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Nachtschwarz Juni 1939

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Das Rattern der Eisenbahn schläferte Ida ein. Jedes Mal, wenn ihr Kopf heruntersackte, schreckte sie hoch, fragte sich, was in aller Welt mit ihrer Schwester geschehen sein konnte. Alice. Ida sah ihre Gestalt vor sich, hochgewachsen und schlank, dunkelblonde Haare, im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen. Alice, mit dem liebevoll spöttischen Zug um die Mundwinkel. Es war nur wenige Wochen her, seit Ida Herrlingen verlassen hatte. Die Schwester war von der anstrengenden Geburt geschwächt gewesen, aber auf ihren Wangen hatte rosiger Schimmer und in den veilchenblauen Augen ein besonderer Glanz gelegen, als sie Ida das Baby entgegengehalten hatte.

»Paul heißt er, nach Vater. Schau, ist der Kleine nicht süß?«

Ida hatte befremdet auf das winzige, sabbernde Wesen geschaut.

»Mhm.«

Trotz des geöffneten Fensters roch es im Raum nach Schmerz, neuem Leben und etwas Anderem, Fremdem. Der Geruch nahm Ida den Atem, verursachte Übelkeit.

»Ida, was machst du für ein Gesicht, du wirst seine Patentante sein, komm schon, nimm ihn!«

Ida hatte schnell den Kopf geschüttelt und das Zimmer verlassen. Erneut fuhr sie hoch, meinte Alices Stimme zu hören, die ein Gedicht rezitierte. »Heute Abend erweckt mein Herz seiner gedenkender Engel Gesang …« Es musste ein Irrtum sein, dass es Alice so schlecht ging, bestimmt hatte Frau von Hohenegger etwas falsch verstanden. Nach dieser Feststellung kuschelte Ida sich in die Ecke, ließ Blick und Gedanken von der vorbeifliegenden Landschaft mitziehen und träumte von ihrem zukünftigen Studium an der Kunstakademie. In Ulm stieg sie um in den Bummelzug nach Herrlingen. Sie kletterte aus dem Zug, fand kein bekanntes Gesicht auf dem kaum belebten Bahnsteig. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Zornig packte sie den Henkel ihrer Tasche. Ihre Schritte, die sie in Richtung des Elternhauses trugen, waren langsam und schwer, es war, als würde sie versuchen, durch Grütze zu waten. Das Gutshaus lag still in den Obstgärten, Fliederduft machte die Luft träge und süß. Alices Hühner staksten geschäftig unter den Apfelbäumen herum, gackerten leise, pickten nach Leckerbissen. Ida öffnete die Tür.

»Mutter? Vater?«

Sie zögerte, ging durch die Diele, auf die Treppe zu, nahm Stufe für Stufe, langsamer als je zuvor, schlich den Flur entlang, beinahe widerstrebend setzte sie einen Fuß vor den anderen, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geschoben. Vor Alices Zimmer hielt sie inne, griff sachte nach der Türklinke, drückte sie herunter und schob die Tür auf. Das Bild, das sich ihr bot, würde sie niemals in ihrem Leben vergessen, es brannte sich unwiderruflich in ihr Bewusstsein. Der Vater saß auf einem Stuhl am Kopfende des Bettes, gebeugt, niedergedrückt von einer unsichtbaren Last. Er hielt die Hand seiner Tochter in den Händen geborgen, als würde er einen Vogel, der gegen die Scheibe geflogen war, behüten, bis er wieder bei Bewusstsein war und weiterfliegen konnte. Die Mutter stand auf der anderen Seite des Bettes, den Säugling im Arm, schuckelte das Kind mechanisch, ihr Blick schien auf etwas nicht Sichtbares gerichtet. Alfred saß auf dem Bett, dicht bei Alice, hielt die andere Hand der Schwester. Ida stand in der Tür, alle drei Gesichter wandten sich langsam zu ihr, niemand sprach, niemand hieß sie willkommen. Für einige schreckliche, endlos erscheinende Sekunden nahm ihr die Stille die Luft zum Atmen, sie sahen sie mit diesem entsetzlich leeren Blick an, der alles und nichts sagte, sahen sie an, als hätte sie unvermittelt aus einer anderen Welt dieses Zimmer betreten. Ida wagte kaum, sich zu bewegen, zu atmen, zu sprechen. Ihre Stimme, die sie nach scheinbar endlos langer Zeit mit Mühe von irgendwo her holte, klang hoch und piepsig.

»Alice? Was ist mit dir?«

Langsam und vorsichtig ließ sie sich auf das Bett nieder. Das Gesicht ihrer Schwester war gelblich und eingefallen, unter ihren Augen lagen blauschwarze Ringe. Ida hielt entsetzt den Atem an. Ihre Schwester, ihre immer nach Früchten, Erde, Verbene und Lavendel duftende Schwester strömte einen unangenehmen Geruch aus. Sie roch nach Fäulnis und Tod. Ida konnte kaum das Würgen zurückhalten, das unaufhaltsam in ihre Kehle kroch.

»Ida. Du bist da. Gut.«

Diese brüchige Stimme einer alten Frau konnte unmöglich von Alice stammen.

»Ja, Alice, ich bin da. Jetzt wird alles gut, du wirst sehen, ich …«

Alices Blick brachte sie zum Schweigen, die Schwester schüttelte unmerklich den Kopf.

»Paul.«

Ihr Atem ging schwer. »Du musst dich um Paul kümmern. Und um Alfred. Du bleibst bei ihnen. Versprich es!«

Ihr Schwager machte eine hilflose Gebärde, ließ die Hand wieder sinken.

Alices Stimme wurde drängender, fast drohend. Ihre Finger krampften sich überraschend kraftvoll um Idas Handgelenk.

»Versprich es!«

»Natürlich kümmere ich mich um Paul, solange du krank bist. Ich bin schließlich seine Patentante!«

Ida versuchte ein kleines Lachen und schaute gleichzeitig mit angstgeweiteten Augen zu ihrer Mutter hoch, die ihrem Blick auswich. Alice ließ einen kleinen Laut hören, ihre Brust hob sich, suchte nach Atem, sank herab wie ein fallendes Blütenblatt, ein winziges Lächeln schmolz in den rissigen Mundwinkeln. Dann wurde sie still und die Zeit hielt an. Ida lauschte. Woher kam dieser eigenartig hohe Ton? Entsetzt starrte sie auf die bebenden Schultern ihres Vaters, das kreideweiße Gesicht Alfreds und auf ihre Mutter, die monoton summte und das Kind schuckelte. Sie schmeckte Galle in ihrem Mund, sprang auf, stürzte hinaus.

Später wusste Ida nicht mehr, wie sie die Tage bis zur Beerdigung verbracht hatte. Sie fühlte nichts. Sie hatte weder Hunger noch Durst, ihre Bewegungen und die der Welt um sie herum waren langsam und dumpf, wie unter Wasser. Sie hatte keine einzige Träne vergießen können. Alle Gefühle waren tief in ihr drinnen zu einem steinharten Klumpen gefroren, an der Stelle, wo sich normalerweise das Herz befinden müsste. Das Schlimmste war die Stille im Haus. Außer dem dünnen Weinen des Kindes und dem ununterbrochenen Summen der Mutter war nichts zu hören. Selbst die große Standuhr in der Diele hatte jemand angehalten, ihr Ticken verstummen zu lassen, weil der Atem ihrer Schwester verstummt war. Einmal hatte Ida sich ans Klavier gesetzt und leise zu spielen begonnen, ein Impromptu von Schumann, welches Alice besonders geliebt hatte.

»Ida! Nicht!«

Ihr Vater war hinter sie getreten, hatte ihre Finger von den Tasten genommen und mit einer endgültigen Bewegung den Klavierdeckel geschlossen. Leise, ohne ihn anzusehen war sie an ihm vorbeigeglitten, nach draußen gegangen, zu den Korbstühlen unter den Linden, einst ihr Lieblingsplatz, an dem sie viele sonnige Nachmittage und laue Abende mit der Schwester verbracht, von ihrer Zukunft als Malerin geträumt und Alices gutmütige Neckereien abgewehrt hatte.

»Du wirst sehen, wenn ich im Sommer Unterricht bei Professor Steinhoff nehme, wird er mich fördern! Ich werde es schaffen, ihn mit meinen Bildern zu überzeugen! Nach meinem Abitur bewerbe ich mich an der Kunstakademie in Stuttgart oder in München!«

»Ida Försters Kunst wird in den berühmtesten Museen hängen! Sammler werden sich um deine Werke reißen! Die Welt wird dir zu Füßen liegen! Ob du noch mit mir sprechen wirst, wenn du berühmt bist?«, hatte Alice gescherzt, wenn Idas Höhenflüge zu fantastisch wurden, und ihr einen liebevollen Nasenstüber versetzt.

Heiseres Schluchzen drang aus Idas Kehle. Die Katze Minou sprang mit einem geschmeidigen Satz auf ihren Schoß und begann zu schnurren. Ida kraulte abwesend das weiche weiße Fell. Sie legte die Stirn an den warmen Tierkörper.

»Minou, Minou, was soll ich nur machen?«

Die offensichtliche Hilflosigkeit und unbändige Verzweiflung ihrer Eltern ängstigte sie. Der starre Blick der Mutter, die seit Alices Tod kaum ein Wort gesprochen hatte. Nur mit dem Säugling redete sie, mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. Ida konnte die Nähe des Säuglings nicht ertragen, fühlte nichts als Wut und Schmerz, wenn sie das Kind ansah, das ihre Schwester umgebracht hatte. Der Vater schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein. Wenn Ida das Ohr an die Tür legte, konnte sie hören, wie er unablässig hin und her ging, mit seinem leichten Hinken. Tante Marthe, die sich im Gasthof Rössle einquartiert hatte, schleppte Lebensmittel an und kochte jeden Tag einen Topf Suppe, die niemand aß.

»Ach Gott, Kindchen, was für eine Tragödie, eine Tragödie ist das!«

Alfred regelte mit wachsbleichem Gesicht und verbissenem Kiefer die Dinge, die notwendig waren, um seine junge, schöne Frau beerdigen zu lassen. Auf Ida wirkte er, als hätte er über Nacht das Alter ihres Vaters erreicht, dabei war er gerade zweiunddreißig Jahre alt. Der Pfarrer kam, redete leise auf die Eltern ein, bis ihr Vater aufstand und wortlos das Zimmer verließ. Ida starrte den Pfarrer mit zusammengekniffenen Augen an. Er war mit Schuld an Alices Tod, hatte sie beschlossen, schließlich war er Gottes Vertreter auf Erden. Wieso ließ Gott ihre Schwester mit vierundzwanzig Jahren sterben? Gott war nicht barmherzig, er war es nicht wert, sich mit ihm abzugeben. Ida ballte die Fäuste und schwor sich, nach Alices Beerdigung nie wieder in die Kirche zu gehen. Sie ging in ihr Zimmer, nestelte mit zitternden Fingern ihr Taufkreuz aus dem Samtkästchen und schleuderte es aus dem Fenster.

Die Beerdigung fand an einem verregneten Junimorgen statt. Ida rutschte unruhig auf der Kirchenbank herum, entdeckte einen Farbklecks auf ihrer Hand, versuchte ihn abzukratzen, bevor Mutter ihn sah und ihr einen dieser wunden Blicke zuwarf, als hätte sie keine Worte mehr, sie zu tadeln, als wäre ihre Sprache mit Alices letztem Atemzug verklungen. In solchen Momenten fragte sich Ida, ob es ihrer Mutter lieber wäre, wenn ihre jüngere Tochter an Alices Stelle gestorben wäre. Ida, die Ungestüme, die lieber in Traumwelten entwischte, anstatt sich mit den wichtigen Dingen des Lebens zu befassen, die mehr für einen kunstvoll arrangierten Blumenstrauß auf dem Klavier übrig hatte, als für die Staubmäuse darunter, sie, die Unberechenbare, die in einem Augenblick schallend lachen konnte und im nächsten Moment in tränenreicher Melancholie versank, wenn sie ein berührendes Musikstück oder Gedicht hörte. Wie Alices letztes Gedicht, eine unheimliche Vorahnung?

»Rose – Freude unter dem Himmel

Musik für die Augen

Balsam für alles Weh …«

Ida war im Morgengrauen aufgestanden, hatte wie im Fieber begonnen zu malen, als könnte sie die Schwester wieder lebendig machen, indem sie ihr lächelndes Gesicht auf die Leinwand bannte. Alice würde nie wieder lächeln, sie lag bleich und teilnahmslos dort vorn in dem glänzend schwarzen Sarg, der kaum zu sehen war unter den Bergen von weißen Päonien, Rosen, Flieder und Efeuranken. Der Pfarrer sprach den Segen und alle erhoben sich. Alfred ging hinter dem Sarg, gefolgt von den Eltern, ihre Mutter klammerte sich an den Kinderwagen, in dem der Säugling schlief und nichts von den salbungsvollen Worten gehört hatte, die der Pfarrer über den schmerzlichen Verlust blühenden Lebens sprach. Ida schleppte sich hinter den Eltern her. Ihr war übel, sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick könnten ihre Knie einknicken und sie würde auf den Kiesweg fallen, der Schritt für Schritt zu Alices Grab führte. Nachgeben, fallen und nicht mehr aufstehen, nicht mehr denken, nicht mehr fühlen müssen. Die Leute, die hinter ihr gingen, Freundinnen und Freunde von Alice, Verwandte, von denen Ida die meisten kaum kannte, Nachbarn und Freunde ihrer Eltern würden weiter gehen und Ida würde sich einfach auflösen, zu Staub werden. Als der Sarg in die Grube gelassen wurde, schrie Ida auf. Die Mutter langte ohne den Kopf zu wenden nach ihrem Arm, drückte ihn. Trost oder Tadel? Ida machte sich los, trat vor das Grab, vergaß, dass alle Augen auf ihr ruhten, stand da und starrte in die Erdgrube, schloss langsam die Faust um die Rose, die sie heute früh im Garten von Alices Lieblingsstrauch geschnitten hatte. Ein Dorn bohrte sich in die Innenfläche ihrer Hand. Sie atmete scharf den Geruch nach Tod und Endgültigkeit ein, den die kalte, feuchte Erde verströmte, spürte Zorn auf die Schwester, die sie alleine zurückließ, fühlte mehr Schmerz, als ein Mensch je aushalten konnte. Matt ließ sie die gelbe Blüte mit den zartorangenen Rändern in die Tiefe fallen, wandte sich ab und ging mit hölzernen Schritten davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Der Leichenschmaus im Gasthof zum Kreuz zog an ihr vorüber; Ida war, als säße sie unter einer gläsernen Glocke. Sie sah Münder, die sich bewegten, stumme Worte von sich gaben oder Braten und Kuchen verschluckten. Sie sah ihren Vater, der hinter einer dunklen Brille und seinem Weinglas saß. Sie sah das versteinerte Gesicht ihrer Mutter, das Kind im Arm. Ihr Blick fiel auf Alfred, der gefasst Beileidsbezeugungen und Zuspruch entgegennahm.

Ein heftiger Schreck durchzuckte sie, drohte, sie auseinanderzureißen. Das Versprechen! Sie hatte Alice versprechen müssen, sich um das Kind und Alfred zu kümmern. Wie sollte sie das machen? Was genau erwartete Alice von ihr? Der letzte Blick ihrer Schwester formte sich in ihrer Erinnerung. Alices Augen sahen sie an, drängend, fordernd und zugleich unendlich hilflos.

»Kümmere dich um Paul und Alfred!«

Es war eine Anordnung gewesen, die die Antwort »Nein« nicht zuließ. Was hatte Alice sich dabei gedacht? Ein Hirngespinst, eine Fieberphantasie musste das gewesen sein. Ida schüttelte den Kopf, als könnte sie damit den Klang der zersprungenen Stimme der Schwester aus ihren Ohren vertreiben. Angst würgte sie und sie wusste, sie musste fort. Hastig stand sie auf. Ohne sich zu verabschieden stahl sie sich aus dem Gastraum und lief nach Hause. Gedankenlos warf sie einige Habseligkeiten in einen Rucksack, kritzelte ein paar Worte für ihre Eltern auf ein Blatt Papier. Sie entledigte sich des schwarzen Kostüms, schlüpfte in den Overall, stülpte die eng anliegende Kappe über ihr Haar und holte die Herkules aus dem Schuppen. Entschlossen trat sie den Kickstarter durch und raste in einer Kiesfontäne davon.

Nachtschwarz bis Blütenweiß. Rosen, Rilke und der Krieg

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