Читать книгу Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke - Йозеф Рот - Страница 113
XVIII
ОглавлениеIm Dunkel des Abends schlich sie zum Bahnhof, nicht weit wohnte Rabold, in sechs Stunden erreichbar. Im Wartesaal schrieb sie Briefe, nach Hause und an Ludwig. Die vielfach gebundene Pappschachtel legte sie ängstlich unter die Füße.
In der Nacht erreichte sie ihn und sank in sein Bett. Gestillt war die wühlende Unrast, erstickt jeder Wunsch, gestorben war Fini, die unselige, und selig auferstanden in Rabolds Welt.
Durch kleine Städte fuhren sie, durch winkelige Gassen gingen sie, der Sommer kam wieder, durchsonnte Abende, Wege, vielfach verschlungene, an altem Gemäuer vorbei.
Traum waren ihre Tage, ihre Nächte, so wuchs Fini, die kleine. Seinen Namen kannte sich nicht, fremd lebte er in fremden Städten, von Häschern verfolgt, immer auf der Flucht, immer arm, kärgliches Brot aßen sie.
Im Herbst, schon fiel der erste Schnee, fuhren sie in die große Stadt und lebten einen sicheren Winter in warmer Stube, hoch im unsicheren Viertel der Armen, der Huren und Mörder. Das ängstliche Gewirr der Dächer, der schiefen Giebel und ineinander verankerten Mauerecken drängte sich in das einzige Fenster ihres Zimmers, es kam das Geheul naher Fabriksirenen herein und der unverständliche Schrei einer nachbarlichen Welt.
Es kamen Freunde zu ihm, verwegene Menschen, Verfolgte, Flüchtige und Glückliche. Einmal erreichte Fini ein Brief, man hatte ihr Versteck gefunden, es stand etwas von Tränen der Mutter darin und sogar von Tränen des Vaters. Der Schmerz, von dem sie las, war fremder Schmerz, nichts gingen sie die Tränen der Mutter an.
In ihr lebte Rabold, den sie kannte, dessen Vornamen sie nicht wußte, für den sie selbst einen Namen erfunden hatte, Rabold, der neben ihr schlief, der zu ihr kam, glühend und fremd, immer neu in tausend Gestalten, ein Gott zum irdischen Weibe. Seinen Körper fühlte sie, ehe sie einschlief, sein müdes Knie im Schlaf, die liebe Schulter, die warme behaarte Höhlung seines umarmenden Arms, in die sie ihren Kopf legte. Den nächtlichen Kuß seiner Lippe trug sie auf ihrem Mund, den liebenden Biß seiner Zähne im schwellenden Fleisch ihrer Brust. Neben ihr, in ihr, rings um sie lebte Rabold, ihr Mann. In finsterer Nacht sah sie das Leuchten seiner Augen, und dürstend trank sie gute Worte, die er ihr schenkte. Einmal fuhr er weg, und Fini blieb zurück. Leere, unendliche, strömte jeder Winkel aus, sie heizte den kleinen, eisernen Ofen nicht und kauerte auf einem Kasten, gehüllt in den spärlich gefütterten Mantel, mit zerzaustem Haar und Augen, die sich röteten, ohne zu weinen. Kein Bild hatte sie von ihm, und es ergriff sie die Furcht, daß sie den und jenen Zug seines geliebten Gesichts vergessen könnte, den Schwung seiner Nase, die aufwärtsstrebende Braue über dem linken Aug’, die leise Biegung seines Nackens und die Art, wie er einen Gegenstand griff, mit sparsamer Bewegung der Hand und vollkommener Ruhe des Arms und des Körpers. Jeden Augenblick schloß sie die schmerzenden Augen – ungeweintes Weinen lag in ihnen – und sah sein Gesicht, spät ging sie schlafen. Kalt war das Lager, und in der zaghaft beginnenden Wärme schlummerte sie ein, stieß mit vorgestrecktem Knie plötzlich ins Leere, erschrak, weil neben ihr nichts da war, und sie erwachte. Er ist gestorben! dachte sie auf einmal, stieg mit zitternden Knien hinunter, Licht zu machen, aus dem Schrank holte sie eine Karte, die er ihr einmal geschrieben, sie sah lange und eifrig Zug um Zug der flüchtigen Handschrift, um wenigstens gewiß zu sein, daß er gelebt hatte, neben ihr, mit ihr, ein bißchen für sie. Irgendwo fand sie sein Halstuch, es war weich und gut, von ihm kam es, noch roch es nach ihm, seinem Körper, seinem Leben - er konnte nicht gestorben sein, da das Halstuch noch von ihm warm war, sie nahm es ins Bett und legte ihre Wange darauf und schlief ein.
Sie horchte tagsüber auf den Schritt der Menschen draußen, den Briefträger vermutend, verhallende Schritte beklagte sie wie den Schall verschwindenden Glücks. Ein Freund kam und brachte Nachricht von Rabold, kein Brief war da, Geld nur schickte er. Fini brauchte nichts, sie warf die Scheine in das Nähzeug und dachte nach, unermüdlich. Er war gewiß gestorben und hatte Auftrag gegeben, ihr Geld zu bringen, und er lebte nicht mehr, gewiß, sonst hätte er geschrieben. Nichts wünschte sie mehr, als die liebe Rundung seiner Buchstaben zu sehn, in frischer, überzeugender Tinte. Die Nacht kam, wie gestern, kalt und leer, die letzten mitternächtlichen Schritte erstarben im Hause, Fini wünschte zu sterben, in dieser Nacht zu sterben.