Читать книгу Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa - Страница 12

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Es dauerte drei Tage, bis der Fluss sein ursprüngliches Erscheinungsbild zurückgewann. Auch die Karpfen – wo hatten sie sich die ganze Zeit über versteckt? – zogen wieder ihre Kreise im Wasser.

Am zweiten Tag kamen alle, die in ihren Gärten Rosen gezüchtet hatten, um die Blütenblätter den Fluten zu übergeben.

Am Steg nahe dem Waschplatz stand eine elegant gekleidete Dame.

»Sie sind wunderschön«, lobte ich ihre Blumen.

Obwohl alles, was mit Rosen zu tun hatte, keine Gefühle mehr in mir auslöste, wollte ich der Frau, die ihre Prachtstücke auf so innige Weise zu verabschieden schien, etwas Freundliches sagen. Das war das Einzige, was mir dazu einfiel.

»Vielen Dank. Sie haben letztes Jahr auf der Blumenschau eine Goldmedaille gewonnen.«

Meine Worte schienen ihr geschmeichelt zu haben.

»Sie waren eine Erinnerung an meinen verstorbenen Vater.«

In ihrer Stimme schwang jedoch kein Bedauern mit, als sie die Rosenblätter abpflückte und ins Wasser fallen ließ. Nur die Fingernägel hatte sie im passenden Farbton lackiert.

Als sie das Ritual beendet hatte, ging sie mit einem vornehmen Kopfnicken ihrer Wege, ohne noch einmal einen Blick auf den Fluss zu werfen, auf dem die Blütenblätter ins ferne Meer trieben. Auch wenn der Fluss von ihnen fast vollkommen bedeckt gewesen war, würden sie sich bald schon in den Weiten des Ozeans verlieren.

Ich schaute mir das Schauspiel zusammen mit dem alten Mann auf dem Deck der Fähre an.

»Merkwürdig, dass der Wind die Rosenblätter von allen anderen unterscheiden konnte«, sagte ich und rieb mit dem Daumen über eine rostige Stelle auf der Reling.

»Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung. Wir wissen nur, dass die Rosen verschwunden sind.«

Der alte Mann trug über der Arbeitshose, die noch aus seiner Zeit als Mechaniker stammte, den Pullover, den ich für ihn gestrickt hatte.

»Aber was wird nun aus dem Rosengarten?«

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Entweder es werden andere Blumen wachsen, oder man pflanzt dort Obstbäume an. Das Terrain kann auch als Friedhof genutzt werden. Wer weiß das schon? Die Zeit heilt alle Wunden. Sie verstreicht unaufhaltsam und lässt sich von niemandem beeinflussen.«

»Jetzt, wo nach der Vogelwarte auch der Rosengarten betroffen ist, kommt mir hier oben auf dem Hügel alles sehr traurig vor. Es gibt nur noch die alte Bibliothek.«

»Da haben Sie recht. Als Ihr Vater noch am Leben war, hat er mich oft in die Vogelwarte eingeladen. Wenn ein seltener Vogel vorüberzog, habe ich mir von ihm das Fernglas geborgt. Zum Dank habe ich sanitäre Anlagen oder elektrische Leitungen repariert. Im Rosengarten kannte ich den zuständigen Gärtner, und wenn eine neue Art anfing zu blühen, durfte ich sie mir gleich anschauen. Deshalb bin ich immer gerne den Hügel hochgewandert. Aber für jemanden wie mich ist die Bibliothek nutzlos. Außer wenn ein Buch von Ihnen erscheint. Dann bin ich sofort hingegangen, um zu prüfen, ob es dort auch im Regal steht.«

»Wirklich? Sie haben sich meinetwegen solche Umstände gemacht?«

»Aber natürlich. Ich hätte mich sofort beschwert, wenn ich Ihr neues Buch nicht gefunden hätte. Das war zum Glück nie der Fall.«

»Aber es gibt doch kaum Leute, die meine Romane lesen.«

»Das stimmt nicht. Zwei Personen haben mit Sicherheit Ihre Bücher ausgeliehen: ein Schulmädchen und ein Büroangestellter. Das habe ich auf der Ausleihkarte gesehen.«

Der alte Mann war ganz aufgeregt. Von der eiskalten Meeresbrise war seine Nasenspitze rot angelaufen.

An der Schiffsschraube hatten sich Blütenblätter gesammelt. Nach der langen Reise den Fluss hinunter trieben sie nun im Meerwasser und waren sichtlich ausgelaugt. Sie hatten an Frische und Glanz verloren und sich mit Algen, toten Fischen und Abfall vermengt. Ihr intensiver Duft hatte sich verflüchtigt.

Wenn eine größere Welle gegen den Rumpf schlug, geriet das Schiff ins Wanken. Es knarrte dann überall. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne trafen den Leuchtturm auf der gegenüberliegenden Landspitze.

»Aber was wird nun aus Ihrem Freund, dem Gärtner?«, fragte ich.

»Er ist bereits im Ruhestand. In seinem Alter braucht er auch keine Angst mehr vor der Erinnerungspolizei zu haben. Er mag wahrscheinlich vergessen haben, wie man Rosen züchtet, aber er kann sich ja um andere Sachen kümmern. Seinen Enkeln die Ohren sauber machen oder seine Katzen von Flöhen befreien. Es gibt immer genug zu tun.«

Der alte Mann tippte mit der Schuhspitze auf das Deck. Es waren ausgetretene, aber sehr robuste Schuhe. Sie waren so alt, dass man meinte, sie seien ein Teil von ihm.

»Manchmal bekomme ich es schon mit der Angst zu tun«, sagte ich, ohne aufzuschauen. »Es werden immer mehr Dinge verschwinden. Was soll nur aus der Insel werden?«

Der alte Mann griff sich an sein stoppeliges Kinn. Es schien, als würde er den Sinn meiner Frage nicht verstehen.

»Wie meinen Sie das …?«

»Es verschwindet mehr, als dass Neues entsteht. Ist es nicht so?«

Der alte Mann zog die Stirn in Falten, als hätte er Kopfschmerzen.

»Was können die Inselbewohner schon Großartiges hervorbringen?«, fuhr ich fort. »Einige Gemüsesorten, Autos, die ständig kaputtgehen, einfältige Theaterstücke, sperrige Öfen, ein paar ausgemergelte Nutztiere, ölige Schminke, Babys, Romane, die kein Mensch liest … Nur unscheinbares Zeug, auf das kein Verlass ist. Jedenfalls nichts, was es mit den verschwundenen Dingen aufnehmen könnte. Dabei darf man den damit verbundenen Energieverlust nicht vergessen. Es geschieht nicht gewaltsam, aber tief greifend und unaufhaltsam. Wir müssen aufpassen. Ich fürchte, wenn wir die entstandenen Löcher nicht füllen können, wird die Insel bald ausgehöhlt sein, porös, bis sie sich eines Tages ganz in Luft auflöst. Haben Sie nie darüber nachgedacht?«

»Nun ja, was soll ich sagen …« Der alte Mann fühlte sich augenscheinlich sehr unwohl, denn er schob die Ärmel seines Pullovers nervös hoch und herunter. »Es liegt vielleicht daran, dass Sie Romane schreiben, wenn Sie sich – wie soll ich sagen? – solch wundersame Dinge ausmalen. Man erfindet doch allerhand Geschichten, wenn man Romane schreibt, oder?«

»Nun ja …«, stotterte ich. »Aber das hier hat nichts mit einem Roman zu tun. Das sind Ängste, die sehr real sind.«

»Sie sollten sich nicht solche Sorgen machen!«, entgegnete er resolut. »Ich lebe schon dreimal so lange wie Sie auf dieser Insel. Also habe ich mindestens dreimal so viele Dinge verloren. Aber das hat mir niemals Angst eingejagt, und vermisst habe ich die Dinge auch nicht. Nicht mal, als ich die Fähre verloren habe. Man konnte dann zwar nicht mehr übers Meer fahren und drüben zum Einkaufen oder ins Kino gehen. Und ich hatte nicht mehr das Vergnügen, mit ölverschmierten Fingern an den Maschinen zu arbeiten. Und Geld bekam ich auch nicht mehr. Aber das fand ich nicht schlimm. Ich habe auch ohne die Fähre mein Leben gemeistert. Nachdem ich eingearbeitet war und die Lagerhallen bewacht habe, hat mir das ebenfalls Freude gemacht. Und nun darf ich sogar an meinem ehemaligen Arbeitsplatz meinen Lebensabend verbringen. Es fehlt mir also an nichts.«

»Aber Sie haben doch bestimmt keine Erinnerung mehr an die Fähre. Heute ist sie doch nicht mehr als ein riesiger Haufen altes Eisen, der auf dem Meer dahindümpelt. Ist das nicht schmerzhaft?«

Seine Lippen zuckten, während er nach Worten suchte.

»Es mag stimmen, dass heutzutage vieles auf der Insel fehlt. Als ich ein Kind war, schien sie mir – wie soll ich sagen? – irgendwie gehaltvoller, solider zu sein. Aber seitdem die Luft grobmaschiger ist, sind auch unsere Seelen transparenter. Dadurch hat sich ein Gleichgewicht ergeben. Es ist wie beim Gesetz des osmotischen Drucks. Selbst wenn das Gleichgewicht gestört wird, erreicht man nie den Nullpunkt. Deshalb haben wir auch nichts zu befürchten.«

Der alte Mann nickte zur Bekräftigung. Es erinnerte mich an meine Kindheit, als sich sein Gesicht in Falten legte, wenn ich ihn mit meinen Fragen löcherte. Weshalb bekommen Leute gelbe Finger, wenn sie Mandarinen essen? Wohin werden Magen und Darm geschoben, wenn im Bauch einer Frau ein Baby heranwächst?

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Es wird irgendwie gehen.«

»Da bin ich mir sicher. Es ist nicht tragisch, wenn etwas in Vergessenheit gerät oder spurlos verschwindet. Nur diejenigen, die nicht loslassen können, müssen damit rechnen, in die Fänge der Erinnerungspolizei zu geraten.«

Die Abenddämmerung senkte sich über das Meer. Egal, wie sehr ich die Augen auch zusammenkniff, ich konnte kein einziges Rosenblatt mehr entdecken.

Insel der verlorenen Erinnerung

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