Erwerber*innen erworben werden, z.B. verschiedene Satzstrukturen (vgl. Ruberg/Rothweiler 2012, Schulz/Tracy 2011). Insofern ist für vier der sechs Studienkinder, die sukzessiv das Deutsche erwerben, anzunehmen, dass sich ihre Erzählkompetenz in dieser Sprache erst etwa ab dem Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges der Erzählkompetenz in Kurmancî etappenweise angleicht (für Erläuterungen zum Erwerbsbeginn sowie zur Erwerbsdauer der Studienkinder siehe die Übersicht im nächsten Abschnitt).

In Bezug auf den Zugang zu Kurmancî ist zu erwähnen, dass nur ein einziges Kind der Studie erst zu einem späteren Zeitpunkt – etwa mit eineinhalb Jahren – einen geregelteren Zugang zu Kurmancî bekommen hat (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3). Es ist allerdings schwierig, für dieses Kind eine Annahme darüber zu äußern, nach welcher Dauer des Zuganges es eine Erzählkompetenz in Kurmancî entwickeln und ab wann diese sich der in Deutsch angleichen wird. Denn anders als im Deutschen ist der Spracherwerb in Kurmancî nicht dokumentiert und damit einhergehend ist eine Grundlage für eine solche Annahme nicht gegeben. Daher kann für dieses Kind höchstens vermutet werden, dass es durch den geregelten Zugang im Laufe der Zeit eine Kurmancî-Kompetenz entwickelt. Mit voranschreitender Entwicklung ist zu erwarten, dass es Figuren, Objekte und einzelne Ereignisse der Geschichten benennt/beschreibt, diese mehr und mehr verknüpft und die Geschichten schließlich auch in Kurmancî erzählt. Wann dies jedoch geschieht, kann im Rahmen dieser Studie nicht definiert werden. Dazu wäre eine ausführliche Dokumentation des Spracherwerbs in Kurmancî vonnöten.

Die zweite Hypothese ist, dass die Studienkinder (abgesehen von einem Kind) in LiSe-DaZ, d. h. im Deutschen, niedrige Werte aufweisen werden. Der Grund dafür ist, dass den Werten von LiSe-DaZ die Annahme zugrunde liegt, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Alter zwischen 25 und 48 Monaten in die Kita kommen und fortan einen systematischen Zugang zum Deutschen haben. Dieser Annahme nach sind die Werte ermittelt und Vergleichsgruppen nach Alter und Kontaktzeit gebildet (vgl. Schulz/Tracy 2011: 21). Vier der sechs Studienkinder kamen jedoch älter als 48 Monate in die Kita. Aufgrund dieser Tatsache konnten sie nicht immer mit ihrer tatsächlichen Gruppe, sondern mit der nächsten passenden Gruppe verglichen werden. Bei einem weiteren Kind werden Werte von Deutsch als Muttersprache (DaM) zugrunde gelegt, wobei es in seinen ersten Lebensjahren nicht die üblichen Erwerbsbedingungen eines DaM-Kindes hatte (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3).

Die dritte Hypothese ist, dass die Studienkinder hinsichtlich der Grammatik des Deutschen die meisten Schwierigkeiten nicht mit der Syntax, sondern mit der Morphologie haben werden (vgl. Kauschke 2012, Meisel 2009). Um genauer zu sein: Sie werden ihre größten Schwierigkeiten im Ausdruck der grammatischen Kategorien der Nominalphrase haben. Hier werden Kinder, die das Deutsche sukzessiv erwerben, auf mehr Schwierigkeiten stoßen. Denn in der Spracherwerbsforschung ist dokumentiert, dass der Erwerb der grammatischen Kategorien der Nominalphrase Kindern, und insbesondere sukzessiven Erwerber*innen, schwerfällt (vgl. Kaltenbacher/Klages 2007, Ruberg/Rothweiler 2012).

Wenn auch keine ausführliche Dokumentation zum Erwerb des Kurmancî vorliegt, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Unterscheidung der Stammformen der Verben in Kurmancî zum frühen Spracherwerb gehört. Denn die grammatische Unterscheidung der Gegenwart und der Vergangenheit erfolgt über diese beiden Stammformen. Sobald also Kinder in ihren Äußerungen Gegenwart und Vergangenheit voneinander unterscheiden, müssen sie mit beiden Stammformen operieren. In diesem Zusammenhang geht aus der Studie von Mahalingappa hervor, dass kurdischsprachige Kinder, die im Osten der Türkei mit Kurmancî aufwachsen, ab einem Alter von etwa zwei bis zweieinhalb Jahren sowohl eine Tempusform der Gegenwart als auch eine der Vergangenheit nutzen und somit die beiden Stammformen anwenden (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.) Die vierte Hypothese lautet entsprechend, dass diese Unterscheidung der Stammformen den meisten Studienkindern gelingen wird, da sie zum Zeitpunkt der Erhebung im Erwerb des Kurmancî bereits fortgeschritten sind.

Die fünfte Hypothese bezieht sich darauf, dass das Kurmancî der meisten Studienkinder regionalen Unterschieden unterliegen wird. Denn das Kurmancî umfasst ein großes geografisches Gebiet, das auch größtenteils durch mehrere Staatsgrenzen geteilt ist. Des Weiteren ist seine Standardvarietät den meisten Sprecher*innen aufgrund soziopolitischer Rahmenbedingungen kaum verfügbar (vgl. Aygen 2007, Haig/Öpengin 2018).

Die sechste Hypothese ist, dass Studienkinder, die Kontakt zu einer dritten oder vierten Sprache haben bzw. hatten, diese Sprache(n) auch produktiv nutzen werden, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ihre ersten beiden Sprachen Kurmancî und Deutsch. Bei der Kontextualisierung der dritten Forschungsfrage wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebenswelt der Kinder, die mit Kurmancî und Deutsch aufwachsen, in den meisten Fällen eine bzw. mehrere weitere Sprachen angehören. Die Studie von Şimşek (2016) geht auf diese Tatsache ein und ermittelt, dass die von ihr untersuchten Studienkinder über eine produktive Sprachkompetenz in der dritten Sprache – in dem Fall Türkisch – verfügen. Daran anknüpfend geht die vorliegende Studie von einer produktiven Sprachkompetenz in weiteren Sprachen neben Kurmancî und Deutsch aus, zu denen die untersuchten Kinder Zugang haben.

Die Hypothesen sieben und acht beziehen sich auf die Umsetzung des Konzepts der Kita und auf den Sprachgebrauch der Kinder in der Kita. Im Hinblick auf Ersteres ist davon auszugehen, dass die Kita Schwierigkeiten in der Umsetzung ihres Konzepts haben wird, da es sich in ihrem Fall um ein Pilotprojekt handelt. Darüber hinaus gibt es bis jetzt nur wenig bzw. kaum Erfahrungen im Umgang mit der institutionellen Vermittlung des Kurmancî (vgl. Akın 2017, Derince 2017, Grond 2018). Mit Blick auf den Sprachgebrauch wird vermutet, dass Kinder aus den kurmancîsprachigen Familien in der Kita vor allem zu Beginn mehrheitlich Kurmancî sprechen werden, da ihnen diese Sprache vertrauter ist.

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen

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