Читать книгу Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg - Yngra Wieland - Страница 8

Sturmgrau September 1939

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Den ersten Septemberfreitag würde Ida ihr Leben lang in Erinnerung behalten. Sie war über ihrem Englischbuch eingedöst und schreckte von dem ungewohnten Lärm im Haus hoch. Eine Frau schrie schrill auf; der Gong wurde hektisch angeschlagen, normalerweise rief er in gemessenem Ton zum Essen und gemeinsamen Aktivitäten. Die Mädchen liefen in der Halle zusammen. Ida stand auf der Treppe, während Frau von Hohenegger blass, aber mit gefasster Miene verkündete, dass die deutsche Wehrmacht am frühen Morgen einen polnischen Angriff erwidert habe.

Der Krieg hatte begonnen.

Die Stille, die ihre Ankündigung auslöste, wurde jäh von Giselas triumphierendem Schrei unterbrochen.

»Sieg Heil! Der Führer wird unsere Wehrmacht und das deutsche Volk zum Sieg führen!«

Frau von Hohenegger unterband sämtliche weitere Äußerungen mit einer blutleeren Geste.

»Contenance, Fräulein Gisela. Meine Damen, bitte gehen Sie in Ihre Zimmer und packen. Sie müssen umgehend zu Ihren Eltern zurückkehren. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Kommen Sie nacheinander zu mir ins Büro, dort können Sie mit Ihren Eltern telefonieren und Ihre Reisearrangements treffen.«

Aus allen Zimmern hörte man gedämpfte Stimmen, Weinen, aufgeregte Diskussionen. Ida begann, ihre Sachen in den Koffer zu werfen. In ihrem Kopf herrschte Durcheinander. Was würde nun geschehen? Wie sollte sie den Koffer mit der Herkules transportieren? Was würde sie daheim erwarten?

Das Kind.

Hanna kam herein, einer Schlafwandlerin ähnlich. Sie stand verloren im Zimmer. Mit tonloser Stimme sagte sie: »Ich weiß doch gar nicht, wohin ich gehen soll.«

Sie begann haltlos zu weinen. Das Geräusch schnitt Ida ins Herz. Sie umarmte Hanna fest. Eine Idee schoss ihr durch den Kopf und sie sprach, bevor sie darüber nachdenken konnte.

»Du kommst mit zu mir nach Hause.«

Nach einem tränenreichen Abschied von Frau von Hohenegger teilten sich Ida und Hanna einen Wagen zum Bahnhof mit zwei anderen Mädchen. Die Straßen waren überfüllt von Menschen in Panik; Fahrzeuge der Wehrmacht, vollbesetzt mit Soldaten, rasten durch die Stadt, Leute schleppten Lebensmittel und Koffer. Der Wagen kam nur langsam vorwärts. Vor dem Bahnhof hatten sich Menschentrauben gebildet. Der Geruch der Angst kroch in Idas Nase und drohte, sie einzufangen. Sie schüttelte sich, befahl sich, stark zu sein und schob sich weiter in Richtung Bahnhofshalle. Sie stellte Hanna in einer Nische mit den Koffern ab und kämpfte sich zum Schalter durch. Es gelang ihr, zwei Fahrkarten nach Biberach zu ergattern, wie es von dort weitergehen sollte, konnte man ihr nicht sagen. Greta, deren ständiger Begleiter ihre Leica war, ließ es sich nicht nehmen, die Freundinnen am überfüllten Bahnsteig für ein Foto posieren zu lassen. Sie umarmten sich ein letztes Mal. Ida schob Hanna, die sich in Schockstarre befand, mit dem Gepäck in den Zug. Sie drängten sich durch den überfüllten Gang, fanden zwei Plätze in einem Abteil, in dem vier aufgeregte ältere Damen saßen. Zusammen wuchteten sie ihre Koffer auf die Gepäckablage und quetschten sich auf ihre Sitze. Hanna hielt die Augen geschlossen, als wolle sie auf diese Art die verrückt gewordene Welt und ihren unermesslichen Verlust unsichtbar machen. Ida packten Zweifel. Sie hatte ihrer Mutter zwar gesagt, sie bringe eine Freundin mit, aber sie hatte nicht erwähnt, dass Hanna jüdisches Blut hatte. Was, wenn den Eltern das Risiko zu groß war? Wo sollte Hanna hin? Sie griff nach Hannas Hand und hielt sie umklammert. Ida dachte wehmütig an ihre zurückgelassene Herkules. Frau von Hohenegger hatte versprochen, sie zu verwahren. Vielleicht war der Krieg tatsächlich in ein paar Tagen vorbei und sie könnten ins Pensionat zurückkehren. Vielleicht.

In Biberach mussten sie feststellen, dass dies die vorläufige Endstation war, es ging kein Zug nach Ulm oder Herrlingen. Ratlos standen sie vor dem Bahnhof. Ida entdeckte ein Postamt auf der anderen Seite des Platzes, doch es hatte geschlossen. Ihr kam es vor, als flatterten die Hakenkreuzfahnen höhnisch an ihren Masten.

»Was machen wir jetzt? Wenn ich nur zuhause anrufen könnte«, überlegte sie laut und nagte an einer Haarsträhne. Sie entschloss sich, in der Gaststätte neben dem Postamt nach einem Telefon zu fragen. Sie schob den schweren, muffigen Vorhang hinter der Eingangstür zur Seite und zog Hanna in das Lokal. Der Geruch von altem Fett und Zigarettenrauch verursachte Ida ein mulmiges Gefühl im Magen. Überall standen Leute, tranken, rauchten, redeten durcheinander, während die heisere Stimme des Führers ununterbrochen aus dem Volksempfänger brüllte. Eine dicke Frau in einer fleckigen Kittelschürze stand hinter dem Tresen und musterte sie misstrauisch.

»Entschuldigen Sie, gibt es hier ein Telefon?«, fragte Ida.

Die Frau streckte ihre Hand aus. Ida legte ein paar Münzen in die schmuddelige Handfläche und bemühte sich, ihren Ekel zu verbergen. Die Wirtin zeigte in den hinteren Teil der Wirtschaft.

»Dort.«

Ida wollte Hanna nicht alleine lassen und zerrte sie mit sich. Sie wischte mit ihrem Taschentuch über die Sprechmuschel, warf ihre letzten Münzen in den Schlitz und wählte. Endlose Zeit schien zu vergehen, bis ihr Vater sich meldete. Er klang fremd, unendlich weit weg. Ida schluckte Tränen.

»Vater, wir sind in Biberach und kommen nicht weiter. Was sollen wir machen?«, schrie sie verzweifelt gegen den Lärm an. Sie versuchte die Worte ihres Vaters zu verstehen, nickte, bemühte sich, Hanna nicht zu zeigen, dass ihr banger und banger zumute wurde. Es klackte und das Gespräch war unterbrochen. Ida lotste Hanna zu den Toiletten. Als sie sich Hände und Gesicht mit Leitungswasser gesäubert und getrunken hatte, fühlte sie sich besser.

»Komm her.«

Sie ließ Wasser auf ihr Taschentuch laufen, wrang es aus und rieb sanft Hannas Gesicht und ihre Hände ab. Hanna hatte sich völlig in sich zurückgezogen und ließ Idas Behandlung ohne Regung über sich ergehen.

»Wir müssen alleine sehen, wie wir weiterkommen. Alfred ist mit dem Auto unterwegs. Vater meint, wir sollen die Koffer bei der Gepäckaufbewahrung lassen und zu Fuß gehen.«

Hanna nickte teilnahmslos. Ida nahm die Koffer und ächzte. Mit jedem Mal, mit dem sie die Gepäckstücke hochhob, schienen sie schwerer zu werden und sie wünschte sich brennend, statt der Spangenschuhe mit Absatz ihre Wanderschuhe gewählt zu haben. Ihr Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatten sie nichts mehr gegessen, und es war bereits Nachmittag, wie sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr erstaunt feststellte.

Zurück auf der Straße bemerkten sie, dass ihnen ein Mann gefolgt war. Er trug Arbeitskleidung, an seinen Schuhen klebte Stroh.

»Wo soll’s denn hingehen?«

Ida zögerte, musterte ihn wachsam. Sie entschied, dass sie keine Wahl hatten und dass er im Großen und Ganzen harmlos aussah.

»Wir müssen nach Herrlingen. Nach Hause. Es geht kein Zug mehr.«

»Bis Achstetten kann ich euch mitnehmen.«

Er deutete auf ein Pferdefuhrwerk mit zwei kräftigen Kaltblütern; offenbar hatte er Kartoffeln in der Stadt verkauft, ein paar übriggebliebene Säcke lagen noch im Wagen. Sie tauschte einen Blick mit Hanna und nickte.

»Danke, gern.«

Der Bauer schwang ihre Koffer auf die Ladefläche, half ihnen hinaufzuklettern und stieg auf den Kutschbock. Es ruckte und die Pferde setzten sich in Bewegung. Ida machte es sich so bequem wie möglich.

»Besser schlecht gefahren, als gut gelaufen«, versuchte sie Hanna aufzumuntern, deren Gesichtsfarbe von Minute zu Minute durchscheinender wurde.

»Vielleicht lässt er uns unsere Koffer unterstellen. Hast du auch so einen Hunger wie ich?«

Der Bauer, der sie gehört hatte, drehte sich um und reichte Ida zwei Äpfel. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen.

»Sie sind unser Retter!«

Gierig biss sie in den Apfel. Ida kam es vor, als hätte sie nie etwas Köstlicheres gegessen. Die Frucht stillte sogar ihren Durst ein wenig. Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie war staubig, verschwitzt und ihre Füße schmerzten. Es fühlte sich an, als hätte sie eine Weltreise hinter sich gebracht. Erschöpft lehnte sie sich an Hanna, nach einer Weile fielen ihr die Augen zu.

Sie hatte nicht lange geschlafen, aber ihr Nacken war ganz steif, als sie aufschreckte. Gähnend streckte sie sich, schaute sich um. Hanna schlief, die Wange an die Kartoffelsäcke gelehnt. Gut für sie, dachte Ida. Von einer Dorfkirche hörte sie die Glocke sechs Uhr läuten. Sie beugte sich zu dem Bauern.

»Wie weit ist es noch?«

»Etwa eine Viertelstunde.«

Ida schluckte. Sie würden den restlichen Weg im Dunklen gehen müssen. Niedergeschlagen sah sie auf die Straße, die leicht anstieg, wunderschön eingebettet zwischen mit Butterblumen, Salbei, Pechnelken und Margeriten übersäten Wiesen. Die Pferde gingen Schritt. Vom Hügel herab näherte sich eine Limousine. Ida richtete sich auf, stutzte, kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. War das möglich? Sie stand auf, schrie: »Anhalten, bitte halten Sie an!«

Noch bevor der erschrockene Bauer die Pferde zum Stehen gebracht hatte, sprang Ida vom Fuhrwerk, mitten auf die Straße, stürzte auf ihre Knie, spürte den Schmerz nicht. Der graue DKW näherte sich rasch und Ida begann heftig zu winken und auf und ab zu springen.

»Es ist Alfred! Er kommt uns holen! Hanna, wir haben es geschafft! Wir kommen nach Hause!«

Hanna rieb sich verwundert über das Gesicht, verstand nicht, was vor sich ging, warum Ida wie verrückt auf der Straße herumhüpfte. Der Wagen kam zum Stehen, Alfred hatte Ida erkannt und stieg aus. Atemlos vor Erleichterung stürzte sich Ida in die Arme des Schwagers, ihre Spannung löste sich in einer Flut von Tränen. Als sie sich endlich beruhigt hatte, half Alfred Hanna, die verschüchtert sitzen geblieben war, vom Wagen, gab dem Bauern einen Geldschein und verstaute ihre Koffer. Ida dankte ihrem Retter überschwänglich und stieg in die Limousine.

»Alfred, ich bin so froh, dass du da bist.«

Ihre Freude war nicht gespielt. Sie berichtete ihm von der Ankündigung Frau von Hoheneggers, dem Verlust ihres Motorrades, ihrer Reise, wie verängstigt sie gewesen war, genau in dem Augenblick, als er auftauchte. Sie verstummte. Scheu musterte sie Alfred von der Seite.

»Wie geht es Mutter und Vater«, sie überwand sich, »… und Paul?«

Alfred sah konzentriert auf die Straße. »Deine Mutter kümmert sich um Paul. Sie geht täglich zum Friedhof mit ihm. Dein Vater vergräbt sich hinter seinen Schriften, wenn er nicht bei den Bienen ist. Und ich rechne jederzeit mit meinem Einberufungsbefehl.«

Ida sah ihn mit großen Augen an. Darüber hatte sie noch keinen Moment nachgedacht.

»Du musst in den Krieg?«

»Ich bin kriegsverwendungsfähig, ich werde nicht darum herumkommen, schätze ich.«

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Ida fragte sich, ob ihr Vater ebenfalls eingezogen werden würde, trotz der Beinverletzung, die er als junger Mann im ersten Weltkrieg erlitten hatte, und ein Schauder überlief sie. Sie drückte sich fester in den Sitz. Als Alfred den Wagen in den Hof lenkte und anhielt, griff Ida schnell nach seinem Arm.

»Alfred, es tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin. Ich konnte nicht anders.«

Alfred krampfte die Hände um das Lenkrad und sah sie nicht an.

»Ich weiß. Ich würde auch am liebsten weglaufen.«

Die Eltern empfingen sie zurückhaltend. Ida wusste nicht, ob sie ihr böse waren oder ob es in Zukunft immer eine Kluft zwischen ihnen geben würde, weil Alice gestorben war und sie lebte. Sie vermisste die trockenen Späße ihres Vaters und die liebevoll fröhliche Art ihrer Mutter, die es gegeben hatte, als Alice noch da war. Der Duft ihrer Schwester, ein sanfter Hauch von Lavendel und Verbene, schien wie ein Gespenst in jedem Winkel des Hauses zu schweben. So sehr hatte sie die letzten Wochen versucht, das Unglück zu verdrängen, jetzt war es präsenter denn je. Ida griff nach Hannas Hand und zog sie neben sich.

»Vater, Mutter, das ist Hanna. Ihre Eltern sind, … sie hat«, Ida wusste nicht weiter, rang nach Worten, sah Hanna verzweifelt an.

»Hanna hat jüdisches Blut und ihre Eltern sind verhaftet worden«, platzte sie heraus. »Hanna wusste nicht, wo sie hin soll und ich dachte …«

Alfred und der Vater wechselten einen bestürzten Blick.

Ihre Mutter reagierte schnell.

»Gehen wir erst einmal hinein«, sagte sie gefasst und schob Hanna ins Haus.

»Macht euch frisch und kommt essen, ihr seid sicher hungrig.«

Ida lief zu ihr hin und umarmte sie heftig.

»Danke, Mutter.«

Hanna wurde im Gästezimmer einquartiert. Ida übernahm es für die Freundin, ihre Kleidungsstücke in den Schrank zu räumen. Obwohl Hanna während des Essens kaum gesprochen hatte, zeigten ihre Wangen wieder etwas Farbe. Sie streifte ihre Schuhe ab, legte sich aufs Bett und rollte sich zusammen. Ida deckte Hanna zu, gleich darauf hörte sie tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Sie beugte sich über die Freundin und strich ihr über das Haar.

»Armes Ding«, murmelte sie, »du armes, armes Ding.«

Als sie in ihr Zimmer ging, hörte sie die Eltern im Wohnzimmer sprechen.

»Das Risiko ist für uns alle viel zu hoch. Bedenke die Konsequenzen, Eleonore!«

»Kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, das arme Mädchen wegzuschicken? Sie hat niemanden mehr. Stell dir vor, Ida wäre in ihrer Lage.«

Die Tür wurde geschlossen und Ida konnte nur noch dumpfes Gemurmel hören. Mit schwerem Herzen ging sie zu Bett.

Goldene Septembersonne schien durch das Fenster. Ida streckte sich schläfrig, schlug die Decke zurück. Für eine Weile blickte sie aus dem Fenster über den Hof. Von ihrem Zimmer aus sah sie über den Garten auf das ehemalige Gesindehaus, das für Alice und Alfred ausgebaut und im selben warmen Goldgelb gestrichen worden war wie das Haupthaus von Gut Lauterblick. Die Scheune, das Hühnerhaus und die Garage lagen im rechten Winkel dazu, auf der anderen Seite befand sich das alte Gärtnerhäuschen, Idas Atelier. Im Garten zirpten Grillen die letzten Lieder dieses Spätsommers. Der Gesang der Vögel, die Pflaumen, Äpfel und Birnen, die draußen in den Bäumen leuchteten, vermittelten die Illusion, das Leben wäre friedlich und harmlos. Beim Frühstück löffelte Ida genüsslich ihr Frühstücksei, als ihr Vater das Speisezimmer betrat. Sein Gesicht war ernst und Ida sank das Herz. Beklommen legte sie den Löffel zur Seite, der Appetit war ihr schlagartig vergangen. Würde er Hanna wegschicken? Sie sah, wie Hanna mit zitternder Hand ihre Tasse abstellte, wusste, dass sie das Gleiche dachte.

»Hanna, es tut mir leid«, begann er, »wir …«

»Vater, nein, das darfst du nicht, du darfst Hanna nicht wegschicken! Bitte!«

Ida sprang auf, ihr Stuhl kippte um, die Serviette fiel zu Boden. Minou, die in der Hoffnung auf einen Leckerbissen erwartungsvoll neben Ida gesessen hatte, verkroch sich maunzend unter der Vitrine. Ida rannte um den Tisch herum, kniete sich neben dem Stuhl ihres Vaters hin und sah ihn flehend an.

»Ida, beruhige dich bitte. Ich habe nicht vor, Hanna wegzuschicken. Deine Mutter und ich haben zuerst überlegt, ob wir sie als Verwandte ausgeben können, die zu uns gezogen ist. Dann muss sie allerdings auf unsere Haushaltskarte gesetzt werden und dazu wiederum müsste sie sich ausweisen. Also bleibt nur, dass niemand von ihrer Existenz weiß.

Leider müssen wir ein paar Verhaltensmaßnahmen besprechen. Es ist besser so für uns alle.«

Ida atmete auf, Hanna gab einen kleinen, erstickten Laut von sich.

»Wenn du in den Garten gehen möchtest, benutze die Terrassentür im Wohnzimmer. Wenn jemand kommt, geh bitte sofort nach oben in dein Zimmer.

»Natürlich, Herr Förster. Das verstehe ich. Ich kann die ganze Zeit oben bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Wir werden versuchen, alles so angenehm wie möglich für dich zu handhaben, Hanna. Vielleicht ist es bald vorbei.«

Während ihr Vater Hanna weitere Anweisungen gab, führte Ida seine Hand an ihre Wange, aber er schien sie kaum wahrzunehmen. Nach dem Frühstück ging Hanna zu Idas Mutter. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihr in der Küche und mit dem Kind zu helfen, vielleicht um etwas zurückzugeben, vielleicht, um sich abzulenken von ihrem Schmerz und ihrer Angst. Ida, die keine Ambitionen hatte, in der Küche zu stehen und Gemüse zu schnippeln, trug ihre Staffelei und ihre Farben in den Garten. Mit wütenden Strichen schlug sie Farbe auf die Leinwand, malte wie besessen stundenlang, lehnte es ab, zu essen. Sie malte ihre Wut heraus, auf ihre Schwester, auf den hässlichen kleinen Mann, der Krieg spielen musste, auf die Umstände. Die Nachmittagssonne hatte noch Kraft und ließ den Garten goldrot erglühen. Bald würde das Licht verschwinden. Ida begann sich zu erinnern, wie gut der Geruch nach Farbe tat, das Geräusch des Pinsels auf der Leinwand.

»Der Bodensee, kurz bevor das Gewitter kam.«

Ida glitt vor Schreck der Pinsel aus der Hand. Er fiel ins Gras, färbte die Halme grau. Viktor bückte sich und hob ihn auf.

»Woher weißt du, dass ich hier bin?«

»Ich habe Alfred getroffen.«

»Er hat uns – ich meine, er hat mich gerettet. Ich hatte Angst, nie mehr hier anzukommen.«

Ida, die sich beinahe verplappert hätte, redete vor lauter Aufregung ununterbrochen weiter.

»Das Pensionat wurde geschlossen, Frau von Hohenegger hat uns alle nach Hause geschickt, es war schrecklich, überall Menschen, mein Koffer war elend schwer, ich …«

Viktor trat dicht an sie heran und legte seinen Finger sanft auf ihre Lippen. Mit der Linken zog er etwas aus der Hosentasche, hielt es ihr vor die Nase. Es war ein schmaler, goldener Ring.

»Ida, willst du mich heiraten?«

Ida ließ sich in den Korbsessel fallen. Er zog den zweiten Sessel heran, eng vor ihren. Sie sah ihn entgeistert an.

»Machst du Witze?«

»Ganz und gar nicht. Wann, wenn nicht jetzt? Ich liebe dich, habe dich schon immer geliebt.«

Idas Puls flog. Sie fühlte sich geschmeichelt, war gleichzeitig entsetzt und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. In ihrer Not riss sie eine der letzten Blüten der weißen Kletterrose ab und zerrieb hektisch die feinen Staubgefäße zwischen den Fingern.

»Viktor, ich kann dich nicht heiraten. Ich bin erst siebzehn«, erwiderte sie zweifelnd.

»Nächstes Jahr wirst du achtzehn. Solange bist du meine Verlobte.«

Es klang bestimmend, verlockend, verstörend. Bilder rasten durch ihren Kopf. Wenn sie Viktor heiraten würde, müsste sie sich nicht um das Kind kümmern. Sie würden in eine eigene Wohnung ziehen. Sie wäre Frau Weller. Ida Weller. Ida Weller. Alice. Ihr Versprechen. Sie nahm eine Bewegung oben am Fenster wahr, schnappte nach Luft. Viktor drehte sich irritiert um und folgte ihrem Blick. Hanna verschwand blitzschnell hinter dem Vorhang. Hatte Viktor sie gesehen?

Sie umfasste seine Hände.

»Viktor, versteh doch, ich kann nicht. Ich will dich nicht heiraten. Ich will niemanden heiraten. Ich brenne für das Malen. Wenn ich die Farben sehe, beginnt es in mir zu leuchten und dieses Leuchten möchte ich in meinen Bildern festhalten, für etwas anderes ist kein Platz in meinem Leben.«

Sie bemerkte den jähen Schmerz in seinen Augen und fuhr hastig fort. »Der Sommer mit dir in Konstanz war schön, hat mir geholfen, das Ganze auszuhalten. Aber jetzt ist alles anders. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen wird.«

Mehr zu sich selbst fügte sie mit erstickter Stimme hinzu:

»Alice hätte es gewusst.«

Langsam befreite Viktor seine Hände von ihren und stand auf. Den Ring ließ er achtlos ins Gras fallen. Sein Kiefer schien verkrampft, die Wangenmuskeln bewegten sich heftig.

»Gut. Ich habe verstanden«, brachte er beherrscht hervor, ohne sie anzusehen. »Lebe wohl, Ida.«

Er setzte seine Mütze auf und ging davon, als bewege er sich auf ein für sie unsichtbares Ziel zu. Ida sah ihm nach, wie er sein Fahrrad nahm, das am Zaun lehnte, sich darauf schwang, heftig in die Pedale trat. Sie atmete in einem zitternden Luftstrom aus. Ihr Vater kam in Imkerkleidung über die Wiese gestapft.

»War das nicht Viktor Weller?«

Ida nickte, unfähig zu sprechen.

Am nächsten Morgen kannte ihre Mutter kein Pardon. Sie packte den frisch gefütterten Paul in den Kinderwagen und schob Ida mit dem Kind aus dem Haus.

»Geh in den Laden und hol Mehl und Seife. Wenn er weint, gibst du ihm den Schnuller.«

Ihre Stimme war fest, ihr Blick ließ keine Widerrede zu. Ida stapfte zornig die Kastanienallee entlang und schimpfte vor sich hin.

»Du bist an allem schuld! Ohne dich wäre Alice noch am Leben!«

Schuldbewusst sah sie sich um. Wenn sie jemand gehört hatte! Sie blickte mürrisch in den Kinderwagen. Der Säugling lag friedlich schlafend in den Kissen, nichts ahnend vom Sterben seiner Mutter, vom Krieg, von ihrem Zorn. Oder spürte das Kind ihre Wut? Vermisste es seine Mutter? Sie hielt an, beugte sich über den Wagen und berührte vorsichtig mit dem Finger die rosig weiche Backe. Das Kind schnaufte und bewegte schmatzend die spuckefeuchten Lippen. Ida zog ihre Hand zurück als hätte sie sich verbrannt und ging weiter.

Vor dem Laden zögerte sie. Drinnen war es zu eng für den wuchtigen Kinderwagen. Das Kind schlief. Sie stellte den Wagen neben der Tür ab und betrat Haberkorns Gemischtwarenladen. Die Geruchsmischung aus Lavendel, Honig, Kernseife und eingelegten Gurken versetzte sie augenblicklich in ihre eigene Kindheit zurück. Wie groß war ihr alles vorgekommen, damals, als sie mit Alice und ihrer Mutter hergekommen war. Von Frau Haberkorn, der Ladenbesitzerin, bekamen sie Karamellbonbons, die sie genüsslich im Mund schmelzen ließen, während ihre Mutter ein paar Worte mit der Frau wechselte und ihre Einkäufe machte.

Inzwischen waren Frau Haberkorns haselnussfarbenen Haare von silbernen Fäden durchzogen und im Augenblick war sie damit beschäftigt, eine schluchzende Frau zu trösten.

»Heute Morgen habe ich den Brief gefunden. Noch in der Nacht muss er gegangen sein. Warum hab ich ihn bloß nicht gehört?«, weinte sie.

Entsetzt erkannte Ida Viktors Mutter.

»Er ist noch keine einundzwanzig, erst in einem Monat wird er großjährig«, weinte sie in ihr Taschentuch.

»Frau Weller, was ist denn passiert?«

Ida fühlte entsetzliche Angst in sich aufsteigen. Die Kehle wurde ihr eng, sie suchte Halt an der Ladentheke. Anstelle von Viktors Mutter, die einen weiteren Weinkrampf bekam, antwortete Frau Haberkorn.

»Viktor ist heute Nacht auf und davon. Er will sich freiwillig zur Wehrmacht melden.«

Ida hörte ihr Blut in den Ohren donnern, sah, wie sich die Lippen von Frau Haberkorn bewegten, glaubte, sie werde jeden Moment ohnmächtig. Mit unsicheren Schritten wandte sie sich zur Tür, ging hinaus, die Straße hinunter.

Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg

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