Читать книгу Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa - Страница 9

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Als ich am Mittwochnachmittag mein Manuskript in den Verlag brachte, begegnete ich unterwegs einem Spähtrupp. Es war das dritte Mal in diesem Monat.

Sie wurden zusehends rücksichtsloser und gewalttätiger. Seit fünfzehn Jahren schon trieben sie ihr Unwesen, denn so lange war es her, dass meine Mutter verschleppt wurde.

Damals gab es außer ihr noch andere unbeugsame Menschen, die ihre Erinnerungen an Verlorenes nicht aufgeben wollten. Einer nach dem anderen wurde von der Erinnerungspolizei aufgespürt und weggeschafft. Niemand wusste, wohin man sie brachte.

Ich war gerade aus dem Bus gestiegen und wartete auf das Signal zum Überqueren der Straße, als drei grüne Armeelastwagen sich der Kreuzung näherten. Die anderen Fahrzeuge verlangsamten ihr Tempo und fuhren an die Seite, um sie vorbeizulassen. Die Lastwagen hielten vor einem Gebäude, in dem sich eine Zahnarztpraxis befand, eine Versicherungsgesellschaft sowie ein Tanzstudio. Etwa zehn bewaffnete Männer sprangen heraus und stürmten ins Haus. Den Leuten auf der Straße stockte der Atem. Einige versteckten sich ängstlich in Seitenstraßen. Alle schienen inständig zu hoffen, dass das, was sich vor ihren Augen abspielte, möglichst bald vorbei sei, ohne dass sie selbst in die Sache hineingezogen wurden. Eine gespenstische Stille umgab die Lastwagen, die ganze Umgebung war wie erstarrt.

Ich selbst stand stocksteif hinter einem Laternenpfahl, den Umschlag mit dem Manuskript an die Brust gedrückt. Die Ampel sprang derweil von Grün auf Gelb, dann auf Rot und wieder auf Grün. Niemand überquerte den Fußgängerüberweg. Die Fahrgäste in der Straßenbahn blickten zu uns nach draußen. Der Umschlag an meiner Brust war mittlerweile ganz zerknittert.

Kurz darauf hörte man Schritte. Es waren energische, rhythmische Schritte von Armeestiefeln, begleitet von Schritten, die eher schleppend waren, zögerlich. Verschiedene Leute traten aus dem Gebäude, einer nach dem anderen. Zwei ältere Herren, eine etwa dreißigjährige Frau mit rotbraun gebleichtem Haar, ein mageres Mädchen von etwa zwölf Jahren. Obwohl die kalte Jahreszeit noch nicht angebrochen war, trugen sie mehrere Hemden und Blusen unter ihren Mänteln und hatten mehrere Tücher um den Hals geschlungen. Außerdem hatten sie prall gefüllte Reisetaschen und Koffer bei sich. Anscheinend wollten sie so viele nützliche Sachen wie möglich mitnehmen. Ihr Anblick – die hastig übergeworfenen Kleidungsstücke, die schlecht geschlossenen Taschen, aus denen der Inhalt herausquoll, die offenen Schnürsenkel –, alles deutete darauf hin, dass sie völlig unvorbereitet und auf die Schnelle hatten packen müssen. Mit der Waffe im Rücken wurden sie aus dem Haus getrieben. Dennoch wirkten die vier keineswegs verzweifelt. Ruhig schweifte ihr Blick in die Ferne. Darin lagen Erinnerungen verborgen, von denen wir nichts wussten.

Wie üblich erledigten die Uniformierten mit den blitzenden Abzeichen am Revers ihre Arbeit, ohne auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Vier Beamte schritten an uns vorbei. Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase. Vielleicht hatte man jemanden aus der Zahnarztpraxis festgenommen.

Die Verhafteten wurden einer nach dem anderen auf die mit Planen verhängte Ladefläche des Lastwagens gestoßen. Die Waffen waren die ganze Zeit auf sie gerichtet. Als Letzte war das Mädchen dran, das seine orangefarbene, mit einem Teddybär bestickte Tasche auf die Ladefläche warf, um dann selbst hochzusteigen, aber der Tritt war offensichtlich für die Kleine zu hoch und sie rutschte ab.

Mir entfuhr ein Schrei, und der Umschlag fiel zu Boden. Manuskriptblätter flatterten über den Bürgersteig. Die anderen Passanten drehten sich ruckartig um und warfen mir missbilligende Blicke zu. Sie alle fürchteten, es könnte Ärger geben, wenn man die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich zog.

Ein Junge, der in der Nähe stand, half mir beim Aufsammeln der Manuskriptblätter. Einige waren in Pfützen gelandet und durchnässt, ein paar zertrampelt, aber wir rafften sie hastig zusammen.

»Haben Sie alles?«, flüsterte der Junge mir ins Ohr.

Ich nickte und blickte ihn dankbar an.

Der durch mich verursachte Zwischenfall hatte keinerlei Auswirkungen auf das Vorgehen der Polizei. Keiner der Männer blickte in meine Richtung.

Einer der Beamten, der schon auf die Ladefläche geklettert war, reichte dem Mädchen die Hand und half ihm hinauf. Seine spitzen Knie, die unter dem Rock hervorschauten, wirkten noch ganz kindlich.

Man ließ die Planen herunter, der Motor wurde gestartet.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Zeit wieder ihren normalen Gang nahm. Als die Motorengeräusche verklungen und die Lastwagen außer Sicht waren, fuhr die Straßenbahn wieder an. Erst da war ich mir sicher, dass der Einsatz vorbei und ich unbeschadet davongekommen war. Die Passanten zerstreuten sich und gingen wieder ihren Geschäften nach. Der Junge überquerte den Fußgängerüberweg.

Beim Anblick der nun verschlossenen Tür des Gebäudes fragte ich mich, wie sich der Griff des Polizisten für das Mädchen angefühlt haben musste.

»Unterwegs habe ich eine schreckliche Szene erlebt«, erzählte ich meinem Lektor R in der Lobby des Verlags.

»Etwa die Erinnerungspolizei …?«

R zündete sich eine Zigarette an.

»Ja. Es ist wieder schlimmer geworden.«

»Daran wird man nichts ändern können.«

Er stieß langsam den Rauch aus.

»Aber heute sind sie anders vorgegangen als sonst. Gegen Mittag haben sie auf einen Schlag vier Personen aus einem Gebäude in der Innenstadt geführt. Bislang habe ich nur erlebt, dass in einem abgelegenen Wohnviertel ein einzelnes Familienmitglied verhaftet wurde.«

»Vielleicht hatten die vier sich dort in einem geheimen Unterschlupf versteckt.«

»Einem Unterschlupf?«

Kaum hatte ich das unbekannte Wort ausgesprochen, biss ich mir auf die Lippen. Es hieß, man solle in der Öffentlichkeit tunlichst vermeiden, über heikle Themen zu sprechen. Man müsse immer damit rechnen, dass in der Nähe ein Zivilbeamter lauert. Über die Erinnerungspolizei kursierten allerhand Gerüchte.

Doch in der Lobby herrschte kaum Betrieb. Außer drei Männern in Anzügen, die über einen Aktenstapel gebeugt miteinander diskutierten, saß bloß noch die Empfangsdame an der Rezeption und schaute gelangweilt drein.

»Ich schätze, sie haben einen Raum im Gebäude als Unterschlupf genutzt. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, um sich zu verstecken. Angeblich soll ein großes, verdeckt operierendes Netzwerk existieren, das diese Leute unterstützt. Man nutzt Verbindungen, um ihnen eine sichere Unterkunft, Geld und Verpflegung bereitzustellen. Aber wenn die Polizei nun auch schon solche Verstecke ausfindig macht, dann gibt es keinen sicheren Zufluchtsort mehr.«

R schien noch etwas hinzufügen zu wollen, griff jedoch stattdessen nach seiner Kaffeetasse und ließ den Blick schweigend über den Innenhof schweifen.

Dort stand ein kleiner Brunnen aus Ziegelsteinen. Es war ein einfaches Modell, ohne spezielle Vorrichtungen. Seit wir schwiegen, konnte man durch die Glasscheibe hindurch leise das Wasser plätschern hören. Es war ein zarter Klang. So als spielte jemand in der Ferne auf einer Harfe.

»Ich habe mich schon immer gewundert«, sagte ich und schaute ihn von der Seite an, »wie gelingt es der Polizei, die Leute aufzuspüren? Ich meine diejenigen, die keine Auswirkungen spüren, wenn etwas verschwindet. Äußerlich unterscheiden sie sich doch kein bisschen von anderen Menschen. Es sind Männer und Frauen, aus allen Altersgruppen, aus unterschiedlichen Familien. Wenn sie also auf der Hut sind und sich unauffällig unter die Leute mischen, dürfte ihnen doch nichts anzumerken sein. Es kann doch nicht so schwer sein, so zu tun, als würde auch ihr Bewusstsein beeinträchtigt werden, wenn etwas verschwindet.«

»Ich glaube nicht …« R dachte einen Moment lang nach und fuhr dann fort: »Es ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Unser Bewusstsein ist schließlich in ein weitaus umfangreicheres Unbewusstes eingebettet. Deshalb ist es nicht leicht, etwas vorzutäuschen. Die Betroffenen können sich ja nicht ausmalen, wie sich das Verschwinden von Dingen auf ihr Gedächtnis auswirkt. Sonst würden sie wohl nicht untertauchen.«

»Das ist richtig.«

»Es ist zwar nur ein Gerücht, aber angeblich lässt sich durch das Entschlüsseln der Gene bestimmen, wer von Geburt an über einen besonderen Bewusstseinszustand verfügt. Sogenannte Gen-Ingenieure sollen heimlich in Universitätslaboren ausgebildet werden.«

»Das Entschlüsseln von Genen?«

»Genau. Rein äußerlich mag es bei Personen keine Identifikationsmerkmale geben, aber wenn man sie auf der genetischen Ebene analysiert, lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Wenn man bedenkt, wie rücksichtslos die Erinnerungspolizei neuerdings vorgeht, müssen die Forschungen ziemlich fortgeschritten sein.«

»Aber wie kommen die an unser Genmaterial?«, fragte ich.

»Sie haben doch gerade aus der Tasse getrunken, nicht wahr?«

R drückte seine Zigarette aus und hielt mir meine Tasse dicht vor die Nase. Seine Finger waren so nah, dass ich sie hätte anhauchen können. Aber ich kniff die Lippen zusammen und nickte.

»Es ist so einfach. Man braucht nur eine Tasse, und schon kann man mithilfe einer Speichelanalyse Ihren Genabdruck ermitteln. Die Erinnerungspolizei ist überall. Sogar in der Teeküche hier im Verlag. Ehe man sichs versieht, haben sie die genetischen Profile aller Inselbewohner entschlüsselt und in Datenbanken gespeichert. Dabei lässt sich unmöglich abschätzen, wie viel sie bereits archiviert haben. Egal, wie sehr wir achtgeben, ständig hinterlassen wir irgendwelche Partikel von uns. Haare, Schweiß, Fingernägel, Tränen … all das kann getestet werden. Es lässt sich nicht verhindern.«

Er stellte seine halb volle Tasse vorsichtig auf die Untertasse zurück und warf einen Blick hinein.

Wir hatten nicht bemerkt, dass die Männer ihre Besprechung beendet und die Lobby verlassen hatten. Ihre drei Kaffeetassen standen noch auf dem Tisch. Die Empfangsdame räumte sie mit ausdrucksloser Miene ab.

Ich wartete, bis sie außer Sichtweite war.

»Aber warum verhaften sie diese Leute? Sie haben sich doch nichts zuschulden kommen lassen …«

»Anscheinend soll auf dieser Insel alles nach und nach verschwinden. Insofern ist das, was bestehen bleibt, unangemessen und irrational.«

»Glauben Sie, meine Mutter wurde umgebracht?«

Dieser Satz war mir unversehens herausgerutscht. Ich wusste, es war sinnlos, R danach zu fragen.

»Auf jeden Fall wird man sie verhört und medizinisch untersucht haben.«

R wählte seine Worte mit Bedacht.

Wir verstummten. Nur das Plätschern des Brunnens drang an meine Ohren. Zwischen uns lag unangetastet der zerknitterte Umschlag.

R nahm ihn und zog das Manuskript heraus.

»Es ist schon merkwürdig, dass wir auf einer Insel, wo früher oder später alles verschwinden soll, mit Worten etwas erschaffen können.«

Fast zärtlich strich er den Schmutz von den Blättern.

Es kam mir vor, als wären in diesem Moment unsere Gedanken eins. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, konnte ich die Angst spüren, die sich vor langer Zeit in unseren Herzen eingenistet hat. In den Tropfen des Springbrunnens brach sich das Licht und fiel auf seine Gesichtszüge.

Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht.

Insel der verlorenen Erinnerung

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