Читать книгу Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg - Yngra Wieland - Страница 10
Brombeerrot Oktober 1939
ОглавлениеDas Kleid war ein Traum, brombeerfarbene Seide mit winzigen hellen Punkten, an den Ärmeln und am Halsausschnitt mit cremefarbener Spitze eingefasst.
»Es passt wundervoll zu deinem dunklen Haar!«
Hanna war hingerissen. Sie schob Ida vor den Spiegel und schaute ihr mit leuchtenden Augen über die Schulter. Ida sah nur eine schmale Gestalt mit skeptischem Blick. Hanna hatte ihr die Haare kunstvoll zu einer Rolle am Hinterkopf eingeschlagen und mit strassbesetzten Kämmen locker festgesteckt. Ida fand, dass die Frisur sie älter wirken ließ, vielleicht hatte Hanna genau das bezwecken wollen. Ida schlüpfte in die neuen, farblich passenden Hackenschuhe. Mutter hatte an alles gedacht, um ihr die Umstände zu versüßen. Die Türglocke läutete und wie jedes Mal erstarrte Hanna zur Salzsäule. Ida hörte Stimmen, den Aufschrei der Mutter. Sie lief zur Treppe, auf halber Höhe beugte sie sich über die Brüstung und spähte hinunter. Alfred stand in der Tür, einen Brief in der Hand, daneben die Mutter, die Hand auf das Herz gepresst. Alfred redete beruhigend auf sie ein, aber sein Gesicht wirkte seltsam angespannt. Ihre Mutter entdeckte Ida.
»Alfred hat seinen Einberufungsbefehl bekommen!«
Ihr Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. Langsam ging sie hinunter, Stufe für Stufe, hielt sich am Geländer fest.
»Was bedeutet das?«
»Dass wir bald heiraten sollten.«
Alfred hielt ihr das Blatt hin. Seine Stimme klang fest, aber seine Hand zitterte.
» ›Sie werden hierdurch zum aktiven Wehrdienst einberufen und haben sich am 10. Oktober 1939 um 8 Uhr im Wehrbezirkskommando Ulm einzufinden. Dieser Einberufungsbefehl und der Wehrpass sind mitzubringen – ‹ «, las Ida halblaut.
Alfred nahm ihr sanft den Brief aus der Hand.
»Du siehst wunderschön aus.«
Idas Zeigefinger glitt über das eingeschliffene Muster des Glases. Jetzt war sie verlobt. Mit dem Mann ihrer toten Schwester. Ein Kind hatte sie auch schon. Eine merkwürdige Reihenfolge. Ida kicherte und leerte ihr Glas Holundersekt in einem Zug. Sie fing den besorgten Blick der Mutter über den Tisch hinweg auf. Mutter hatte alles getan, um dem Anlass den Umständen zum Trotz einen feierlichen Rahmen zu geben. Ein weißes Damasttischtuch, Kristallleuchter, das gute Porzellan. Der Strauß aus Feldblumen und Astern aus dem Garten versprühte die letzte Erinnerung an den Sommer. Mutter trug ein vornehmes schwarzes Spitzenkleid und ihre Perlen. Selbst für Hanna hatte sie extra für diesen Tag ein Kleid von Alice ändern lassen. Ida langte nach der silbernen Platte mit ihrer Lieblingsspeise und schob sich ein gefülltes Ei in den Mund. Zuerst hatte es Ochsenschwanzsuppe gegeben, danach hatten Hanna und Mutter die Platten mit Eiern und garniertem Roastbeef aufgetragen. Idas Blick schweifte über die übriggebliebenen Tomaten. Sie waren ausgehöhlt und mit kleinen Pilzköpfen und Erbsen befüllt worden. Rot weiß grün. Wahrscheinlich das letzte Festmahl für lange Zeit. Seit einigen Tagen gab es Lebensmittel nur noch mit Karten, aber noch war alles reichlich vorhanden. Mutter und Hanna verschwanden in der Küche, Vater und Alfred unterhielten sich über die Aufgaben, die in den wenigen Tagen bis zu Alfreds Abreise erledigt werden mussten. Ida schenkte sich mehr Sekt ein und genoss es, nichts tun zu müssen. Sie spreizte ihre Hand und schaute auf den Ringfinger, an dem der schmale Reif aus Rotgold mit einer winzigen Blüte aus dunklen Granatsteinen prangte. Alfred hatte ihn ihr mit ernster Miene angesteckt. Ida hatte befürchtet, sie würde Alices Ring bekommen, aber Alfred musste das Schmuckstück extra für sie gekauft haben, sie hatte den Ring nie zuvor gesehen. Sie dachte an Viktor, der ihr auch einen Ring hatte geben wollen.
»Manchmal geht das Leben seltsame Wege, und es bleibt nichts übrig, als das Beste daraus zu machen«, hatte Vater in seiner Ansprache gesagt und das Glas gehoben. »Es war Alices letzter Wunsch, euch beide, oder besser gesagt, euch drei vereint zu sehen. Ich wünsche euch alles Gute für euer gemeinsames Leben, auf dass es glücklich werde!«
An dieser Stelle fing Mutter an zu weinen und Hanna liefen ebenfalls Tränen über das Gesicht. Ida befand sich in einem seltsamen Zustand der Gefühllosigkeit, als säße sie neben sich und beobachte das Ganze wie ein Theaterstück. Sie besetzte die Rolle der angehenden Ehefrau. Warum hatte Alice ihr das angetan? Sie hatte Idas Pläne gekannt!
Die Hauptspeise wurde aufgetragen, Rehrücken mit Kartoffelkroketten, Kompott und Salat.
»Sobald ich weiß, wann ich Heimaturlaub bekomme, legen wir den Hochzeitstermin fest«, sagte Alfred. »Wenn du achtzehn wirst, wirst du deinen Reichsarbeitsdienst antreten müssen. Als verheiratete Frau und Mutter kommst du vielleicht um das Schlimmste herum und wirst nicht irgendwohin verschickt.«
Ida sah ihn mit großen Augen an. Reichsarbeitsdienst. Ein weiteres unangenehmes Thema, das sie bislang ignoriert hatte. Im Pensionat hatten manche Mädchen von den Erlebnissen ihrer älteren Schwestern erzählt, die bereits als Arbeitsmaiden eingesetzt worden waren. Elises Schwester war zu einer Bauernfamilie mit sechs völlig verwilderten Kindern geschickt worden, um die sie sich kümmern musste, neben der Hilfe auf dem Feld. Eine andere musste Dienst in einer Fabrik tun. Grauenvoll!
»Danke, dass du dir darum Gedanken machst.«
Ida fühlte, wie ihr Herz für einen Augenblick ganz warm wurde. Liebevoll strich sie Alfred über die Wange. Alfred nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. Ida sah das hoffnungsvolle Lächeln ihrer Mutter, die sie beobachtet hatte und entzog ihm die Hand rasch wieder. Ihr Vater schenkte Wein ein und es wurden erneut die Gläser auf das Paar gehoben. Beim Karamellpudding war die Stimmung recht gelöst. Ida setzte sich ans Klavier, das erste Mal seit Alices Tod durfte sie wieder spielen. Es gab so viele erste Male. Nicht daran denken.
»Ich bin die fesche Lola« spielte sie und sang den Schmerz laut und an manchen Stellen falsch weg. Marlene Dietrich war auch weg, sie hatte Deutschland und den Nazis den Rücken gekehrt. Sogar Mutter, die sonst kaum einen Tropfen anrührte, trank ein zweites Glas Wein, Hanna scherzte mit Idas Vater, ihre Wangen waren gerötet, die Augen glänzten. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, warf Hanna Alfred verstohlene Blicke zu. Ida hatte es mehrmals den Abend über beobachtet. Mit einem Mal kam ihr eine verrückte Idee. Was, wenn Hanna in Alfred verliebt war? Eine Verlobung konnte man rückgängig machen. Hanna hatte niemanden mehr, sie liebte Kinder und Ida hätte ihre Ruhe – es wäre die perfekte Lösung! Unter dem Tisch angelte sie nach Hannas Bein und stupste sie an. Hanna wich aus, es brauchte einen zweiten Versuch, bis Hanna zu ihr hin sah. Ida blickte unauffällig zur Tür, und Hanna verstand sofort. Sie entschuldigte sich und ging hinaus. Ida wartete gerade lange genug, nahm die leere Wasserkaraffe und folgte ihr.
»Du magst Alfred, nicht wahr?«
»Ida, du darfst nicht denken, dass –«
Ida legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge, darum geht es mir nicht. Im Gegenteil. Ich habe einen wundervollen Einfall. Warum heiratest nicht du Alfred?«
Es dauerte eine Weile, bis Hanna ihre Sprache wiederfand.
»Du solltest aufhören zu trinken. Das geht nicht. Du kannst doch nicht einfach ein Versprechen, das du deiner Schwester gegeben hast, wie einen alten Hut an mich weiterreichen. Wie stellst du dir das vor? Willst du da hinein marschieren und Alfred verkünden, dass du die Verlobung löst, aber grandioser Weise bereits eine Ersatzbraut zur Hand hast? Ganz abgesehen davon habe ich jüdisches Blut, hast du das schon vergessen? Das bedeutet Rassenschande! Kein arischer Mann, der einen Funken Hirn hat, wird mich heiraten. Alfred hat genug mitgemacht. In drei Tagen muss er in den Krieg ziehen, was glaubst du, was in ihm vorgeht? Werde erwachsen und tu, was du tun musst, wie jeder hier.«
Empört schüttelte Hanna Idas Hand ab und ließ sie stehen. Ida war jämmerlich zumute. Sie nahm eine geöffnete Weinflasche von der Anrichte und trank einen kräftigen Schluck daraus. Ein paar Tropfen fielen auf ihr Kleid. Schade. Schade um das Kleid, schade, dass Hanna derart ablehnend reagiert hatte. Es hätte alles so schön sein können. Ida seufzte und ging zurück ins Speisezimmer. Vater hatte das Radio angemacht, ein ausländischer Sender. Der Reporter berichtete, dass in Berlin bei Dutzenden von jüdischen Geschäften die Scheiben eingeworfen wurden, während in den Nachtclubs der Hauptstadt gefeiert und getanzt wurde, dass die Fetzen flogen. Ida runzelte die Stirn.
»Können wir nicht wenigstens an meiner Verlobungsfeier den Krieg draußen lassen?«
Resolut ging sie zum Radio und stellte einen anderen Sender ein. Tanzmusik erklang.
»Tanz mit mir, Alfred!«
Er musterte sie, und Ida pustete übermütig eine gelöste Haarsträhne aus der Stirn.
»Komm, es ist unser Fest.«
Sie lehnte sich an ihn und sie drehten sich zur Musik, ein schmachtender Blues. Die Eltern saßen schweigend am Tisch und beobachteten sie, ihre Gesichter verschwammen zu hellen Flecken. Ida überließ sich ganz der Führung Alfreds, es war angenehm, von ihm gehalten zu werden. Dann war das Stück zu Ende und der Zauber des Augenblicks zerbrach.
Am nächsten Morgen blieb Ida bis Mittag im Bett, nahm ein langes Bad nach dem Aufstehen. Ohne, dass es ausgesprochen worden war, wusste sie, dass dies der letzte Tag ihres Lebens sein würde, über den sie frei verfügen konnte und ihr war hundeelend zu Mute. Sie streifte gerade ihren Pullover über, als Hanna klopfte und leise ihren Namen rief.
»Komm rein.«
Hanna schloss behutsam die Tür hinter sich. Alle ihre Bewegungen waren gedämpft, es schien, als verlöre sie jeden Tag ein Stückchen mehr Lebenskraft.
»Tut mir leid, wegen gestern. Ich hatte zu viel getrunken«, kam Ida dem erwarteten Vorwurf zuvor. Insgeheim fand sie ihre Idee, Alfred mit Hanna zu verkuppeln, auch in nüchternem Zustand noch brauchbar.
»Mir tut es auch leid. Ich kann verstehen, dass du verzweifelt bist. Plötzlich sind wir alle in Leben gelandet, die wir so nie gewollt haben. Es ist wie ein böser, nicht enden wollender Traum.«
Hanna lehnte an der Tür und strich mit einer müden Geste über ihre Stirn.
»In manchen Augenblicken möchte ich am liebsten nach Hause fahren und meine Eltern suchen, egal, was mit mir passiert. Ich kann mich doch nicht den Rest meines Lebens bei euch verstecken, ohne je zu wissen, was mit ihnen geschehen ist.«
Der Schmerz, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, wurde für Ida beinahe fühlbar.
»Ich habe gestern Abend nicht nur an mich gedacht, ich wollte, dass du sicher bist, jemanden hast, der sich um dich kümmert. Ich mag Alfred wirklich, aber ist das genug für eine Ehe, für ein ganzes Leben? Du hast ihn auf eine ganz bestimmte Art und Weise angesehen, ich dachte –«
Hanna schüttelte den Kopf.
»Lass uns nicht mehr darüber sprechen. Wer weiß, was noch alles geschieht in diesem schrecklichen Krieg.«
»Der Krieg ist bald vorbei, das sagen sie ständig im Radio.«
»Lass das bloß niemanden außerhalb dieses Zimmers hören. Das gilt als Volksverrat. Im Übrigen hat deine Mutter mich geschickt, wir sollen beide herunterkommen, sie warten auf uns.«
Das einstündige Geläut zur Feier des Sieges in Polen, das vor einigen Tagen angeordnet worden war, klang vom Kirchturm herüber. Ida fuhr sich rasch mit der Bürste durch ihr Haar und kniff sich in die bleichen Wangen. Wie eine Vogelscheuche wollte sie auf keinen Fall vor Alfred treten.
Die Eltern saßen mit ihm am Tisch, vor sich Papiere und Listen. Ida fragte sich, ob von ihr erwartet wurde, dass sie Alfred küsste. Sie schenkte ihm stattdessen ein Lächeln, bevor sie sich neben ihm niederließ.
»Wir haben einiges zu besprechen für die nächste Zeit. Alfred hat einen Knecht angeheuert, der die schwere Arbeit erledigt und Felder anlegt für das Saatgut.«
Der Blick des Vaters war ernst.
»Das bedeutet für dich, Hanna, dass du unter der Woche tagsüber das Haus nicht verlassen darfst und am besten auch das untere Stockwerk meidest. Sobald der Knecht heimgeht, kannst du dich natürlich frei bewegen.«
»Natürlich, Herr Förster.«
Ida beneidete Hanna um ihre Gefasstheit, um ihre Bereitschaft, sich zu fügen. Ihr würde es die Luft abschnüren, wäre sie ständig im Haus eingesperrt. Sie vermisste bereits ihre Spritztouren mit der Herkules. Hoffentlich achtete Frau von Hohenegger gut darauf. In Gedanken bei ihren früheren Ausflügen in Wald, Feld und zu anderen Dörfern entgingen ihr die nächsten Sätze des Vaters. Ihr Name fiel und sie horchte auf.
»… Ida, du wirst dich um Paul kümmern und deiner Mutter helfen, so viele Vorräte wie möglich anzulegen. Hanna, du hilfst bitte ebenfalls, soweit es möglich ist. Ich kümmere mich um den Honig und die Hühner. Im Frühling müssen wir anpflanzen und säen, morgen werden zwei Milchkühe und drei Ziegen geliefert.«
Ida sah ungläubig auf.
»Was sollen wir damit?«
»Überleben«, quittierte ihr Vater die Bemerkung trocken und Ida kam sich vor, wie ein getadeltes Schulmädchen. Ihr Vater hatte bereits einen Krieg erlebt. Er wusste, was es bedeutet, zu hungern. Sie hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, warum säckeweise Reis und Mehl im Keller lagerten und die Mutter den ganzen Sommer über unermüdlich Gemüse eingekocht, Kompott, Säfte und Marmelade hergestellt hatte. Während sie mit ihrer Malerei und der Trauer um Alice beschäftigt war, hatten die anderen nach vorne geschaut, geplant und vorgesorgt. Wenn Alice noch lebte, hätte sie die Führung übernommen. Hanna hatte Recht. Sie benahm sich kindisch, egoistisch und unreif. Ida sah hinaus in den Garten, hinter den Bäumen versank die Sonne, wie eine trauernde Witwe in Nebelschleier gehüllt. Sie schloss einen Pakt mit sich. Sie würde sich fügen, die zugewiesenen Aufgaben so gut sie konnte ausführen und wenn der verdammte Krieg in ein paar Wochen beendet sein würde, sah man weiter. Sie würde das Versprechen, das sie Alice gegeben hatte, erfüllen und vielleicht, vielleicht belohnte das Schicksal sie und sie konnte bald ihren Träumen folgen.
»Ihr könnt euch auf mich verlassen. Vielleicht kannst du mir in der kurzen Zeit etwas beibringen, Alfred. Oder mir Bücher geben.«
Alle sahen sie an, als hätte sie angekündigt, sie wolle in ein Kloster eintreten. Beinahe hätte sie lachen müssen.
Der Vater fuhr fort über Vorsichtsmaßnahmen, Pflichten und Aufgaben zu sprechen und es schien, als wäre es ein wenig heller im Zimmer geworden. Es war Zeit für den Nachmittagskaffee, in der Küche drückte die Mutter ihre Tochter unvermittelt fest an sich. Ida sah ihr zu, wie sie Paul versorgte und ließ sich in weitere Geheimnisse der Kinderpflege einweihen. Nachdem sie den Kleinen gefüttert hatte, legte sie ihn in den Kinderwagen, um ein wenig spazieren zu fahren. Vielleicht würden sich die Unruhe und die Enge in der Kehle, die sich ihrer bemächtigt hatten, in der kühlen Luft legen. Alfred erschien auf der Schwelle seines Hauses.
»Stört es dich, wenn ich mitkomme?«
Ida schüttelte den Kopf. Er ging dicht bei ihr. Es fühlte sich gut an. Fast wünschte sie, er würde den Arm um sie legen.
»Ich habe mich noch gar nicht für den Ring bedankt. Er ist sehr schön.«
»Er hat einmal meiner Mutter gehört. Ich habe ihn für dich umarbeiten lassen.«
»Ich kenne dich schon ziemlich lange, aber eigentlich weiß ich gar nichts über dich. Was ist mit deinen Eltern?«
»Mein Vater ist im ersten Weltkrieg gefallen. Meine Mutter ist nur wenige Jahre später gestorben. Aus Kummer, glaube ich.«
Idas Herz wurde noch schwerer. Sie schluckte.
»Hast du Angst?«
»Ich erlaube mir nicht, Angst zu haben. Paul soll mit einem Vater aufwachsen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu tun, was von mir verlangt wird und zu hoffen, dass es bald vorbei ist.«
Eine Weile wanderten sie still am Fluss entlang. Die Lauter floss blaugrün glucksend in ihrem Bett dahin, die Wände des Kalksteinbruchs leuchteten hell in der Ferne. Ida konnte nicht sagen, wer von ihnen stehengeblieben war. Mit einem Mal fand sie sich in Alfreds Armen wieder. Aus einem Impuls heraus hob sie das Kinn, bot ihm den Mund und nach kurzem Zögern küsste er sie. Es war schön. Ida fühlte ihr Blut schneller fließen und sie presste sich an Alfred. Erst, als ein Schwarm Krähen sich krächzend aus den Zweigen einer alten Weide erhob, lösten sie sich voneinander. Idas Atem ging schwer, verlegen beugte sie sich über den Kinderwagen, um Pauls Decke zurechtzuzupfen. War es richtig, wenn sie Alfreds Nähe mochte, wenn sie es genoss, seine Lippen auf ihren zu spüren? Sie war überrascht über sich selbst. Nein, sie war zweite Wahl, Alfred und sie bildeten eine Zweckgemeinschaft, seine Leidenschaft hing mit dem Abschied und dem Krieg zusammen, dessen war sie gewiss. Er trauerte um seine verstorbene Frau, sie brauchte sich nichts vorzumachen.
»Die beiden Lehrer der Volksschule, Martin Gehring und Lothar Sindler sind mit mir einberufen worden. Warum meldest du dich nicht freiwillig, und übernimmst einen Teil des Unterrichts als Schulhelferin? Ihr Frauen werdet die Männer in allen Bereichen ersetzen müssen, wenn wir nicht mehr da sind. Wenn es klappt, kannst du damit vielleicht unangenehmeren Diensten entkommen.«
Ida schnitt eine Grimasse.
»Ich muss morgen zu einem dieser grässlichen Treffen des BDM. Ich werde Vater bitten, ein gutes Wort beim Bürgermeister für mich einzulegen. Obwohl ich ehrlich gesagt wenig Lust verspüre, mit den Dorfkindern patriotische Lieder zum Fahnenappell zu singen.«
Auf den Feldern brannten Kartoffelfeuer und der Rauch, der sich mit dem Nebeldunst mischte, weckte erneut wehmütige Erinnerungen an die Zeiten, in denen sie mit Viktor und den anderen an den Feuern gesessen und Kartoffeln in der Glut gegart hatte. Am Horizont schoben sich silbrig schimmernde Wolken über den Himmel.
»Wie schmecken Wolken?«, murmelte Ida.
»Nach Leichtigkeit mit einer Prise Wehmut«, antwortete Alfred.
»Ihr habt das Spiel auch gespielt!«
Selbst dieses Andenken teilte sie mit Alfred. In Idas Kindheit hatte Alice sich die unmöglichsten Dinge ausgedacht, um sie zu unterhalten.
»Wie schmeckt ein Regenbogen? Wie schmeckt eine Sternschnuppe? Wie schmeckt das Kopftuch der alten Lina?«, und sie hatten das Blaue vom Himmel fantasiert und sich vor Lachen im Gras gewälzt.
Zugvögel schwebten in einer spitzen Dreiecksformation über sie hinweg. Ida sah ihnen voller Sehnsucht nach.
»Sie können probieren, wie Wolken schmecken.«