Читать книгу Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg - Yngra Wieland - Страница 7

Dämmerungsblau Juli 1939

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Ida ließ sich atemlos auf ihren Stuhl fallen, griff nach dem Glas und trank es in einem Zug aus. Seit sie hier war, hatte sie keinen Tanz ausgelassen, war von Arm zu Arm geflogen. Ihr Gesicht begann zu schmerzen von dem angestrengten, viel zu lauten Lachen. Die Verzweiflung ließ sich nicht so einfach wegtanzen.

»Darf ich um diesen Tanz bitten, gnädiges Fräulein?«

Idas Blick glitt an der Gestalt des Mannes im braunen Hemd nach oben, sah über die rote Binde am linken Arm hinweg und blieb an den wachen blauen Augen hängen. Sie zwang ein neues Lächeln auf ihr Gesicht, nickte.

»Walzer tanze ich am liebsten!«

Er bot ihr den Arm und Ida ließ sich zur Tanzfläche führen. Sie schaute über die Schulter zu Hanna, die sich in ihren Stuhl drückte und nervös mit ihren Fingern spielte.

»Komm, tanz auch!«, forderte Ida sie mit einer Geste auf, aber Hanna schüttelte heftig den Kopf und wies den Verehrer, der sich erwartungsvoll vor ihr aufgebaut hatte, mit einem schwachen Lächeln ab. Ida zuckte die Achseln und schenkte dem Tanzpartner ihre ganze Aufmerksamkeit. Er tanzte gut, seine Hand stützte sie im Rücken, seine Bewegungen waren kraftvoll. Sie legte den Kopf zur Seite und genoss für einen Augenblick das federleichte Gefühl, das die Berührung des Stoffes ihres lavendelfarbenen Chiffonkleides an ihren Beinen verursachte. Nach dem Tanz ließ sie sich von ihrem Kavalier mit einer frischen, eisgekühlten Zitronenlimonade versorgen, lehnte sich neben ihn an eine der Säulen, die, wie sie fand, einen schönen Kontrast zu ihrem Kleid darstellten. Während sie an ihrem Glas nippte, wanderte ihr Blick durch den Tanzsaal. Viele der Männer trugen das Parteiabzeichen, trotzdem gewann die Leichtigkeit des Sommersonntagnachmittags Oberhand gegen den strengen Zeitgeist im Raum. Die Menschen standen zu zweit oder in kleinen Gruppen, schwatzend und lachend, als könnten sie dadurch das immer bedrückender werdende politische Klima auf Abstand halten. Durch die weitgeöffneten Türen drang warme Juliluft in den Raum. Ida legte den Kopf in den Nacken und sog begierig den Duft von Seewasser, Rosen und Levkojen ein, die üppig in Steintrögen auf der Veranda blühten.

Beinahe hätte sie Frau von Hohenegger nicht zum sonntäglichen Tanztee im Kurhotel gehen lassen. Die Pensionatsleiterin war noch immer entrüstet über Idas überstürzte Abreise von zuhause und ihre Ankunft mit dem Motorrad, »Ida, das gehört sich nun wirklich nicht für eine Dame!«, mitten in der Nacht, schlammverspritzt und völlig erschöpft. Erbost hatte Frau von Hohenegger den Gärtner am nächsten Tag angewiesen, das »Gefährt« in einem Geräteschuppen zu verstauen und den Schlüssel in ihrem Schreibtisch eingeschlossen. Es hatte Idas sämtlicher Überredungskünste bedurft, um der gestrengen Institutsleiterin die Erlaubnis für das Tanzvergnügen abzuringen. Jede Ablenkung war Ida willkommen, sie hatte das Gefühl, ständig in Bewegung bleiben zu müssen, um den Gedankengespenstern zu entkommen, die versuchten, ihr die Seele auszusaugen. Ihr Blick wanderte durch den Saal, blieb an einer hochgewachsenen Frauengestalt haften, die Haltung des Kopfes erinnerte an Alice. Idas Kehle zog sich zusammen. Da war er wieder, der unfassbare Schmerz, die lähmende Angst. Sie rang nach Luft, stammelte eine Entschuldigung und drängelte sich hastig durch die Menge, hi­naus ins Freie. Sie rannte die breite Treppe zu der parkähnlichen Anlage des Kurhotels an der Strandpromenade hinunter, wollte ans Wasser, in der Hoffnung auf eine frische Brise, die ihre Sinne wieder klar machte und alles Schlimme verwehen sollte. Sie übersah die letzte Stufe, strauchelte und fand unvermittelt Halt in zwei kräftigen Armen. Atemlos vom Schreck löste sie sich und trat einen Schritt zurück.

»Wolltest du fliegen lernen?«

Ein junger Mann in Knickerbockern und Schiebermütze stand vor ihr und betrachtete sie amüsiert. Ida stutzte. Diese hohe Stirn, die leicht gebogene Nase, der entschlossene Zug um den Mund … Er hatte sich verändert, seine Statur war nicht mehr jungenhaft schlaksig.

»Viktor! Was machst du hier?«

Sie schob die Strähne zurück, die sich aus der Seitenrolle gelöst hatte und ihr kokett über das Auge fiel.

»Dich vor einem tiefen Fall bewahren. Und abgesehen davon absolviere ich gerade ein Praktikum in der Firma eines Verwandten meiner Mutter.«

Viktor lächelte spöttisch, dann wurde sein Gesicht ernst. Er nahm ihre Hand.

»Es tut mir leid, wegen Alice. Mutter hat mir davon erzählt. Sie hat Eleonore zufällig in Frau Haberkorns Laden getroffen.«

Ida zuckte zusammen, versuchte den Schmerz und die Tränen, die dicht unter der Oberfläche lauerten, zu ignorieren. Ihre Mutter und Lydia Weller verkehrten in der Regel nicht miteinander. Es klang gar nicht nach Mutter, dass sie ihren Schmerz mit einer Fremden teilte. Sie wandte sich abrupt ab.

»Sieh dir den See an. Wie herrlich das Wasser glitzert, die Boote, die Abendsonne! Es ist so schön, ich wünschte, ich könnte jetzt malen!«

Die Illusion der Leichtigkeit war mit dem Aussprechen von Alices Namen endgültig verflogen. Sie stützte ihre Arme auf die steinerne Balustrade und blickte schweigend über den See. Viktor stand nahe bei ihr, sie spürte seine Wärme an ihrem Arm. Am Horizont begannen sich dunkle Wolken zusammenzurotten, die Luft war mit einem Mal drückend. Sie seufzte.

»Es wird ein Gewitter geben. Ich muss hinein, Hanna wartet.«

Sie gingen langsam zurück. Manchmal berührte sein Arm den ihren. Auf der Terrasse fasste Viktor sie am Handgelenk.

»Ida, ich möchte dich gerne wiedersehen.«

Ida versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Sein Blick hatte etwas Drängendes. Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Die Erinnerung an einen anderen schwülen Sommernachmittag blitzte auf. Es musste zwei, vielleicht drei Jahre her sein. Sie hatte mit Klassenkameradinnen im Waldsee gebadet, auf dem sonnenheißen, morschen Holz des Steges gesessen, die Füße im kühlen Grün des Sees. Libellenflügel flirrten über der Wasseroberfläche, gelegentlich schnappte ein Fischmaul nach tanzenden Mücken. Die Luft roch nach Moor, Wildblumen und Trägheit.

Dann waren die Jungen gekommen. Friedrich, Viktor, Hans und der dicke Georg. Johlend kamen sie auf ihren Fahrrädern durch den Wald geprescht, Viktor wie immer vorne weg. Sie ließen die Räder auf den Waldboden fallen, rannten über den Steg, während sie ihre Kleider herunterrissen und an den Mädchen vorbei ins Wasser sprangen. Die Mädchen kreischten, mehr lust- als angstvoll, empörten sich über das flegelhafte Benehmen, um gleich hinterher zu springen und sich in kindlicher Freude der Wasserschlacht anzuschließen, die im See tobte. Danach hatten alle auf dem Steg gelegen, wie die Heringe nebeneinander aufgereiht, kosteten das Gefühl aus, wie sich die eiskalte Haut langsam in der Sonne erwärmte. Viktor lag neben ihr, so dicht, dass die Härchen an ihrem Unterarm seinen drahtigen, braungebrannten Jungenarm berührten. Es war wie ein elektrischer Schlag gewesen, als er begonnen hatte, sanft mit dem Finger die Stelle an ihrem Handgelenk zu streicheln, dort wo das bläulich pochende Adergeflecht zusammenlief. Ida musste den Atem anhalten, weil es sich so schön anfühlte und gleichzeitig fremd und gefährlich. Sie ließ ihn gewähren, mit Gänsehaut und fest geschlossenen Augen, hinter ihren Lidern glühte es orange. Es war ein Geheimnis zwischen ihnen. Als die Sonne tiefer sank, hatten sie ihre Sachen zusammengepackt. Ida trödelte und Viktor ließ sich zurückfallen, fuhr neben ihr, die anderen waren weit voraus. Am Waldrand, bei der alten Wildkirsche, hatte er angehalten, Ida tat es ihm nach, als hätten sie es verabredet. Ohne ein Wort hatte er sich zu ihr herübergebeugt und sie fest auf den Mund geküsst.

»So!«, hatte er gesagt, und gelächelt, als wäre jetzt alles klar.

Ein Windstoß zerrte an ihrem Kleid und Ida kehrte widerstrebend zurück aus der unbeschwerten Zeit. Sie sah in Viktors Augen, die immer noch die Farbe des Waldsees nach dem ersten Frühlingsregen hatten, und konnte nicht anders, als zu nicken.

»Mittwoch habe ich nachmittags frei. Wir könnten einen Spaziergang machen.«

Viktors schön geschwungener Mund verzog sich zu einem siegessicheren Lächeln.

»Ich hole dich ab!««

»Nein, auf keinen Fall, wir treffen uns hier an der Promenade. Sonst trifft Frau von Hohenegger der Schlag!«

Hastig verabschiedete sich Ida von ihm und eilte in den Tanzsaal zurück. Sie schlängelte sich an den Tanzenden vorbei, traf auf Hanna, die ihr mit ängstlichem Blick entgegen kam.

»Ida, wo warst du? Ich wollte dich gerade suchen gehen.«

Sie senkte die Stimme.

»Ich dachte, sie hätten dich verhaftet!«

Ida sah sie bestürzt an.

»Wieso in aller Welt sollte man mich verhaften?«

Sie unterdrückte ein nervöses Kichern.

»Ich wusste nicht, dass es verboten ist, mit einem Mann spazieren zu gehen.«

Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie sah, dass Hanna den Tränen nahe war.

»Weil du eine Jüdin deckst und mit ihr an einem Tanztee teilnimmst, bei dem anscheinend der gesamte Nachwuchs der NSDAP anwesend ist!«, zischte Hanna, packte sie am Arm und zog sie hinter sich her nach draußen.

»Ich will hier weg!«

Ida folgte ihr benommen. Sie spürte die panische Angst, die Hanna Tag und Nacht im Nacken saß, die ständige Furcht, entlarvt zu werden. Auf der Straße hakte sie sich bei Hanna ein.

»Beruhige dich. Es wird dir nichts passieren. Und mir erst recht nicht!«

Sie rückte ihren Hut zurecht.

»Hanna, lass uns diesen Sommer genießen! Wer weiß, was kommen wird!«

Ida wachte auf, fand ihre Hände in die Bettdecke gekrallt. Sie fühlte sich in ihrem Traum der letzten Nacht gefangen. Ihr war schwindelig. In einem riesigen Spiegelsaal hatte sie getanzt, war strahlend von einem Arm zum anderen geflogen. Plötzlich bemerkte sie, dass die Leute vor ihr zurückwichen, mit dem Finger auf sie zeigten und tuschelten. Erschrocken sah Ida an sich hinab und entdeckte, dass sie Trauerkleidung trug. Sie sah die Eltern, die an einem Tisch am Rand der Tanzfläche saßen und auf etwas hinter Ida starrten. Sie drehte sich um, da stand Alice, das Baby im Arm. Ida wollte aus dem Saal fliehen, vergeblich. Egal wo sie sich hinbewegte, tauchte Alice dort auf und hielt ihr das plärrende Kind entgegen. Hanna kam angelaufen, packte sie am Arm und schrie Ida an: »Du bist schuld an allem! Du hast dein Versprechen gebrochen! Sie werden dich holen!«

In der Ecke stand mit ernster Miene Alfred und winkte ihr, zu ihm zu kommen, zeigte auf einen Sarg, der neben ihm stand. Ida hatte versucht, wegzulaufen, es ging nicht, ihre Füße schienen am Boden festgewachsen.

Jetzt lag sie wach im Bett und versuchte, die Gewissensbisse und das bedrückende Gefühl zu verdrängen, das der Traum hinterlassen hatte.

Heute war Sonntag und BDM-Tag. Wie meistens stand eine Wanderung auf dem Programm, Ida würde wie gewohnt mit dem Schifferklavier hinter der Gruppenführerin her stapfen und die Lieder spielen, die ihr aufgetragen wurden. Sie hasste diese Musik fast genauso wie die nüchterne Uniform, die aus einem dunkelblauen, kratzigen Rock mit Kellerfalte, weißer Bluse, Kletterweste und einem schwarzen Halstuch mit dem ledernen Scharknoten bestand. Beim letzten Treffen hatte sie vergessen, die kleinen Perlenohrringe abzunehmen, die sie von ihrem Vater zum Geburtstag bekommen hatte und war zur sichtlichen Freude von Gisela und Marie von der Gruppenleiterin scharf gerügt worden.

»Eine deutsche Frau schmückt sich nicht mit solchem Tand! Eine Armbanduhr, die für Pünktlichkeit sorgt, brauchst du, mehr nicht! Bereitet euch lieber auf die Mutterrolle vor, die ihr einnehmen werdet, um dem deutschen Volk starke Kinder zu schenken!«

»Ich freue mich beinahe darauf, achtzehn zu werden und in ›Glaube und Schönheit‹ zu wechseln«, hatte Ida Hanna zugeflüstert, als die Gruppenleiterin außer Hörweite war. »Ich hoffe, dieser Verein wird seinem Namen Ehre machen.«

Ida kuschelte sich ins Kissen. Vielleicht könnte sie tun, als wäre sie krank? Sie verwarf den Gedanken. Hanna müsste alleine gehen, das würde sie nicht durchstehen. Mit jüdischem Blut durfte Hanna auf keinen Fall beim BDM sein. Der voreilige Entschluss, Hannas Herkunft geheim zu halten, hatte sie beide in eine mehr als heikle Lage gebracht. Es war zu spät, sich zu offenbaren, ohne mit der schlimmsten Strafe rechnen zu müssen und Hanna war derartig nervös, dass es immer schwieriger wurde, sie zu beruhigen. Gestern Abend hatte sie einen Weinkrampf bekommen und Ida hatte sie nur mit Mühe davon abhalten können, sich selbst anzuzeigen.

Ida seufzte abgrundtief und schwang die Beine aus dem Bett. Indem sie sich um Hanna kümmerte, konnte sie sich gut von ihrer eigenen misslichen Lage ablenken und alle Gedanken an das, was sie zuhause erwartete, beiseiteschieben. Ihre Eltern hatten sich seit ihrer überstürzten Abreise nicht bei ihr gemeldet. Sie wusste nicht, ob sie deshalb froh oder betroffen sein sollte. Ida holte tief Luft und bemühte sich um einen betont munteren Tonfall.

»Hanna, wach auf! Zöpfe flechten und Wanderschuhe herausholen! Marsch, marsch!«

Der Morgen versprach einen strahlend schönen Sommertag. Die Luft war schwer vom Duft der Linden, die die Straße säumten. Nach und nach versammelten sich die Mädchen vor der Treppe in der Auffahrt. Ida musterte ihre Kameradinnen. Wie fad, alle gleich angezogen, nur die Frisuren waren unterschiedlich. Ein Haufen Marionetten, dachte sie und verzog missmutig das Gesicht. Sie hasste Uniformierung. Bei der Wahl ihrer Kleider legte sie Wert darauf, sich abzuheben und verwendete viel Mühe darauf, mit kleinen Accessoires oder Verzierungen aus jedem Stück etwas Besonderes zu kreieren, dort mit einem großen Knopf, der mit farbigem Garn angenäht war, hier mit einer winzigen Schleife oder einem Band.

Sie waren vollzählig und Marie setzte sich wie selbstverständlich an die Spitze, die unvermeidliche Gisela im Schlepptau.

»Los geht’s!«, befahl sie und marschierte die Auffahrt hinunter in Richtung Bahnhof. Der Kies knirschte unter den Schritten der Mädchen. Sie würden sich mit den anderen und der Gruppenleiterin in dem düstermuffigen Raum treffen, in dem im Winter die Heimabende stattfanden, vor denen Ida noch mehr grauste.

»Die kann es nicht abwarten, mit der Gruppenleiterin im Gleichschritt durch die Landschaft zu rennen«, knurrte sie.

Hanna gab ihr einen verstohlenen Rippenstoß und verzog warnend das Gesicht. Während des Vortrags der Gruppenleiterin über die Art und Weise, wie sie die nationalsozialistische Weltanschauung in ihren in Bälde zu gründenden Familien leben und pflegen sollten, langweilte Ida sich tödlich und begann darüber nachzusinnen, wie sie das samtartige Innere der Rosenblüte, die sie gerade malte, besser herausarbeiten könne. Sie könnte eine Spachteltechnik anwenden. Beinahe hätte sie über ihren Gedanken vergessen, das Schifferklavier mitzunehmen, als sie aufbrachen. Die Gruppenleiterin, eine junge Frau mit fliehendem Kinn und weizenblonden Strähnen gab ihr ein Zeichen.

»Wem Gott will rechte Gunst erweisen, …«, intonierte Ida, bemüht, besonders viel Inbrunst in die Musik zu legen und ihre Kameradinnen schmetterten das Lied in den hellen Sommermorgen. Kaum hatten sie das Pflaster der Strandpromenade hinter sich gelassen und wanderten einen schilfumwucherten Pfad entlang, stolperte Ida über eine Wurzel und stürzte auf den Uferweg, begleitet von einem dramatischen Misston des Schifferklaviers.

»Au«, jammerte sie und hielt ihr Fußgelenk fest umklammert.

»Ich habe mir den Knöchel verstaucht, was für ein Pech!«

Die Gruppenleiterin hockte sich neben sie.

»Lass sehen, so schlimm wird es nicht sein.«

Sie zog ein Taschentuch hervor und tauchte es in den See. Nachdem sie es gründlich ausgewunden hatte, hielt sie es Ida mit einer mürrischen Geste hin.

»Hier, kühle dein Gelenk damit!«

Ida, die Schuh und Kniestrumpf ausgezogen hatte, warf ihr einen reuevollen Blick zu.

»Ich glaube nicht, dass ich weitergehen kann. Es tut mir leid, Kameradin.«

Ida war untröstlich.

»Wie gerne hätte ich diesen herrlichen Tag damit verbracht, zu wandern und zu singen!«, setzte sie zerknirscht hinzu.

Die Gruppenleiterin musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.

»Weit her ist es nicht mit deiner Sportlichkeit, über die erstbeste Wurzel musst du stolpern, du ungeschicktes Ding!«

Sie stand auf und bestimmte säuerlich: »Jemand muss Kameradin Ida nach Hause begleiten.«

Die anderen zögerten, sie schienen wenig Lust zu haben, sich in Idas Dunstkreis zu begeben, die offensichtlich in Ungnade gefallen war. Hanna trat schnell vor.

»Ich übernehme das, Kameradin!«

Die Gruppenleiterin nickte verdrießlich.

»Das Schifferklavier nehmt ihr mit. Heil Hitler.«

»Heil Hitler!«, nuschelte Ida und zog vorsichtig ihren Kniestrumpf an.

Sie blickten der Gruppe nach, bis sie hinter dem Schilf verschwunden war, das reichlich am Ufer wuchs.

»So und jetzt gehen wir schwimmen!«

»Bist du völlig übergeschnappt? Ich bringe dich zu Frau von Hohenegger damit du einen essigsauren Umschlag für deinen Knöchel bekommst.«

»Ich brauche keinen. Schau her! Alles bestens.«

Ida sprang auf und hüpfte demonstrativ auf ihrem angeblich verletzten Bein.

Hanna starrte sie sprachlos an.

»Du hast gar nichts?«

Ida grinste. »Ich habe unsere Badeanzüge und Handtücher eingepackt. Wir gehen ins Strandbad. Bis die anderen zurück sind, sind wir längst wieder im Pensionat.«

Ida legte Hanna den Arm um die Schultern.

»Jetzt machen wir uns einen richtig schönen Nachmittag!«

Ida drehte sich schwungvoll um ihre eigene Achse, das weiße Sommerkleid aus Musselin, bedruckt mit Vergissmeinnichtsträußchen, floss um ihre Beine. Sie hatte sich auf diesen Mittwochnachmittag mehr gefreut, als sie sich eingestehen wollte.

»Wie sehe ich aus?«

»Für eine Dame deutlich zu unternehmungslustig, würde Frau von Hohenegger sagen!«

Hanna warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

»Bist du in ihn verliebt?«

Ida schlang ein lichtblaues Band um den Strohhut und setzte ihn auf, hochzufrieden mit der Wirkung.

»Wo denkst du hin! Wir kennen uns seit wir Kinder sind. Er wollte immer mit meinen Rollschuhen fahren und hat mich mit Bonbons bestochen.«

Sie musste lächeln.

»Vor ein paar Jahren war ich eine Zeitlang ein bisschen in ihn verschossen, aber das ist vorbei. Er ist nur Zeitvertreib, damit ich auf andere Gedanken komme.«

Sie griff nach ihrer Handtasche und winkte Hanna zum Abschied zu.

»Sei pünktlich!«, rief die Freundin ihr nach.

Ida schlenderte die Seestraße entlang, dem vereinbarten Treffpunkt entgegen. Viktor lehnte bereits an der steinernen Balustrade. Erwartungsvoll sah er ihr entgegen.

»Schön siehst du aus! Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich versetzen.«

Ida zog eine Grimasse. »Hältst du mich für unzuverlässig?«

Statt einer Antwort nahm Viktor ihren Arm. Sie passierten den Rheintorturm und bogen in den Webersteig ein. Dort gab es gleich am Wasser einen kleinen Biergarten, Holzbänke unter alten Kastanien luden zu einem gemütlichen Nachmittag ein, unter bunten Lichterketten wartete eine kleine Tanzfläche auf verliebte Paare. Viktor dirigierte sie zu einem lauschigen Platz im Halbschatten.

»Was möchtest du trinken?«

»Champagner!«

Ida bemühte sich, einen verruchten Blick wie Marlene Dietrich aufzusetzen, musste aber über Viktors verwirrte Miene kichern. Sie las das mit Kreide auf eine Tafel geschriebene Angebot und entschied sich rasch.

»Pfirsichbowle tut’s auch.«

Der Ober kam und nahm ihre Bestellung auf. Ida sah verträumt einem Zitronenfalter nach, der trunken von der Illusion eines endlosen Sommers durch die Luft taumelte.

»Woran denkst du?«

Viktor hatte ihre Hand genommen und spielte mit ihren Fingern. Er sah sie eindringlich an, als wolle er sich jedes Detail in ihrem Gesicht einprägen.

»Ich werde Kunst studieren. Ich möchte Stimmungen in Farben verwandeln können, sodass die Menschen, die meine Bilder sehen, sie beim Betrachten des Bildes nachempfinden können. Momente wie jetzt, dieser warme, satte Duft nach Blüten und Sonne, die träumerische Leichtigkeit dieses Sommernachmittages …«

Sie lehnte sich über den Tisch.

»Und du, wovon träumst du? Wenn alles möglich wäre, was würdest du am liebsten tun?«

»Ich möchte an die Universität nach Wien gehen, Betriebswirtschaft studieren, danach in einem Unternehmen anfangen. Prokurist werden. Und irgendwann mein eigenes Unternehmen gründen. Und eine schöne Frau heiraten, mit der ich die Welt bereise und sie auf den Händen trage.«

Viktor lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken.

»Aus Wien wird vermutlich erst einmal nichts werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Krieg gibt, wird jeden Tag größer. Was die schöne Frau betrifft …«

Er warf ihr einen bedeutsamen Blick zu. Ida tat, als bemerkte sie seine Anspielung nicht. Im gleichen Augenblick wehten verlockend die Klänge eines Akkordeons zu ihnen herüber.

»Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami …«, summte Ida die Melodie mit, wiegte sich im Takt und sah Viktor auffordernd an. Er stand auf und verbeugte sich.

»Die gnädige Frau möchte tanzen?«

Ida nickte hoheitsvoll. Die Bowle perlte in ihrem Blut, sie fühlte sich beschwingt, beinahe glücklich. Sie waren das einzige Paar auf der Tanzfläche und Ida fühlte die neidischen Blicke mancher jungen Frau in der gut besetzten Gartenwirtschaft. Ida legte den Kopf an Viktors Schulter und sog den Geruch von Rasierwasser, Seife und etwas Altbekanntem ein.

»Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe …«, sang Ida leise und spürte, wie Viktor sie ein Stückchen näher an sich zog.

Sie tanzten selbstvergessen, ein Stück nach dem anderen. Als der Akkordeonspieler sein Instrument absetzte, schlug es sieben vom Kirchturm. Ida erschrak.

»Ich sollte längst zurück sein! Das Abendessen! Ich muss los.«

Sie drückte Viktor einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte davon.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel ihr ein kleines, dunkelhaariges Mädchen auf, das von mehreren Burschen in den Uniformen der HJ umringt wurde. Ida blieb stehen. Einer der Jungen, sie schätzte ihn auf etwa vierzehn Jahre, trat vor die Kleine und packte sie an ihrer Strickjacke.

»Bist du eine von den Zigeunern, du kleines Stück Dreck?«

Ein anderer höhnte: »Arisch sieht sie jedenfalls nicht aus!«

Sie schoben sich näher an das Mädchen heran, das sich verängstigt an die Hauswand drückte und zu weinen begann.

»Lasst sofort das Kind in Ruhe, ihr Flegel!«

Ida stürmte über die Straße, drängelte sich zwischen den Jungen durch und stellte sich schützend vor das weinende Mädchen.

»Fünf Kerle gegen ein Kind, das ist mutig!«, fauchte sie.

Der Anführer der Bande betrachtete sie höhnisch.

»Gehörst du vielleicht auch zu dem Ungeziefer?«, geiferte er und trat so nahe an sie heran, dass sein grober Stiefel die Spitze ihrer weißen Spangenschuhe berührte. Er war genauso groß wie sie. Ida roch Kohl und sauren Jungenschweiß. Sie hatte Angst, aber ihre Wut war größer. Hart stieß sie ihn mit der Faust vor die Brust.

»Du armseliger kleiner Wicht! Geh nach Hause und mach deine Schulaufgaben. Und lass dir von deiner Mutter Benehmen beibringen!«

Die anderen begannen zu pöbeln, der Kreis aus zornigen Jungenleibern schloss sich enger um sie und das schluchzende Kind. Ida überlegte fieberhaft, wie sie sich und das Mädchen in Sicherheit bringen könnte. Plötzlich wurden zwei der Jungen zur Seite gerissen, der Anführer landete im Schwitzkasten, mit finsterer Miene stand Viktor da, die Rechte drohend erhoben.

»Macht, dass ihr wegkommt! Aber schnell! Sonst melde ich eurem Gruppenleiter, dass ihr eine deutsche Frau belästigt habt!«

Murrend zogen sich die Burschen zurück, die Kleine nutzte die Chance und verschwand in einem Hauseingang. Kopfschüttelnd betrachtete Viktor Ida.

»Keine fünf Minuten kann man dich allein lassen, ohne dass du in Schwierigkeiten gerätst. Ich begleite dich zum Pensionat, keine Widerrede.«

Die nächsten beiden Mittwochnachmittage hatte Ida Ausgangsverbot, Frau von Hohenegger war äußerst verärgert über Idas neue Eskapade gewesen und hatte damit gedroht, sie beim nächsten Verstoß gegen die Hausregeln nach Hause zu schicken.

Schlechtgelaunt saß Ida im gemeinsamen Wohnzimmer im ersten Stock und stopfte mit verbissener Miene Kleidungsstücke, die den Armen zugutekommen sollten. Sie schreckte hoch, als es am Fenster raschelte.

»Ida?«

Das war eindeutig eine Männerstimme. Das Laub des wilden Weines, der das Haus wie ein grünglänzendes Kleid umschloss, wogte, ein dunkelblonder Schopf tauchte am Fenster auf.

»Viktor, was tust du da? Verschwinde! Wenn dich jemand sieht! Ich habe schon genug Ärger …«

Ida wedelte mit ihrer Stopfarbeit, als wolle sie ein lästiges Insekt vertreiben.

»Ich wollte nur nachsehen, ob sie dich bei Wasser und Brot eingekerkert haben und ich dich wieder retten kann.«

Ida musste lachen.

»Nein, aber ich habe zwei Wochen Ausgangsverbot.«

Sie blickte bedauernd nach draußen. Am liebsten wäre sie aus dem Fenster geklettert und mit Viktor davongelaufen. Es raschelte stärker, eine frisch geschnittene Rosenblüte flog über ihre Schulter und landete mit einem federleichten Geräusch mitten im Zimmer. Ida erkannte sofort, woher die Kostbarkeit stammte.

»Mach lieber, dass du wegkommst, Frau von Hohenegger versteht keinen Spaß, wenn man ihren Rosen zu nahe kommt!«

Sie hob die Blüte auf und sog ihren Duft ein.

Nach ihrem Hausarrest traf sie sich jeden Mittwoch mit Viktor. Er brachte sie zum Lachen und gab ihr für ein paar Stunden ein Gefühl der Unbeschwertheit. Nach Idas Geburtstag Mitte August war sein Praktikum zu Ende und er fuhr zurück nach Herrlingen. Ida verfiel in den Alltagstrott.

Sie hatte im Schatten der Bäume Schutz vor der glühenden Hitze gesucht und paukte Französischvokabeln, als Hanna plötzlich vor ihr stand. Ida schaute zu ihr hoch. Die Freundin war aschfahl.

»Was hast du?«

»Meine Eltern sind verhaftet worden. Eine Nachbarin hat angerufen. Letzte Nacht war die SS da. Niemand weiß, wo sie hingebracht wurden.«

Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg

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