Читать книгу Kyopo – Weiße Schmetterlinge - Young-Mi Kuen - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеBambusstangen bewegten sich sanft im Wind. Der Morgentau schimmerte feucht auf den roten Blütenblättern von Halmigo, der giftigen Großmutterblume. Ein Tropfen bildete sich und rann das Blütenblatt entlang, bis er still auf den Boden fiel.
Das zarte Rosa von Mugunghwa, der koreanischen Nationalblume, legte einen verträumten Zauber über den Garten.
Auf dem kleinen Gartenteich schwammen geschlossene Seerosen und einige, wenige blühende Baengnyeon, Lotusblumen.
Frau Lee, die Mutter von Sue, kniete an einem Beet mit Sesamblättern und rupfte Unkraut. Sie horchte auf die Melodie, die aus dem Haus kam. Plötzlich war ein Fehler zu hören. Frau Lee sah auf und blickte zum Haus, wo ihre Tochter Sue saß und Klavier übte.
Sue seufzte. Sie sah auf das leicht ramponierte, koreanische Medizinschränkchen, das von der Form her einem sitzenden Kranich ähnelte und fragte sich, woher ihre Mutter diese ganzen koreanischen Gegenstände her hatte. Auf dem Medizinschränkchen stand eine Seladon-Vase, traditionelle koreanische Keramik und daneben lag Hapjukson, ein koreanischer Fächer.
Sues Blick wanderte weiter zu der Glasvitrine, in der ihre glänzende Pokale standen: 2. Platz im Schwimmen. 2. Platz im Lesewettbewerb. 3. Platz im Hürdenlauf.
Wieder seufzend wandte Sue den Blick von den Pokalen in der blank polierten Glasvitrine ab. Sue selbst sah nicht weniger clean und ordentlich aus. Sie trug einen weißen Hausanzug aus Samt und weiße Turnschuhe, die so aussahen, als würde Sue sie zum ersten Mal tragen.
Das Licht der einfallenden Sonnenstrahlen traf auf den schwarzen Lack des glänzenden Klaviers, das täglich von Sue poliert wurde und auf dem kein einziger Fingerabdruck zu sehen war.
Sue spielte die Stelle noch einmal an, wieder schlichen sich Fehler ein. Ihr Bruder Song kam die Treppe hinunter. Er hatte Kopfhörer auf und summte den Text eines Hip-Hop-Songs mit, während er seinen Basketball dumpf auf jeder Stufe plumpsen ließ.
Sue drehte sich um und warf ihrem älteren Bruder einen finsteren Blick zu, doch Song grinste bloß und dribbelte demonstrativ weiter.
Ihre Mutter betrat das Wohnzimmer. Sie schimpfte: „Wie soll deine kleine Schwester üben bei dem Krach?“
Song antwortete mit einer Zeile aus dem Hip-Hop-Stück und verließ das Haus.
Sue spielte die fehlerhafte Stelle noch einmal an. Ihre Mutter zog ihre rosa Plastikhandschuhe aus. Sie sah Sue an. Frau Lee sagte: „So-Young, mach eine Pause, hm?“
Sue schrieb mit Bleistift eine Notiz auf die Notenblätter.
Frau Lee fragte: „Sue?“
Sue drehte den Kopf zu der Mutter. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt und konzentriert.
Sue fragte zurück: „Mom?“
Frau Lee sagte: „Du hast schon so viel geübt, hm? Setz dich etwas in den Garten, damit du Farbe kriegst.“
Sue sah ihre Mutter an - war das ernst gemeint? Sie entschied sich dafür, dies als einen der vielen mütterlichen Tests zu sehen. Sue antwortete: „Nein, nein, schon ok, ich muss endlich diese Stelle schaffen!“
Frau Lee lächelte - stolz. Sie klopfte ihrer Tochter auf die Schulter und sagte: „Wer fleißig ist, wird auch belohnt!“
Sue blickte verlegen auf das Klavier.
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Die Sommerferien waren vorbei. Es war der erste Schultag.
Sue packte ihre Bücher und Hefte aus und legte sie ordentlich auf den Tisch, während der Rest der Klasse Papierkügelchen warf, auf Handys herumtippte und MP3s austauschte. Frau Kopke (45), die Klassenlehrerin, wischte kopulierende Schweinepaare von der Tafel. Dann drehte sie sich um und rief laut: „Herrschaften, die Ferien sind vorbei! Handys aus! MP3-Player aus! Sue? Lies bitte deinen Ferienbericht vor!“
Sue schlug ihr Heft auf und begann zu lesen: „Eigentlich wollten wir wegfahren, aber dann teilte mir meine Klavierlehrerin mit, dass sie mich zum Jugend musiziert Wettbewerb angemeldet hat.“
Die Gesichter der anderen Schüler waren gelangweilt. Niemand hörte Sue zu. Sue las weiter: „… ich kriege Krämpfe in den Händen, dabei kriegt man mit 14 noch keine Arthritis. Vielleicht mache ich nicht oft genug die Übungen mit dem Tennisball… Vielleicht, weil meine Finger dann auch nicht mehr nachdenken, was sie tun müssen und dann fühlen sie sich nicht mehr so falsch an. Gestern habe ich diese Stelle geschafft.“
Es war still. Sue traute sich nicht aufzublicken und in die Gesichter ihrer Mitschüler zu sehen. Schließlich motzte Max: „Boah, was für beschissene Ferien!“
Frau Kopke rief mahnend: „Max!“
Max sagte: „Ist doch wahr! Die Ferien sind zum Chillen da!“
Sue sagte leise: „Es hat mich keiner gezwungen, ok?“
Max machte eine Geste mit der Hand - die spinnt doch! Ein paar Mitschüler lachten.
Frau Kopke mahnte: „Ruhe, das reicht jetzt! (zu Sue) Sehr schön, Sue. (…) Wer liest jetzt?“
Der restliche Schultag verging wie alle Schultage mit vielen Aufgaben und Pflichten und stillem Sitzen.
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Wieder zuhause wartete die Liste ihrer Mutter darauf, dass Sue sie erledigte. Frau Lee machte für Sue jeden Abend eine Liste von den Dingen, die am nächsten Tag erledigt werden mussten. Doch bevor sich Sue an die Liste machte, musste sie das Mittagessen kochen.
Sue öffnete eine Schublade und zog aus einer Packung eine Atemschutz-Maske hervor. Sie band sich die Atemschutz-Maske vor Nase und Mund und holte eine abgedeckte Schüssel aus dem Kühlschrank. Dann stellte sie eine große Pfanne auf die Herdplatte und dreht die Herdplatte auf. Sue stellte die höchste Stufe der Dunstabzugshaube ein. Während sie das Fleisch briet, wandte Sue das Gesicht ab.
Ihr Bruder Song betrat gut gelaunt die Küche und rief: „Aaaaaah, das riecht ja gut!“ Er schaufelte sich Fleisch und Reis auf seinen Teller und aß mit gutem Appetit.
Sue dagegen pickte lustlos in ihrem Essen herum.
Song sah sich die Liste an, die an der Magnettafel hing und sagte schmatzend: „Boah, Mom is echt der schlimmste Listenfreak, den ich kenne!“
Sue sah ihren Bruder verächtlich an und sagte genervt: „Wenn du auch mal was tun würdest, wär die Liste nicht so lang!“
Song legte die Serviette auf den leeren Teller. Er stand auf und rief Sue im Gehen zu: „Vergiss nicht zu spülen!“
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Nach dem Spülen goss Sue die Blumen im Wohnzimmer und wischte Staub. Sie sah auf ihre Liste. Dort standen noch andere Punkte:
- Briefe zur Post bringen
- Überweisungen bei der Bank einwerfen
- Hose vom Schneider abholen
- Einkaufen: Kaffee, Milch, Brot, Salat.
Hab dich lieb, meine Große, bis heute Abend. Mom
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Sue seufzte. Sie packte ihre Noten zusammen und machte sich auf den Weg zum Klavierunterricht.
Als Sue das Haus der Klavierlehrerin Kim betrat, hörte sie, wie ihre Erzfeindin Cerin (15) ein Klavierkonzert von Mozart spielte. Die Klavierlehrerin Kim nickte Sue zu. Cerin saß am Klavier und sah ihre Lehrerin erwartungsvoll an. Klavierlehrerin Kim klatschte in die Hände und rief: „Bravo! Sehr gut, Cerin! Das war sehr, sehr gut!“
Cerin wirkte überrascht. Sie sah nicht zufrieden aus. Mit hoch gezogenen Augenbrauen sagte Cerin: „Danke, Klavierlehrerin Kim. Was kann ich besser machen?“
Die Lehrerin lächelte zufrieden und antwortete: „Keine Sorge, technisch bist du weiter als die meisten anderen. Versuche, etwas mehr Gefühl hinein zu legen.“
Cerin sah die Lehrerin fragend an.
Klavierlehrerin Kim zog ein Holz-Lineal aus Cerins Hosenbund und sagte: „Spiel mit geschlossenen Augen, Cerin. Lass dich von der Melodie tragen, dann wirst du die Musik besser fühlen.“
Cerin schien nicht ganz zu verstehen, was ihre Lehrerin meinte, doch sie versprach: „Ich werde es üben bis nächste Woche, Klavierlehrerin Kim.“
Die Lehrerin lächelte. Sie nickten sich zu. Cerin packte ihre Noten zusammen und stand auf. Sue stand auch auf.
Cerin sagte kühl: „Hallo Sue.“ Sue grüßte zurück. Cerin schloss die Wohnzimmertür hinter sich.
Sue setzte sich an das Klavier. Die Lehrerin steckte das Lineal in Sues Hosenbund. Dann spielte Sue vor.
Cerin stand hinter der Wohnzimmertür und horchte. Sie grinste. Sues Spiel war nicht so gut wie ihr eigenes Spiel. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck verließ Cerin das Haus der Lehrerin.
Klavierlehrerin Kim kommentierte laut: „Takt 5, zu schwach! Con tutta la forza! MIT ALLER KRAFT! Noch einmal!“
Sue begann noch einmal von vorne.
Klavierlehrerin Kim kommentierte weiter: „Takt 9, unentschlossen. Forte piano! Noch einmal!“
Sue begann noch einmal von vorne. Das Stück klang nun viel unsicherer als vorher. Diesmal ließ die Lehrerin Sue bis zum Ende spielen. Die letzte Note hallte nach. Klavierlehrerin Kim sagte wie beiläufig: „Schön, Sue. Wie oft hast du geübt in der letzten Woche?“
Sue sah Klavierlehrerin Kim angespannt an und antwortete: „Jeden Tag vier Stunden, Klavierlehrerin Kim.“
Die Klavierlehrerin griff nach einem Blanko-Notenheft, das auf dem Klavier lag und gab es Sue, die überrascht die Klavierlehrerin ansah.
Klavierlehrerin Kim erklärte: „Es hilft, wenn man die Noten selbst aufschreibt.“
Sue sah nicht überzeugt aus. Sie fragte: „Klavierlehrerin Kim, was denken Sie, wie viele Stunden pro Tag sollte ich üben?“
Die Klavierlehrerin sah Sue überrascht an und antwortete: „Nun, Cerin übt sechs Stunden pro Tag, aber das ist zu viel für dich.“
Sue antwortete: „Ich will den Wettbewerb gewinnen.“
Die Klavierlehrerin betrachtete Sue nachdenklich, dann sagte sie: „Nun gut, dann spiel noch mal und achte auf den Takt! Denk dran: Con tutta la forza. Mit ALLER Kraft.“
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Der Tag ging wie die anderen Tage zu Ende. Sue übte Klavier, machte den Haushalt und erledigte die Listen der Mutter. Sie brachte Briefe zur Post, Hosen zur Schneiderei, Überweisungen zur Bank. Sue hatte so viel zu tun, dass sie nicht mehr darüber nachdachte, was sie tat. Sie tat es einfach.