Читать книгу Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa - Страница 10

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Der Herbst ging schnell vorüber. Die Wellen brandeten kalt und unnachgiebig gegen die Küste, und von den Bergen her wehte ein schneidender Wind, der Winterwolken vor sich hertrieb.

Der alte Mann stattete mir einen Besuch ab, um mir bei den Wintervorbereitungen behilflich zu sein. Wir brachten die Heizung in Gang, dämmten Wasserrohre ab und rechten das Laub im Garten zusammen.

»Diesen Winter soll es nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder schneien«, sagte der Alte, während er im Lagerraum, der auf den Hinterhof hinausging, an der Decke Zwiebeln aufhängte.

»Es schneit nämlich immer dann, wenn die Schalen der im Sommer geernteten Zwiebeln diesen schönen Bernsteinton haben und zart wie Schmetterlingsflügel sind.«

Er zog eine Schicht der Zwiebelhaut ab und zerrieb sie zwischen den Fingern, was angenehm knisterte.

»Es wäre erst das dritte Mal in meinem Leben. Das würde mich sehr freuen. Wie viele weiße Winter haben Sie schon erlebt?«

»Ich habe nie gezählt. Als ich mit der Fähre auf dem Nordmeer gefahren bin, hatte ich von dem endlosen Schneegestöber schnell die Nase voll. Aber das war lange, lange vor Ihrer Geburt«, erwiderte der Alte und machte sich wieder daran, die Zwiebelbunde aufzuhängen.

Als wir mit den Vorbereitungen fertig waren, machten wir im Ofen Feuer und aßen in der Küche Waffeln. Der frisch gereinigte Ofen zog nicht sogleich und bullerte laut vor sich hin. Draußen am Himmel hinterließ ein Flugzeug einen Kondensstreifen. Im Garten schlängelte sich aus der Asche des verbrannten Laubhaufens eine zarte Rauchsäule empor.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Wenn der Winter naht, macht es mir immer ein wenig Angst, auf mich allein gestellt zu sein. Übrigens, ich habe Ihnen einen Pullover gestrickt. Probieren Sie doch mal, ob er passt.«

Nachdem ich meine Waffel verspeist hatte, holte ich den grauen Wollpullover, der ein aufwendiges Strickmuster hatte, hervor und überreichte ihn dem alten Mann. Geräuschvoll schluckte er seinen Tee hinunter und nahm das Geschenk andächtig entgegen.

»Ich freue mich, wenn ich helfen kann. Aber das ist nicht der Rede wert. So ein wertvolles Geschenk kann ich nicht annehmen …«

Er legte seine schäbige Weste ab und verstaute sie, zusammengeknüllt wie ein gebrauchtes Handtuch, in seiner Tasche, bevor er vorsichtig in die Ärmel des Pullovers schlüpfte, als wäre er ein zartes Gespinst, das gleich auseinanderreißen würde.

»Oh, er ist schön warm! Und so leicht, als könnte man damit durch die Luft schweben.«

Die Ärmel waren ein wenig zu lang geraten und der Halsausschnitt war zu eng, aber der alte Mann scherte sich nicht darum. Er aß eine zweite Waffel und war so angetan von dem neuen Pullover, dass er es gar nicht merkte, als ein bisschen von der Cremefüllung an seinem Kinn hängen blieb.

Nachdem er seine Utensilien – Zange, Schraubenzieher, Sandpapier, Ölkännchen – im Werkzeugkasten auf dem Gepäckträger seines Fahrrads verstaut hatte, radelte er zur Fähre zurück.

Am nächsten Tag kam der erwartete Wintereinbruch. Ohne Mantel konnte man nicht mehr nach draußen gehen. In dem kleinen Fluss hinter dem Haus trieben Eisstücke, und auf dem Markt gab es viel weniger Auswahl an Gemüse.

Ich blieb zu Hause und arbeitete an meinem vierten Roman. Die Hauptfigur war diesmal eine Stenotypistin, die ihre Stimme verloren hatte. Zusammen mit ihrem Geliebten, einem Dozenten an einer Schreibmaschinenschule, setzt sie alles daran, sie wiederzuerlangen. Sie holt sich Rat bei einem Logopäden. Der Geliebte massiert ihr die Kehle, wärmt ihre Zunge mit seinen Lippen und spielt ihr Lieder vor, die sie beide vor langer Zeit aufgenommen haben. Aber ihre Stimme kehrt nicht zurück. Sie teilt ihre Gefühle mit ihm, indem sie Texte auf der Schreibmaschine tippt. Das mechanische Klacken der Tasten schwingt zwischen den beiden, als wäre es Musik …

Ich wusste noch nicht, wie die Geschichte weitergehen sollte. Bisher verlief alles unkompliziert und friedlich, aber die Geschichte konnte genauso gut eine bedrohliche Wendung nehmen.

Nach Mitternacht, als ich immer noch an meinem Roman arbeitete, hörte ich ein Geräusch. Es war, als klopfte jemand gegen eine Glasscheibe. Ich hielt inne und horchte genau hin, aber draußen rauschte nur der Wind. Nachdem ich eine weitere Zeile geschrieben hatte, klopfte es abermals. Klack, klack, klack … Es war ein regelmäßiges, aber zögerliches Klopfen.

Ich zog den Vorhang auf und schaute nach draußen. Die umliegenden Häuser waren allesamt dunkel, die Straße menschenleer. Ich schloss die Augen und horchte aufmerksam hin, um herauszufinden, woher das Klopfen kam, bis mir klar wurde, dass es aus dem Keller nach oben drang.

Nach dem Tod meiner Mutter war ich nur selten in ihrem Atelier gewesen. Die Tür war stets verschlossen. Weil ich den Schlüssel fast nie brauchte, dauerte es eine Weile, bis ich ihn fand. Es schepperte mächtig, als ich in einer Schublade nach der Metalldose mit dem Schlüsselbund kramte. Ich wusste, es wäre besser gewesen, ruhig und behutsam vorzugehen, aber das gleichmäßige Klopfen war so beharrlich, dass es mich zur Eile trieb.

Schließlich öffnete ich die Kellertür und stieg die Treppe hinab. Als ich die Taschenlampe anknipste, sah ich durch die Glastür, die zum Waschplatz am Flussufer führte, menschliche Gestalten.

Der Waschplatz diente seit dem Tod meiner Großmutter nicht mehr zum Wäschewaschen, hatte seinen Namen jedoch beibehalten. Meine Mutter hatte dort manchmal ihre Werkzeuge gereinigt, aber das war nun auch schon fünfzehn Jahre her. Die in die Uferböschung eingelassene und mit Ziegelsteinen befestigte Stelle war etwa zwei Meter breit. Man gelangte durch die Glastür im Keller dorthin. Über den lediglich drei Meter breiten Wasserlauf führte ein Holzsteg, den mein Großvater einst errichtet hatte, der nun aber völlig morsch war.

Was hatten diese Leute dort zu suchen?

Ich überlegte, was ich tun sollte.

Waren es Einbrecher? Nein, Einbrecher würden nicht anklopfen. Irgendwelche Sittenstrolche? Nein, dann wären sie nicht so zurückhaltend.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief: »Wer ist da?«

»Entschuldigen Sie vielmals die späte Störung. Wir sind’s, die Inuis.«

Als ich die Tür öffnete, stand dort die Familie von Professor Inui. Die Eheleute waren alte Freunde meiner Eltern gewesen. Er arbeitete als Professor für Dermatologie im Universitätskrankenhaus.

»Was ist passiert?«, fragte ich erschrocken und bat sie sogleich ins Haus.

Das Rauschen des Flusses machte die hereinströmende Kälte noch durchdringender.

»Verzeihen Sie bitte. Mir ist vollauf bewusst, dass wir ungelegen kommen …«

Der Professor entschuldigte sich mehrmals, während sie eintraten. Seine Frau war ungeschminkt, ihre Wangen wirkten durchsichtig und die Augen feucht, entweder von der Kälte oder ihren Tränen. Die fünfzehnjährige Tochter stand mit verkniffenem Mund da, während ihr achtjähriger Bruder sich neugierig umschaute. Die vier klammerten sich förmlich aneinander. Das Ehepaar hatte sich untergehakt, wobei der Professor einen Arm um die Schultern seiner Tochter gelegt hatte. Die Geschwister hielten sich an der Hand, und der Kleine hing am Mantelsaum seiner Mutter.

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Wie haben Sie es nur geschafft, heil über den Steg zu kommen? Hatten Sie keine Angst? Das Holz ist vollkommen morsch. Wieso haben Sie denn nicht an der Haustür geklingelt? Kommen Sie mit nach oben ins Wohnzimmer, dort ist es schön warm.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich fürchte, uns bleibt keine Zeit. Wir dürfen kein Aufsehen erregen.«

Der Professor stieß einen Seufzer aus. Wie auf Kommando rückte die Familie noch enger zusammen. Alle vier trugen edle Kaschmirmäntel, Hals und Hände waren in warme Stricksachen gehüllt. Außerdem hatte jeder eine Tasche dabei, die seiner Körpergröße entsprach. Das Gepäck schien sehr schwer zu sein.

Ich räumte rasch den Arbeitstisch meiner Mutter frei und holte ein paar Stühle, damit sie sich setzen konnten. Sie stellten die Taschen unter den Tisch. Ich konnte kaum erwarten, zu erfahren, was vorgefallen war.

»Nun hat es auch uns getroffen«, begann der Professor. Er verschränkte die Finger und formte mit seinen Händen einen Hohlraum, als wollte er darin seine Stimme verbergen.

»Was ist passiert?«, bedrängte ich ihn, als er stockte. Ich wartete gespannt auf eine Antwort.

»Eine Vorladung von der Behörde.«

Der Professor sprach ruhig und sachlich.

»Aber … wieso?«

»Sie haben uns ins Institut für Genentschlüsselung bestellt. Morgen … nein, es ist ja schon heute. Ich soll mich dort einfinden. Sie haben mich von meinen Funktionen entbunden. Wir mussten sofort meine Dienstwohnung verlassen. Der Befehl lautet, dass ich mit meiner ganzen Familie in das Forschungszentrum ziehen soll.«

»Und wo befindet sich das?«

»Ich habe keine Ahnung. Niemand weiß, wo genau es liegt und wie es aussieht. Aber ich ahne, was dort vor sich geht. Offiziell gibt das Institut vor, als medizinische Forschungseinrichtung zu dienen, aber tatsächlich steckt es mit der Erinnerungspolizei unter einer Decke … Ich vermute, dass sie meine Forschungsergebnisse nutzen wollen, um Personen aufzuspüren, die ihre Erinnerungen bewahren können.«

Mir fiel ein, was R mir neulich in der Lobby des Verlags erzählt hatte. Es war also doch kein Gerücht gewesen. Und nun waren Menschen betroffen, die mir nahestanden.

»Die Anweisung kam vor drei Tagen. Uns blieb keine Zeit, die Angelegenheit in Ruhe zu überdenken. Ich soll das Dreifache verdienen. Es gibt auch Bildungseinrichtungen für die Kinder. Steuererleichterungen, kostenfreie Krankenversicherung, Dienstwohnung, Dienstwagen. Die Bedingungen sind so vorteilhaft, dass es einem fast schon Angst macht.«

»Es war der gleiche Umschlag wie vor fünfzehn Jahren.«

Zum ersten Mal ergriff seine Frau das Wort. Ihre Stimme war tränenerstickt. Die Tochter hörte schweigend zu, während sie den Kopf zwischen dem jeweils Sprechenden hin- und herdrehte. Ihr kleiner Bruder hatte seine Handschuhe anbehalten und nahm die Werkzeuge auf dem Tisch in Augenschein.

Ich erinnerte mich an jenen Tag vor fünfzehn Jahren, als meine Mutter verhaftet wurde. Damals hatten Herr und Frau Inui sich um mich gekümmert. Ich selbst war noch ein kleines Mädchen, und ihre Tochter war gerade auf die Welt gekommen.

Die Vorladung steckte in einem lilafarbenen Umschlag aus rauem Papier. Damals wusste niemand etwas von der Erinnerungspolizei, und weder meine Eltern noch die Inuis machten sich Sorgen. Sie waren nur verwundert darüber, dass man meine Mutter einbestellte, und niemand konnte sagen, wie lange die Untersuchung dauern sollte, ob es sich um Stunden oder Tage handeln würde.

Ich ahnte bereits, dass die Angelegenheit mit den Schubladen unten im Atelier zu tun hatte. Während die Erwachsenen über die Vorladung diskutierten, dachte ich an das Flüstern meiner Mutter, wenn sie mir von den geheimen Dingen erzählte, und an ihre leidvolle Miene, als ich sie fragte, wieso sie nicht wie alle anderen Menschen vergessen konnte.

Alle waren ratlos. Es gab aber keinen Grund, sich der Anordnung zu widersetzen.

»Keine Sorge, so schlimm wird es nicht werden«, sagte der Professor.

»Wir hüten derweil das Haus und passen auf das Kind auf«, bekräftigte Frau Inui.

Die Limousine, die meine Mutter am nächsten Morgen abholte, war erstaunlich luxuriös. Ein schwarzer Wagen, auf Hochglanz poliert, fast so groß wie ein Einfamilienhaus. Türgriffe, Radkappen und das Emblem der Behörde auf der Motorhaube funkelten im Licht der Morgensonne. Die Sitze waren aus weichem Leder. Am liebsten wäre ich eingestiegen und hätte mich dort hingesetzt.

Ein Chauffeur mit weißen Handschuhen öffnete meiner Mutter die Wagentür. Sie gab den Inuis und meiner Kinderfrau letzte Instruktionen, dann umarmte sie meinen Vater und nahm schließlich lächelnd mein Gesicht in beide Hände.

Angesichts des prunkvollen Autos und der feinen Manieren des Chauffeurs waren wir alle sehr erleichtert. Wenn man sie derart hofierte, brauchte man sich wohl keine Sorgen zu machen, dachten wir.

Meine Mutter sank in die weichen Lederpolster. Wir winkten ihr zum Abschied zu, als würde sie zur Preisverleihung bei einer Kunstausstellung fahren.

Es war das letzte Mal, dass wir sie lebend sahen. Ihr Leichnam wurde uns eine Woche später zugestellt, zusammen mit dem Totenschein.

Es hieß, sie sei an einem Herzinfarkt gestorben. Eine anschließende Autopsie wurde in Professor Inuis Klinik durchgeführt, aber es konnte nichts Auffälliges festgestellt werden.

Sie erlag einer bisher unbekannten Krankheit, während sie uns bei unseren Forschungen zu Diensten war. Wir möchten Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen.

Mein Vater las mir das Begleitschreiben der Behörde laut vor. Aber ich begriff den Sinn der Worte nicht. Es war, als handelte es sich um eine Zauberformel in einer fremden Sprache. Ich stand bloß da und starrte stumm auf die Tränen, die aus den Augen meines Vaters auf den lilafarbenen Umschlag tropften.

»Die Qualität des Papiers, die Schrift und das Wasserzeichen, alles ist genauso wie damals bei Ihrer Mutter«, sagte Frau Inui.

Sie hatte einen Wollschal doppelt um den Hals geschlungen und fest verknotet.

Ihre Wimpern flatterten bei jedem Wort.

»Können Sie sich nicht einfach weigern?«, fragte ich.

»Dann würden sie uns mit Gewalt holen«, erwiderte Professor Inui prompt. »Wenn man nicht kooperiert, wird man gejagt. Dann trifft es die gesamte Familie. Keiner weiß, was geschieht, wenn sie einen fassen. Gefängnis? Zwangsarbeit? Das Schafott? Aber an der Art und Weise, wie sie die Menschen verschleppen, kann man erkennen, dass man an keinen angenehmen Ort gebracht wird.«

»Soll das heißen, Sie begeben sich in dieses Forschungszentrum?«

»Nein!«

Die Eheleute schüttelten gleichzeitig den Kopf.

»Wir suchen uns einen Unterschlupf.«

»Einen Unterschlupf …?« Ich flüsterte das Wort, das ich nun schon zum zweiten Mal hörte, leise vor mich hin.

»Glücklicherweise haben wir Kontakt zu einer Organisation, die uns an einen sicheren Ort bringen wird.«

»Aber dadurch verlieren Sie doch alles. Ihre Arbeit, Ihr geregeltes Leben. Auch wenn Sie sich dagegen sträuben, wäre es nicht sicherer, der Vorladung zu folgen? Auch wegen der Kinder …«

»Von Sicherheit kann keine Rede sein, wenn man erst mal in diesem Forschungszentrum eingesperrt ist. Schließlich hat man es mit der Erinnerungspolizei zu tun. Denen darf man nicht trauen. Wenn ich nicht mehr von Nutzen bin, werden sie keine Skrupel haben, alles dafür zu tun, die Sache geheim zu halten.«

Um die Kinder nicht zu verängstigen, beließ er es bei diesen Andeutungen.

Die beiden waren sehr artig. Der Kleine untersuchte einen gewöhnlichen Steinsplitter mit dem gleichen Eifer, als würde es sich um eine Spieluhr mit einem versteckten Mechanismus handeln. Seine hellblauen Handschuhe waren offenbar handgestrickt. Sie waren mit einer Kordel verbunden, damit keiner verloren ging. Ich erinnerte mich daran, dass ich auch einmal solche Fäustlinge hatte. In dieser bedrückenden Situation strahlten nur die Handschuhe etwas Friedliches aus.

»Außerdem sind wir nicht gewillt, der Erinnerungspolizei auch noch zu helfen«, fügte Frau Inui hinzu.

»Aber wenn Sie untertauchen, was wird dann aus Ihnen werden? Ich meine Geld, Lebensmittel, Schule … alles, was zum täglichen Leben gehört? Und nicht nur das. Ihre gesamte Existenz steht auf dem Spiel. Was, wenn jemand krank wird?«

Es gab so viel, das ich nicht verstand. Gene, Entschlüsselung, Forschungsinstitut, Organisation, Unterschlupf – all diese Begriffe, die ich noch nicht richtig einordnen konnte, schwirrten mir durch den Kopf.

»Das wissen wir selbst noch nicht.«

Als Frau Inui ihren Satz beendet hatte, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Aber sie weinte nicht. Merkwürdig, dachte ich, sie war so traurig, dass sie nicht mal mehr weinen konnte. Die Trauer staute sich in ihren Augen.

»Es kam alles so plötzlich, uns blieb gar keine Zeit, irgendwelche Vorbereitungen zu treffen. Ich wusste gar nicht, wo mir der Kopf stand. Welche Dinge sollten wir mitnehmen, welche zurücklassen? Wir haben doch keine Ahnung, was uns erwartet. Es war schier unmöglich, eine Entscheidung zu treffen. Sollen wir unser Scheckbuch mitnehmen oder besser Bargeld abheben? Wie viel Kleidung können wir mitnehmen? Brauchen wir Verpflegung? Sollten wir unsere Katze Mizore zurücklassen?«

Leise Tränen liefen ihr nun die Wangen herunter. Ihre Tochter kramte ein Taschentuch hervor und reichte es ihr.

»Wir mussten auch entscheiden, was mit den Skulpturen geschehen soll, die wir von Ihrer Mutter geschenkt bekommen haben«, fügte der Professor hinzu.

»Nachdem wir untergetaucht sind, wird die Polizei vermutlich unser Haus durchsuchen, um Anhaltspunkte über unseren Verbleib zu finden. Sicher werden sie alles verwüsten. Deshalb wollten wir etwas retten, was uns sehr am Herzen liegt. Aber es wäre zu riskant, sie einfach jemandem anzuvertrauen. Unser Versteck könnte dadurch auffliegen. Wir müssen die Anzahl an Personen, die davon wissen, auf ein Minimum reduzieren, verstehen Sie?«

Ich nickte.

»Wir muten Ihnen vielleicht einiges zu, aber wären Sie bereit, einige Werke Ihrer Mutter aufzubewahren, bis wir uns eines Tages wiedersehen?«

Nach den Worten des Professors griff seine Tochter wie auf ein Signal hin in den Sportbeutel, der zu ihren Füßen stand, und holte fünf Skulpturen heraus, die sie nebeneinander auf den Tisch stellte.

»Das hier ist eine Tapir-Figur, ein Baku, den wir von ihr als Hochzeitsgeschenk bekommen haben. Und das hier hat sie uns zur Geburt unserer Tochter verehrt. Die anderen drei Skulpturen hat sie uns am Tag, bevor sie abgeholt wurde, anvertraut.«

Obwohl meine Mutter niemals einen Baku zu Gesicht bekommen hatte, liebte sie es, dieses Wesen nachzuformen. Die Skulptur, die sie anlässlich der Geburt angefertigt hatte, war eine Puppe, mit großen Augen und aus Eichenholz geschnitzt. Ich selbst besaß auch eine. Die drei anderen Objekte waren eher abstrakt, aus Holz und Metall gefertigt, und glichen Puzzleteilen. Das Ensemble war nur handtellergroß, die Oberfläche der Teile war ungeschliffen und nicht lackiert. Es sah aus, als bildeten die Teile zusammengesetzt eine Form, zugleich aber schienen sie völlig autark zu sein.

»Ich hatte keine Ahnung, dass meine Mutter Ihnen vor ihrer Abreise diese Sachen gebracht hat.«

»Wir hätten nie gedacht, dass dies hier ein Andenken an Ihre Mutter sein würde. Aber vielleicht hatte sie etwas geahnt. Zu dieser Zeit hatte sie sich in ihr Atelier zurückgezogen und wie eine Besessene gearbeitet. Wahrscheinlich spürte sie, dass sie dazu nie wieder Gelegenheit haben würde. Als sie uns die Skulpturen brachte, meinte sie, es sei sinnlos, sie im Atelier zurückzulassen.«

»Und nun wollen wir sie Ihnen übergeben«, erklärte Frau Inui, während sie ihr Taschentuch zusammenfaltete.

»Ja, natürlich können Sie die Sachen hierlassen. Es freut mich sehr, dass Sie die Werke meiner Mutter in Ehren gehalten haben. Haben Sie vielen Dank!«

»Gerne. So fallen die Skulpturen wenigstens nicht diesen Männern in die Hände.«

Der Professor lächelte erleichtert.

Mir war klar, dass sie noch vor Tagesanbruch aufbrechen mussten, aber ich wollte ihnen vorher noch nützlich sein. Mir fiel allerdings nicht ein, wie.

Zumindest konnte ich oben in der Küche für jeden eine Tasse warme Milch zubereiten, die ich ihnen ins Atelier brachte. Wir prosteten uns geräuschlos zu und tranken schweigend. Von Zeit zu Zeit hob jemand die Augen, als wollte er etwas sagen, aber die Worte blieben aus und wir nippten weiter an der Milch.

Die Glühlampe war mit Staub bedeckt, und das matt schimmernde Licht ließ die Szenerie im Atelier wie ein Aquarell erscheinen. Ein paar verwaiste Dinge schlummerten in den Ecken: eine unvollendete Skulptur, ein vergilbter Skizzenblock, ein völlig vertrockneter Wetzstein, eine kaputte Kamera, eine Schachtel mit Pastellkreiden. Bei der geringsten Bewegung knarrten die Stühle. Draußen war es stockdunkel, der Mond war nirgends zu sehen.

»Mmh, lecker«, sagte der Kleine und schaute in die Runde, offenbar verwundert darüber, dass keiner von uns ein Wort sprach. Er hatte einen Milchbart.

»Ja, das schmeckt gut.«

Wir alle nickten ihm zu.

Ich hatte keine Ahnung, was ihnen bevorstand, aber zumindest konnten sie sich jetzt in diesem Augenblick an der warmen Milch erfreuen.

»Wo ist denn Ihr Unterschlupf?«

Die Frage brannte mir auf der Seele.

»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Ich könnte Ihnen Sachen zukommen lassen, die Sie brauchen, und Nachrichten übermitteln.«

Die Eheleute schauten sich kurz an und senkten dann gleichzeitig den Blick. Nach einer Pause betretenen Schweigens sagte der Professor: »Es ist sehr freundlich, dass Sie sich um uns sorgen. Ich denke jedoch, es ist besser, wenn Sie nichts über unser Versteck wissen. Das soll nicht heißen, dass wir befürchten, Sie könnten unser Geheimnis verraten. Sonst wären wir kaum gekommen, um Ihnen die Skulpturen zu bringen. Aber wir möchten Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Je mehr Sie involviert sind, desto gefährlicher wird es für Sie. Angenommen, die Polizei würde Sie verhören. Dann können sie nur so viel aus Ihnen herausbekommen, wie Sie tatsächlich wissen. Aber wenn die Männer den Verdacht hegen, dass Sie mehr wissen, als Sie zugeben, dann werden sie keine Rücksicht nehmen. Fragen Sie also bitte nicht weiter nach unserem Verbleib.«

»Das verstehe ich. Auch ohne Ihren Aufenthaltsort zu kennen, werde ich für Ihr Wohlergehen beten. Gibt es noch etwas, was ich für Sie tun kann?«

»Ja, können Sie mir vielleicht eine Nagelschere bringen? Seine Fingernägel sind so lang geworden«, sagte Frau Inui leicht verlegen und griff nach der Hand ihres Sohnes.

»Aber natürlich.« Ich suchte in einer der Schubladen nach der Schere. Dann zog ich ihm die himmelblauen Handschuhe aus. »Halt still, es ist gleich vorbei.«

Seine Finger waren zierlich und makellos. Ich kniete mich vor ihm hin und nahm vorsichtig seine Hand. Der Junge schenkte mir ein schüchternes Lächeln und baumelte mit den Beinen.

Mit dem kleinen Finger der linken Hand beginnend, schnitt ich ihm behutsam die Nägel. Es ging ganz leicht, die durchsichtigen Halbmonde fielen wie Blütenblätter zu Boden. Wir alle lauschten still dem leisen Knipsen. Es waren zarte Töne, die in tiefster Nacht diesen Augenblick besiegelten.

Die hellblauen Fäustlinge warteten geduldig auf dem Tisch, bis die Prozedur beendet war.

Dann verschwand die Familie Inui.

Insel der verlorenen Erinnerung

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