Читать книгу Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg - Yngra Wieland - Страница 9

Kalkweiß September 1939

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»Ida, so geht es nicht weiter! Was fällt dir ein, deine Pflichten derartig zu vernachlässigen? Frau Haberkorns Tochter hat Paul heimgebracht. Das ist an Peinlichkeit kaum zu übertreffen!«

Ida versuchte, den störenden Lärm einzuordnen. Langsam tauchte sie aus ihrer Versunkenheit auf an die Oberfläche. Sie hob den Kopf. Ihre Mutter stand in Hauskleid und Schürze in der Tür, das brüllende Kind auf dem Arm. Ida erinnerte sich, dass sie im Laden gewesen war, von Viktors Verschwinden gehört hatte, vom Heimweg wusste sie nichts. Wie im Fieber war sie gelaufen, war in ihrem kleinen Atelier im ehemaligen Gärtnerhaus verschwunden und hatte begonnen, ein Porträt von Viktor zu malen. Die Ruhe im Atelier tat gut, mit jedem Pinselstrich übermalte sie ihr schlechtes Gewissen Viktor gegenüber, und die Angst, dass ihm etwas geschehen könnte.

»Wenn du nicht zur Besinnung kommst, spreche ich mit deinem Vater, damit er dir das Malen verbietet.«

»Mutter, bitte, das darfst du nicht! Ich muss jetzt malen, ich muss Viktor malen, was, wenn er nicht zurückkommt aus dem Krieg?«

»Ida Leonore! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Schlag dir Viktor aus dem Kopf. Du wirst Alfred heiraten! Leg jetzt den Pinsel weg, wasch dir die Farbe ab und füttere Paul.«

Ihre Mutter wandte sich mit einer brüsken Bewegung ab.

»Du hast deiner Schwester auf dem Totenbett ein Versprechen gegeben und du wirst deinen Verpflichtungen nachkommen!«

Ida sah zu, wie die Mutter durch den Garten zum Haus ging, während ihr der Sinn dieser Worte langsam ins Bewusstsein sickerte. Wie betäubt begann sie ihre Pinsel zu reinigen, säuberte den Spachtel, schloss die Deckel der Farbtuben. Naphtolrot und das dunkle Cadmiumgelb gingen zur Neige. Sie brauchte dringend Nachschub. Mit müden Bewegungen schrubbte sie ihre Finger ab.

»Du wirst Alfred heiraten. Du wirst Alfred heiraten. Du wirst Alfred heiraten«, hallte es in ihren Ohren.

Bevor sie die Küche betrat, holte Ida tief Luft, als müsse sie auf den Grund eines tiefen Gewässers tauchen. Hanna saß auf der Eckbank, Paul im Arm und unterhielt sich mit Idas Mutter, die rote Bete schälte. Eine seltsame Atmosphäre der Vertrautheit herrschte zwischen den beiden. Ida fühlte sich wie ein Eindringling, als sie neben Hanna auf die Bank schlüpfte. Für einen Augenblick wünschte sie sich, sie könne vertrauensvoll bei der Mutter sitzen, Paul in ihr Herz schließen, Mutters Ansprüchen genügen, damit sie von ihr geliebt wurde. Hanna schien etwas zu spüren, warf ihr einen schuldbewussten Blick zu und reichte ihr das Kind. Ida nahm Säugling und das Fläschchen entgegen, das die Mutter ihr hinschob.

»Du musst prüfen, ob die Milch die richtige Temperatur hat.«

»Ihh, ich will das nicht probieren!«

Die Mutter warf Ida einen verständnislosen Blick zu und nahm die Flasche wieder an sich. Sie tropfte etwas Flüssigkeit auf die Innenseite ihres Handgelenkes, nickte zufrieden und drückte Ida das Fläschchen in die Hand.

»So macht man das.«

Ida hielt dem Kind den Sauger an die Lippen, es schnappte danach und begann gierig zu schlucken. Die kleinen Finger bekamen eine Haarsträhne Idas zu fassen und schlossen sich fest darum. Ida runzelte die Stirn. Unbehaglich ruckelte sie herum und versuchte, ihr Haar dem Klammergriff zu entziehen. Das Kind lag schwer in ihrem Arm, der langsam lahm wurde. Hanna betrachtete Paul mit einem Ausdruck der Rührung.

»Meine Cousine hat auch einen kleinen Jungen, Walter heißt er.«

Ihr Gesicht verzog sich kummervoll.

»Was wohl aus meiner Familie geworden ist? Tag und Nacht muss ich daran denken, wo Vater und Mutter jetzt sind und was ihnen zugestoßen ist.«

»Vielleicht hat man sie längst gehen lassen. Sie haben doch nichts verbrochen. Du könntest ihnen eine Nachricht nach Hause schicken, dass du in Sicherheit bist. Oder noch besser, ruf daheim an«, warf Ida ein.

Für einen Augenblick glomm Hoffnung in Hannas Blick auf.

»Frau Förster, darf ich telefonieren? Darf ich es versuchen?«

Idas Mutter sah skeptisch drein.

»Geh bitte zu meinem Mann und besprich das mit ihm. Vielleicht ist es besser, wenn er anruft … Gerade ist Alfred bei ihm, aber nach dem Kaffee hat er bestimmt Zeit für dich.«

»Danke, Frau Förster. Danke für alles. Ich werde Ihnen das niemals vergessen.«

Hanna verließ die Küche. Das Kind hatte die Flasche geleert und hing schläfrig in Idas schmerzendem Arm.

»Kann ich ihn hinlegen? Er ist eingeschlafen.«

»Nein! Hast du denn gar nichts gelernt bei Frau von Hohen­egger? Er muss zuerst ein Bäuerchen machen. Lege ihn an deine Schulter und klopfe auf seinen Rücken.«

Sie warf ein Baumwolltuch über Idas Schulter. Die seufzte gottergeben, was ihr einen weiteren mahnenden Blick eintrug. Während sie mechanisch mit der flachen Hand auf den Rücken des Säuglings patschte, wanderten ihre Gedanken zu dem angefangenen Porträt Viktors. Wie konnte sie den intensiven Ausdruck seiner Augen besser einfangen? Sie versuchte, sich an die Sommernachmittage zu erinnern, als Viktor ihr von seinen Träumen und Plänen erzählte, an die warme Luft und den Duft nach Rosen, aber es war zu weit weg. Ein lauter Rülpser erschütterte den kleinen Körper in ihrem Arm und Ida schrak zusammen. Sie hielt ihrer Mutter das Kind mit ausgestreckten Armen entgegen.

»Mutter, kannst du ihn nehmen? Ich glaube, er hat in meine Haare gespuckt!«

Ihre Mutter nahm den Kleinen und legte mit einer schützenden Bewegung die Hand auf sein Köpfchen.

»Ach Ida, kannst du denn nicht einen Funken Liebe und Mitgefühl für den armen Wurm aufbringen? Es ist schließlich Alices Kind.«

Ida sah die kummervolle Miene ihrer Mutter und fühlte sich von Grund auf schlecht, gleichzeitig stieg Trotz in ihr auf. Sie wollte die Worte zurückhalten, zu spät.

»Genau, es ist Alices Kind, nicht meines. Ich wollte es nicht. Ich weiß nicht, wie man sich um ein Kind kümmert und ich will es auch gar nicht wissen.« Die Worte sprangen wie Kröten aus ihrem Mund, unaufhaltsam, hässlich. »Vielleicht wäre es dir lieber, ich wäre an Alices Stelle gestorben, aber so ist es nun einmal nicht. Ich lebe und ich will etwas mit meinem Leben anfangen!«

Mit brennenden Wangen starrte sie ihre Mutter an. Die war noch bleicher geworden. Ida sah, wie sie um Beherrschung rang. In ihrem Gesicht spiegelten sich Wut, Schmerz und Traurigkeit wider.

»Ich bedaure, dass du so schlecht von mir denkst. Aber es ist, wie es ist. Wir müssen in diesen Zeiten zusammenhalten. Du wirst dein Versprechen einlösen, Alfred zu heiraten und Paul großziehen. Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du erst einmal eigene Kinder hast. Dein Vater bespricht gerade alles mit Alfred.«

Ihre Mutter hielt Idas Blick gefangen und sie wusste, dass jetzt die Zeit für eine Entschuldigung wäre, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Mit steifen Bewegungen erhob sie sich und verließ die Küche. Die Tür zu Hannas Zimmer stand einen Spalt offen, Ida ging hinein. Hanna saß im Sessel am Fenster und strickte.

»Was wird das?«

»Ein Jäckchen für Paul. Ich muss irgendetwas tun. Wenn ich die ganze Zeit nur herumsitze, werde ich wahnsinnig.«

Ida setzte sich auf die Bettkante.

»Ach Hanna, warum ist alles nur so schrecklich?«

Hanna ließ ihr Strickzeug sinken. Ida erschrak über die Distanz in ihrem Blick.

»Du hast deine Eltern, dein Zuhause, deine Malerei. Du wirst einen Mann heiraten, der gut aussieht und auf den ersten Blick sehr kultiviert und freundlich wirkt.« Um ihren Mund zuckte es. »Er wird für dich sorgen. Den einen oder anderen könnte es schlimmer getroffen haben.«

Die Bitterkeit, mit der Hannas Worte gefärbt waren, stach Ida messerscharf ins Herz. Ihre Wangen wurden heiß vor Scham.

»Hanna, verzeih mir, bitte. Ich bin eine dumme, eigensüchtige Gans. Du hast alles verloren und ich sitze hier und jammere dir die Ohren voll. Du hast Recht, wenn du mich verachtest. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Seit Alice tot ist, geht alles schief. Ich habe ständig das Gefühl, ich kann meiner Mutter nichts recht machen. Alice war in allem, was sie tat, perfekt, alles schien leicht bei ihr. Ich vermisse sie so sehr und ich habe keine Ahnung, was ich mit dem Kind anfangen muss, oder wie es ist verheiratet zu sein. Im Pensionat haben wir Tennisspielen und französisch gelernt, wie man ein Menu zusammenstellt, Gurkenbrötchen zum Tee dekoriert und dass man die Teller zwei Zentimeter vom Tischrand deckt. Aber wie es ist, mit einem Mann zusammen zu sein und ein Kind großzuziehen, hat uns niemand beigebracht. Am liebsten würde ich davonlaufen und von allem nichts mehr hören und sehen.«

Ihre Finger nestelten an der milchverklebten Haarsträhne. Hanna schüttelte langsam den Kopf.

»Ich verachte dich nicht, Ida, ich kann dich verstehen. Wir können alle nur hoffen, dass es nicht schlimmer kommt und dieser grässliche Krieg schnell vorbei ist. Wir dürfen uns einfach nicht unterkriegen lassen.«

Ihre Stimme zitterte und die verzweifelte Miene strafte ihre Worte Lügen. Hanna nahm ihr Strickzeug wieder auf. Vor sich hinbrütend saßen sie da, suchten nach Worten, die Hoffnung gaben, fanden keine. Regen hatte eingesetzt und klatschte in schweren Tropfen an die Scheiben. Die Mutter rief zum Kaffee und Hanna erhob sich gehorsam. Ida sah sie bittend an.

»Sag, dass ich Kopfschmerzen habe.«

Hanna verließ den Raum und Ida fühlte die Kluft die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, eine Kluft, von der sie nicht wusste, ob sie sich jemals wieder schließen würde. Hanna nimmt jetzt die Stelle der guten Tochter ein, dachte sie schmerzerfüllt.

Gegen Abend zwang sie sich, hinunterzugehen. Ida ging ins Esszimmer und begann, den Tisch für das Abendessen zu decken. Fünf Gedecke, so wie früher. Hannas Gesicht war vom Weinen verquollen. Ihr Anruf schien ergebnislos gewesen zu sein oder noch schlimmer, sie hatte schlechte Nachrichten bekommen. Die Mutter sah nicht auf, als Ida die Küche betrat. Wortlos ging Ida ihr zur Hand. Sie mischte Wasser und Holundersirup in einem Glaskrug, wusch den Salat und rührte Salatsauce an. Wie jeden Tag würde im Hause Förster das Essen Punkt sieben auf dem Tisch stehen. Seit Alices Tod spielte Ida keine fröhlichen Läufe mehr auf dem Klavier, um die Familie an den Tisch zu rufen, es gab keine Scherze zwischen ihr und der Schwester, die Mutter tauschte keine verschmitzten Blicke mit dem Vater, wenn Alice ihn ob seiner Zerstreutheit liebevoll geneckt hatte. Heute erschien Ida die Stimmung am Tisch noch bedrückender.

»Ich fahre morgen nach Ulm. Brauchst du etwas, Eleonore?«, fragte Alfred.

»Ich brauche etwas!«, platzte Ida heraus. »Einige meiner Farben gehen zur Neige. Nimmst du mich mit, Alfred?«

»Ida, du warst nicht gefragt«, tadelte der Vater halbherzig, aber ihre Mutter warf ihm den besonderen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu und er schwieg.

»Ich muss einige Formalitäten erledigen und will sehen, ob ich Saatgut und einen Vorrat an Lebensmitteln bekomme. Wir müssen gewappnet sein, uns so gut wie möglich selbst zu versorgen. Ich glaube nicht daran, dass der Krieg bald zu Ende ist«, Alfred sah Ida über den Tisch hinweg an. »Wenn du mitkommen willst, sei um acht bereit.«

»Darf ich, Mutter?«, bat Ida und setzte gehorsam hinzu: »Hanna, würdest du für mich nach Paul sehen?«

Hanna nickte stumm. Sie schien von Stunde zu Stunde farbloser zu werden.

»Soll ich dir etwas mitbringen? Möchtest du etwas?«, fragte Ida, ein vergeblicher Versuch, die Freundin aufzuheitern. Hanna öffnete den Mund, aber ihre Antwort wurde vom Gebrüll des Führers übertönt. Ihr Vater hatte den Radioapparat eingeschaltet. Sogar er wollte darüber informiert sein, was in Polen vor sich ging. Ida verabscheute die heisere Stimme, die abgehackte Redeweise des Reichskanzlers, die unheilvoll in ihren Ohren dröhnte. Schnell stand sie auf und begann, den Tisch abzuräumen.

Am nächsten Morgen wartete Ida pünktlich um acht Uhr im Hof. Sie hatte sich sorgfältig zurechtgemacht, trug ein Kostüm aus Wolle mit einem Ledergürtel, der ihre schmale Taille betonte und einen eleganten Hut aus sandfarbenem Filz mit Schleifenband. Sie freute sich auf die Abwechslung, darauf, für ein paar Stunden den ausgesprochenen und unausgesprochenen Anforderungen ihrer Mutter zu entkommen und Zeit für sich zu haben. Seit der Rückkehr aus dem Pensionat war sie nicht mehr in der Stadt gewesen. Sie nahm sich vor, etwas Schönes für Hanna zu kaufen, einen Pullover, ein Kleid, irgendetwas, das sie aufmuntern würde. Vielleicht würde sie schöne Wolle finden, Hanna war geschickt im Handarbeiten, ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Alfred trat aus der Haustür und Hannas Worte von gestern klangen in Idas Ohren nach. »Du wirst einen Mann heiraten, der gut aussieht« – Ja, ein gutaussehender Mann, das war Alfred ohne Zweifel. Groß und schlank, mit seiner runden Brille, die ihm ein nachdenkliches Aussehen verlieh. Sein verschmitztes Lächeln, das mit Alices Tod nahezu verschwunden war, der warme, offene Ausdruck, mit dem er einen ansah, als wäre sein Gegenüber der interessanteste Mensch, den es gab. Im letzten Jahr hatte er das Examen zum Landwirtschaftsassessor abgelegt und war im Begriff gewesen, das kleine Gut, auf dem sie lebten, wieder auf Vordermann zu bringen. Idas Großvater hatte es einst bewohnt, aus dieser Zeit waren nur das gemütliche Wohnhaus und ein Wirtschaftsgebäude übrig geblieben. Alice und Alfred hatten große Pläne gehabt, wollten das Gut neu erblühen lassen, mit Geflügel, Schafen, Gemüse und Getreideanbau.

»Kommst du?«

Ida schrak aus ihren Gedankenschleifen. Alfred hielt ihr die Wagentür auf. Mit einem entschuldigenden Lächeln stieg sie ein und lehnte sich mit einem Seufzer an das Rückenpolster. Alfred fuhr bedachtsam, wie er alles tat. Ida konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals aufgebracht oder unbeherrscht gesehen zu haben.

»Du darfst mir glauben, mir gefällt das alles genauso wenig wie dir. Wenn es nach mir ginge, würde ich dich von dem Versprechen entbinden, aber davon wollen deine Eltern nichts wissen. Und für Paul ist es mit Sicherheit das Beste. Ich verspreche dir, ich tue mein Bestes, damit du glücklich wirst. Und ich werde dich und mich nicht in die Verlegenheit bringen, dir einen offiziellen Antrag zu machen.«

Alfred sprach mit Ernsthaftigkeit, der schmerzvolle Ton in seiner Stimme trieb Ida Tränen in die Augen. Scheu wandte sie den Kopf.

»Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist nur, ich habe doch keine Ahnung wie – wie es ist, eine Ehe zu führen …«, stammelte sie. »Ich weiß nicht, wie man ein Kind großzieht. Und ich bin schauderhaft in Dingen wie Haushalt und Ordnung, das höre ich jedenfalls ständig von Mutter und von Frau von Hohenegger. Ich bin einfach nicht dazu gemacht.«

Irrte sie sich, oder spielte der Anflug eines Lächelns um Alfreds Mundwinkel? Er löste eine Hand vom Lenkrad und legte sie für einen Augenblick auf die ihre. Es fühlte sich warm und beschützend an. Eigentlich ein schönes Gefühl, schoss es Ida durch den Kopf.

»Es gibt Wichtigeres im Leben als einen ordentlichen Haushalt, glaube mir. Ich bin zufrieden, wenn du versuchst, dich so gut wie möglich um Paul zu kümmern, mehr erwarte ich nicht. Was du nicht kannst, wird dir deine Mutter zeigen.«

Ida stieß ein bitteres Lachen aus.

»Ja, das wird sie mit Sicherheit.«

Alfreds Besonnenheit beruhigte Ida ein wenig. Das kurze Gespräch hatte ihr gut getan, ihr ein kleines bisschen Angst genommen, aber nun wollte sie das Thema zur Seite schieben, vergessen. Sie begann, über Alice zu sprechen und den Rest der Fahrt tauschten sie wehmütige Erinnerungen aus, es war Ida, als säße der Geist der Schwester zwischen ihnen, um aus einer anderen Welt heraus eine Verbundenheit zu erschaffen zwischen ihrem geliebten Mann und ihrer kleinen Schwester. Alfred ließ Ida vor dem kleinen Laden für Künstlerbedarf aussteigen, sie verabredeten einen Treffpunkt in einem Café im Schatten des Münsters. Sie stieg die Stufen zu dem Laden hinab, atmete tief den vertrauten Geruch nach Farbe, Lösungsmitteln, dem Holz der Keilrahmen und der Lacke ein, den sie so liebte. Sie ließ sich Zeit, plauderte mit dem Ladenbesitzer, einem kauzigen, alten Mann und nahm außer den Farben auch Marderhaarpinsel in verschiedenen Stärken mit. Ein heftiger Windstoß riss ihr beinahe den Hut vom Kopf, als sie auf die Straße trat. Die ersten Herbstblätter trudelten über das Pflaster. Die Luft roch nach Abschied. Ida fiel auf, dass viele Geschäfte leer standen, manche Scheiben waren mit Zeitungspapier verhängt, andere sogar eingeworfen. An einem heruntergelassenen Rollladen hing ein Schild: »Das Geschäft ist geschlossen. Betriebsführer und Gefolgschaft stehen im Felde und kämpfen für den Sieg!« Auf die Hauswand eines Feinkostladens, in dem Ida früher manchmal mit Alice Leckerbissen für den Vater eingekauft hatte, war »Judensau« geschmiert. Die Schaufenster waren leer, der Eingang mit Brettern vernagelt. In einem Schaukasten war eine Ausgabe des Stürmers ausgehängt. »Die Juden sind unser Unglück«, stand in großen Buchstaben darüber. Am liebsten hätte sie diese Scheibe eingeworfen und die Schandblätter herausgerissen. Wie dumm waren Menschen, die so etwas taten! Zornig wandte sich Ida ab und ging schnell in Richtung Münster, beinahe wäre sie in ihrem Ärger in einen Dreiradlieferwagen gelaufen. Am Nördlichen Münsterplatz befand sich ein Garnhaus, in dem sie das Mitbringsel für Hanna zu finden hoffte. Sie wählte weiche, moosgrüne Wolle, die wundervoll mit Hannas haselnussbraunen Haaren harmonieren würde und kaufte ausreichend, damit es für einen Pullover und eine passende Jacke reichte. Nachdem Ida sorgfältig Knöpfe in der Form von kleinen Kronen ausgewählt hatte, fühlte sie sich beinahe beschwingt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch über eine Stunde Zeit, aber der kalte Wind und die feindselige Stimmung auf den Straßen nahmen ihr die Lust, in der Stadt herumzustreifen. Mit zügigen Schritten ging sie zu der Konditorei, genoss die Wärme, den Duft nach Kaffee und Schlagsahne, der sie einhüllte, als sie den Samtvorhang im Vorraum teilte und eintrat. Auf einem Tischchen unter der Garderobe lagen Zeitschriften. Ida verzog das Gesicht. Sie schob die NS-Frauenwarte und zerlesene Exemplare von Mutter und Volk zur Seite, auf deren Titelblatt junge Frauen in Turnkleidung abgebildet waren, die unter einem Feld voller Hakenkreuzfahnen Aufstellung nahmen, und zog eine Ausgabe Hella hervor. Auf jeden Fall besser als die grauenvollen Propagandablätter. Am Fenster war ein Tisch frei und sie ließ sich in den Sessel fallen.

»Heil Hitler. Was darf ich Ihnen bringen, gnädiges Fräulein?«

Die Kellnerin, adrett in weißer Schürze und gestärktem Häubchen, zückte diensteifrig ihren Block.

»Ich nehme eine heiße Schokolade.«

»Wie wäre es mit einem Stückchen Kuchen? Der Frankfurter Kranz ist köstlich, oder darf es ein Apfelkuchen mit Streuseln sein?«

»Danke, vielleicht später, ich warte noch auf –« Idas Satz ging in dröhnendem Gelächter unter. Ein paar Tische weiter saß eine Gruppe Männer in Uniformen der SS. Ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann, dessen Augenpartie Ida an den Schauspieler Gustaf Gründgens erinnerte, fing ihren Blick auf. Es war Ida, als fessle er sie mit seinen Augen, sie war unfähig, wegzusehen, fühlte sich, als schaue er in ihr Innerstes. Nach scheinbar endlos langer Zeit verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, er nickte ihr zu. Ida fühlte ihre Wangen heiß werden, griff schnell nach der Zeitschrift und begann, darin zu blättern. Sie bemühte sich, der Versuchung zu widerstehen, zu den Männern hinüberzusehen, betrachtete angestrengt eine Modezeichnung. Das Modell trug einen marineblauen Mantel, einen kecken Hut und führte einen Terrier an der Leine. Terrier waren derzeit ein beliebtes Modeaccessoire. Ida konnte den struppigen Tieren nichts abgewinnen. Sie mochte ihre Katze, die kam und ging, wann sie wollte und der man nichts befehlen konnte. Die gezeigten Kleidermodelle hatten knielange Röcke, betonten eine schmale Silhouette. Turbane schienen modern zu werden. Sie studierte intensiv eine Auswahl an Kappen, sah die Kleidermuster an, für die ursprünglich sogar Schnittmusterbogen im Heft beigelegen hatten und besah inbrünstig die Werbung für Amann Nähseide und Ata mit Salmiak, als läse sie die schönsten Gedichte.

Bei den Kochplänen für zwei Wochen angelangt, überfiel Ida Sehnsucht nach dem Pensionat und der unbeschwerten Zeit dort. Es kam ihr vor, als sei es schon ewig her, seit sie mit Hanna durch den Park gewandert war, Tennis gespielt oder Greta vor deren Leica Modell gestanden hatte. Lustlos blätterte sie weiter. »Kauft deutsche Mode!«, wurden die Frauen aufgefordert, und »Alles für die Volksgemeinschaft!« Wer ausländische Artikel kaufte, war ein Volksschädling. Dabei hatte Ida im Laden von Frau Haberkorn aufgeschnappt, dass hohe Politiker wie Hermann Göring exzentrischem Luxus frönten und die Oberschicht in Frankreich einkaufte.

Sie schrak auf, Tritte knallten auf den Boden, »Heil Hitler«, die Uniformierten verließen das Café. Sie konnte nicht anders, schaute auf den Platz hinaus. Der Dunkelhaarige stand vor der Scheibe, tippte lächelnd an seine Uniformmütze, bevor er seinen Kameraden folgte. Ida nahm einen Schluck von der Schokolade, die inzwischen kalt geworden war. Wenn Alfred nur endlich käme! Sie kramte in ihrer Handtasche und zog das kleine Büchlein hervor, in dem sie Skizzen sammelte. Ihr Stift flog über das Papier, das gedämpfte Murmeln der anderen Gäste, das Klirren von Tassen und Besteck verschwamm, konzentriert zeichnete sie das Porträt des Dunkelhaarigen. Eine letzte Schraffierung verlieh den Augen des Mannes den dämonischen Ausdruck, der sie gleichzeitig fasziniert und verstört hatte. Sie klappte das Skizzenbuch in dem Moment zu, als Alfred das Café betrat. Beinahe erleichtert hob sie die Hand und winkte ihm. Alfred hängte Mantel und Hut auf, setzte sich ihr gegenüber. »Hast du alles bekommen, was du brauchtest?«

»Ich war ziemlich schnell fertig, die Stimmung da draußen hat mir die Lust am Bummeln verdorben.«

»Hattest du Schwierigkeiten?«

»Nein, es ist nur die Atmosphäre, die ganzen zerstörten Läden, die Schmierereien. Es ist hässlich und bedrohlich. Ich habe Angst wegen Hanna. Ich habe etwas für sie gekauft, weil …«

Alfred beugte sich abrupt über den Tisch.

»Sprich niemals über sie, nicht in der Öffentlichkeit!«, flüsterte er ihr zu.

»Was darf ich dem Herrn bringen? Die Dame jetzt ein Stück Kuchen?«

Wie aus dem Boden gewachsen, stand die Bedienung neben ihnen. Alfred bestellte Kaffee für sich, Mokka für Ida und ein Stück Frankfurter Kranz. Ida war beklommen zumute. Sie zerkrümelte den Kuchen mit der Gabel auf ihrem Teller, pickte lustlos daran herum.

»Glaubst du, der Krieg dauert lange?«

Alfred hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

»Ich habe jede Menge Saatgut, Rüben und Kartoffeln gekauft, man weiß nie. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, wenn du ein bisschen etwas über Kartoffel- und Gemüseanbau lernst.«

Ida sah ihn an, als hätte er ihr verkündet, er tanze heimlich Ballett. Entschieden schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Das ist nichts für mich. Ich male das Gemüse lieber in Form von Stillleben.«

Ein Schmunzeln glitt über Alfreds Gesicht.

»Du bist unverbesserlich. Iss auf, wir sollten fahren.«

Zuhause angekommen, tauschte Ida ihr Kostüm gegen eine alte Hose und streifte ihren Malkittel über. Hanna legte gerade Paul zum Mittagsschlaf hin und Ida war heilfroh, sich nicht darum kümmern zu müssen. Sie beeilte sich, im Atelier zu verschwinden, bevor ihre Mutter mit irgendwelchen Ansprüchen an sie herantreten konnte. Mit Freude packte sie ihre neuerworbenen Farben aus, fühlte die Weichheit der Pinsel zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie hob das angefangene Bild von der Staffelei, nahm eine frische Leinwand und begann mit energischen Bewegungen mit dem Hintergrund. Vor ihrem geistigen Auge entstand bereits das Porträt, formten sich die ersten Ideen zur Farbgebung. Es dämmerte bereits. Ida musste sich zwingen, sich dem Sog der Farben zu entziehen. Sie räumte auf, reinigte die Pinsel und warf einen letzten Blick auf das Bild. Morgen würde sie weitermachen, gleich nach dem Frühstück. Müde, aber zufrieden schlenderte sie durch den Garten, als sie jemanden auf das Haus zugehen sah. Ida beeilte sich, die Besucherin abzupassen, bevor sie die Haustür erreicht hatte.

»Heil Hitler.«

Der Arm der stämmigen jungen Frau schoss nach oben, als ob jemand auf einen Knopf gedrückt hätte. Ida erkannte Marianne Werg, die Gruppenführerin der örtlichen Mädelschaft. Sie biss sich auf die Lippe. Sie hätte sich längst dort melden müssen, hatte es immer wieder aufgeschoben, dann vergessen.

»Marianne, guten Abend.«

»Heil Hitler!«

»Ja. Heil Hitler. Ich wollte längst bei euch vorbeischauen, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, seit ich zurück bin.«

Marianne musterte sie mit unbewegter Miene und Ida wurde sich ihres Aufzuges bewusst. Verlegen strich sie eine Strähne aus der Stirn und merkte, dass ihr Haar mit Farbe verklebt war.

»Ich sammle für das Winterhilfswerk.«

Marianne deutete mit dem Kinn zum Abzeichen neben der Haustür. »Ihr habt lange nichts mehr gespendet.«

Ida zuckte hilflos mit den Schultern. Die Tür ging auf, ihre Mutter erschien. Sie musste die Szene von drinnen beobachtet haben. Sie winkte Ida heran und drückte ihr wortlos einen Geldschein in die Hand. Ebenso stumm hielt Ida Marianne das Geld entgegen. Die nahm den Schein mit einem sparsamen Lächeln entgegen und stopfte ihn in ihre Sammelbüchse.

»Hier, ein Büchlein über Tradition und Heimat. Und vergiss nicht, das Abzeichen auszutauschen.«

Gönnerhaft händigte sie Ida ein Heftchen und ein Emblem aus, das zwei Ähren und eine Mohnblume zeigte.

»Wir treffen uns morgen Abend im Milchwerk und sprechen über die Rede des Führers vor dem Reichstag. Die deutsche Frau soll sparsam und besonnen mithelfen, durch die schweren Zeiten zu kommen, hat er befohlen. Wir stricken Strümpfe und Handschuhe für die Soldaten.«

Sie reckte den Hals und spähte über Idas Schulter in Richtung des Gärtnerhäuschens.

»Bei euch wäre eigentlich auch genug Platz für unsere Treffen. Das bereden wir noch. Wir sehen uns morgen. Heil Hitler.«

Der Kies knirschte unter dem energischen Schritt ihrer Halbschuhe. Ida stöhnte. Auch das noch! Sie wollte gerade ins Haus gehen, als Marianne sich umwandte und zurückkam.

»Du malst, nicht wahr? Du kannst mich porträtieren. Wäre ein feines Geschenk für meine Mutter zu ihrem Ehrentag. Sie wird die dritte Stufe des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter verliehen bekommen«, sagte sie. »Besprechen wir alles morgen.«

Sie platzt gleich vor Stolz, als hätte sie selbst die vier Kinder bekommen, dachte Ida und nickte mechanisch. Stocksteif stand sie da und sah Marianne nach, bis die Dämmerung ihre Umrisse verschluckte. Aus dem Wald stieg Nebel auf und Ida hatte das Gefühl, er lege sich bleischwer auf ihre Seele.

Nach dem Abendessen hielt die Mutter sie zurück.

»Am Samstag feiern wir eure Verlobung, nur wir, keine Gäste.«

Ida hatte sich schon gewundert, warum die Mutter ihr wegen des Nachmittags keine Vorhaltungen gemacht hatte, nun verstand sie.

»Ich habe dir von der Schneiderin ein neues Kleid nähen lassen. Morgen früh kommt Frau Weller zur Anprobe.«

Ida versuchte ein Lächeln, aber ihre Mundwinkel zuckten. Die Mutter kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Alfred ist ein anständiger Mann. Du wirst sehen, es wird alles gut.«

In der Nacht wachte Ida von lautem Motorengeräusch auf, kurz danach ertönte ein furchtbarer Knall. Die Fensterscheiben zitterten. Ida rannte hinaus auf den Flur. In der Diele standen die Eltern in Morgenmänteln. Mutter versuchte, den brüllenden Paul zu beruhigen. Hanna kam aus ihrem Zimmer gerannt.

»Was war das?«

»Ich fürchte, ein Bombenangriff. Zieht euch etwas an und geht in den Keller«, befahl der Vater. Im gleichen Augenblick betrat Alfred das Haus. Ida lief zurück in ihr Zimmer und streifte Hose und Pullover über, eilte hinunter, um ihrer Mutter das Kind abzunehmen. Hanna sammelte währenddessen einige Decken zusammen. Im Keller saßen sie auf Kisten. Paul schlief in ihrem Arm ein, sie lehnte sich an ein Regal und schloss die Augen. Die anderen unterhielten sich leise, Ida hatte keine Lust, zu sprechen. Die Situation war absolut irreal. Sollten sie nun jede Nacht im Keller verbringen? Nach einer Weile befanden Vater und Alfred, dass sie in ihre Betten zurückkehren konnten. Ida taumelte die Treppen hinauf, fiel in ihr Bett und schlief sofort ein.

Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg

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