Читать книгу Hochzeitsflug - Yusuf Yesilöz - Страница 10
7
ОглавлениеMeine Eltern sagten immer, dass in ihrem Dorf die Wahrheit nur von einem Verrückten ausgesprochen werden könne. Ich glaubte ihnen nicht und lachte sie jeweils aus. Bei den Überresten des alten Dorfbrunnens erfuhr ich dann aber ausgerechnet vom gleichaltrigen Farda, der seit einiger Zeit im Dorf als geisteskrank galt, den wahren Grund für unsere Reise ins Dorf. Farda, so hatten meine Eltern mir immer wieder erzählt, hatte Gott den Eltern endlich nach sechs Mädchen geschenkt. Dass er geisteskrank wurde, machte sie traurig. Verantwortlich dafür sei sein Vater, weil dieser angeblich für seine Kinder keine Arbeit gesucht und keine Zukunft geschaffen habe und Farda im Dorf in Armut leben müsse. Am Dorfbrunnen blieb Farda vorerst ruhig, während ich versuchte, die Fragen der Kollegen, die alle hofften, irgendwann und irgendwie in den Westen zu reisen, zu beantworten. Sie wollten wissen, wie die jungen Frauen dort waren, ob sie wirklich mit halb entblößten Brüsten herumliefen. Ich wollte weder ihre Vorstellungen bestätigen noch die Frauen als Sexobjekte darstellen noch sie selber brüskieren. Und dann mischte sich Farda ins Gespräch ein. Mit Sahar hätte ich natürlich den Kranich ins Auge getroffen, sagte er lachend, während er den Stummel einer Filterzigarette, die er von meinem Vater erhalten hatte, mit seiner großen Zehe – er trug keine Schuhe – zertrat. «Auch Sahar hat den Kranich ins Auge getroffen», meinte Mofid, ich sei so bescheiden und freundlich geblieben wie einer aus dem Dorf, und das würde Sahar sehr schätzen. Wenn andere Europäer in ihr Dorf zurückkämen, würden sie sich im Gegensatz zu mir mit ihren modischen Kleidern und den schicken Haarschnitten wie jenen von Männern im Fernsehen so arrogant wie Böcke in einer Schafherde aufführen. Ich lächelte Mofid an und sagte, dass ich sie, die Kollegen aus dem Dorf, immer in Erinnerung behalten würde, zudem würden meine Eltern täglich mehrmals vom Dorf sprechen, so dass es unmöglich sei, das Dorf und seine Menschen zu vergessen. Ich war aber irritiert, ja schockiert über Fardas Worte, ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Mein Vater hätte jetzt wohl gesagt: «Mir friert die Spucke auf der Zunge.»
«Sahar hat auf keinen anderen Jungen im Dorf ein Auge geworfen. Sie sprach von der Heirat mit ihrem Cousin, noch bevor ihre Brüste, die heute – Gott behüte sie – wie Zuckermelonen sein sollen, wuchsen», fuhr Farda fort, der wie alle anderen Jungs eine Gebetskette mit Perlen aus Porzellan in der Hand hielt und diese hin- und herschwenkte. «Sahar hat meine Schönheit nie sehen wollen», sagte Farda lachend, während er mit beiden Händen seine Brüste unter dem halb offenen weißen, aber dreckigen Hemd streichelte, «ihre Augen waren nur auf ihren Cousin im Honigland gerichtet.»
Nun packte Mofid ihn am Kragen, so heftig wie eine Hyäne, und schüttelte ihn zornig, er solle sich in Acht nehmen und nicht über Unsittliches sprechen, da der zukünftige Mann dieser Frau da sei. Zu mir gewandt sagte Mofid, ich solle diesen Verrückten mit seinen abschätzigen Worten nicht ernst nehmen. Ich sagte mit leiser Stimme, die kaum ich selber hören konnte, dass ich Farda nicht böse sei.
«An deiner Hochzeit in ein paar Tagen werde ich sicher eine Frau, so schön wie der Mond, finden», sagte Farda. Diesmal hatte er die Hand in die alte Cordhose, die bis zu seinen Knöcheln reichte, gesteckt und spielte mit seinem Schilfrohr. Mofid warnte ihn, er solle die Hand rausnehmen und sie sofort waschen oder mit Erde abreiben, das sei das letzte Mal, dass er ihn mitnehme. Farda verschwand hinter die Ruine, kratzte eine Handvoll Erde zusammen und reinigte seine Hände. Als er wieder zu uns kam, lachte er breit: «Heute haben nur Jungen, die ein Auto fahren, bei Frauen Chancen, wer heiratet heute noch einen Eseltreiber, wie ich es bin.»
Auch ich lachte zuerst über seine Bemerkung. Doch dann verschlug es mir die Sprache, ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn, bald darauf tropfte mir Schweiß über die rechte Wange. Ich wischte ihn mit meinem Hemdärmel ab und hörte Farda, der flüsternd zu Mofid sagte, dass jeder Mann vor der ersten Nacht im Gotteshaus, also in der Ehe, ein Recht habe zu schwitzen, zumal eine Schönheit wie Sahar auf mich warten würde. Die Herausforderung, einer so schönen Frau gerecht zu werden und ihr gewachsen zu sein, sei doch sehr groß. Da musste auch Mofid lachen und mit ihm die anderen Jungen. Wie im Chor sagten sie, dass ich die Leute hier kenne, vor der ersten Nacht mit einer Frau würde es sehr viel Gerede geben. Ich solle Farda nicht so ernst nehmen, nicht einmal die Hähne des Dorfes, denen er ständig Steine nachwerfe, könnten ihm böse sein. Ich schüttelte den Kopf, war innerlich und gedanklich woanders. Vielleicht war es gut, habe ich mir später gesagt, dass ich diese bittere Wahrheit, die meine Zukunft von nun an bestimmen sollte und die einen Schatten über mein weiteres Leben in der Bischofstraße warf, von einem als verrückt geltenden Farda so mitbekam. Man hätte über seine Art, wie er mich aufklärte, worum es eigentlich ging bei meinem Besuch im Dorf, auch lachen können.
Dass nach unserer Ankunft ab und zu flüsternd über Sahar, meine Cousine, gesprochen wurde und sie nicht in unserem Haus erschien, hätte mir eigentlich klarmachen müssen, was der wahre Grund der Reise ins Dorf war. Sahar wusste, dass sie meine Braut werden sollte, der Tradition nach durfte sie unser Haus nicht mehr betreten bis zum Tag der Hochzeit. Ich tadelte mich, weil ich nicht wahrgenommen hatte, dass ich für eine, für meine Hochzeit ins Dorf mitgenommen worden war. Meine Eltern hatten, seit ich mich erinnern konnte, von meiner Hochzeit gesprochen, und von einer aufrichtigen und tüchtigen Schwiegertochter wie Sahar. Ich hatte mir aber gedacht, dass es nicht so schnell gehen würde, und fest geglaubt, dass meine Eltern mich fragen würden, wenn es so weit wäre.
Ich stand regungslos da und zitterte am ganzen Körper. Mir war heiß, ich schwitzte, ich versuchte, meinen Schock den Jungen, die mich in der Dämmerung stumm und aufmerksam anschauten, nicht zu zeigen. Die Welt drehte sich um mich. Mir war noch nicht ganz bewusst, dass mein Leben von nun an in einen schwarzen Schleier gehüllt sein würde. Ich dachte daran, sofort zu meinen Eltern zu gehen und ihnen ins Gesicht zu spucken. Da mir aber klar war, dass sie immer noch von den Gästen umlagert waren, blieb ich widerwillig bei den Freunden, die anfingen, im spärlichen Licht der Straßenlaterne Karten zu spielen.
Obwohl wir von derselben Erde stammten, wie auch die Jungen sagten, war eine große Kluft zwischen uns. Ich war nicht nur im Dorf aufgewachsen und hatte andere Welten kennengelernt. Aus ihrer Sicht war ich aber einer von ihnen, der sich so zu verhalten hatte wie sie selbst. Wenn sie erfahren würden, ging mir durch den Kopf, dass ich in der Liebe Männer vorziehe, hätte ich ihre ganze Sympathie verloren, wäre an die Stelle von Farda und Ramo, den beiden Verrückten, getreten. Vielleicht aber hätten sie es einfach nicht glauben wollen, weil ich doch ein korrekter und zuvorkommender Mann war. Oder aber sie würden denken, die Heiden hätten mich zu einem Abartigen gemacht.