Читать книгу Hochzeitsflug - Yusuf Yesilöz - Страница 9
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ОглавлениеOnkel Mamdoh fuhr beim Dorfeingang langsam, wie in einer Zeremonie, als wolle er die Spannung unserer Ankunft in die Länge ziehen. Die Sonne wärmte immer noch durch die Autoscheiben. Sie war rötlicher geworden und stand knapp drei Mann hoch über dem Horizont. Links der Straße war das Schulhaus, in dem ich zwei Jahre zur Schule gegangen war, es hatte keine Fenster mehr. Ich hatte schon zuvor gehört, dass die Schule geschlossen war, weil nicht mehr genug Kinder im Dorf lebten. Dorfbewohner hatten einen Raum der Schule als Wohnung für den Kuhhirten eingerichtet. Ein anderer Raum wurde von Jungen zum Kartenspielen benutzt, wie meine Eltern wussten. Diese Schule war von einem Verwandten von uns, der im Westen arbeitete, gebaut und dem Staat geschenkt worden. Der Verwandte, der unterdessen an Krebs gestorben war, wollte damals mit dieser Tat sein Gesicht wieder zurückerlangen, das er verloren hatte, weil er jahrelang nichts von sich hatte hören lassen, munkelten die Dorfbewohner damals.
Rechts von der unasphaltierten Straße weidete eine große Schafherde von mindestens vierhundert Tieren. Mein Vater schaute mit liebevollen Augen die Herde an, interessiert, als würde er einen spannenden Film anschauen, und fragte, wessen Herde es sei. Er sprach seinen berühmten Satz, der wie ein Vers war: Man habe eine Nachtigall in einen goldenen Käfig gesperrt, und sie habe trotzdem geklagt: «Oh, meine Heimat!» Damit sagte er aus, was ihn bedrückte: dass er das karge Leben im Dorf vermisste, obwohl er im reichen Westen lebte.
Kaum hatten wir unser Haus entdeckt, sahen wir auch viele Nachbarn und Verwandte, die schon auf der Terrasse des Hauses saßen. Wie auf Befehl standen alle auf, als sie unser Auto erblickten. Mamdoh fuhr weiterhin sehr langsam auf unser Haus zu, als würde er mit seinem Auto über Eier fahren, hupte jedem zu, der neben der staubigen Straße stand und uns winkte. Das Haus, das mein Vater vor Jahren hatte bauen lassen mit Geld, das er in seinem Kebab House verdiente, sah tatsächlich wie ein prächtiger Palast aus. Ich freute mich sehr, dass vor vielen Häusern ein paar Bäume standen. Früher war es im Dorf überall karg gewesen wie auf Bergspitzen. In diesem Moment des Ankommens kam auch meine Sehnsucht nach dem frischen Fladenbrot auf. Ich war froh, dass ich an diesem Tag doch noch eine Freude spürte am Ort meiner Kindheit. Kaum waren wir vor dem Haus ausgestiegen, wurde das Auto von Menschen umringt, wir wurden begrüßt und geehrt, als seien wir hohe Minister. Zwischen dem Auto und der Haustüre wurde ein Kordon gebildet, wir schritten hindurch.
Diesen königlichen Empfang kannte ich schon von früheren Reisen. Von jedem Menschen, Kind oder Greis, Frau oder Mann, wurden wir der Reihe nach umarmt und geküsst. Alle fragten nach unserem Wohlbefinden und sagten das Gleiche: «Wie schön, dass ihr da seid. Danke Gott, der uns diesen schönen Tag geschenkt hat!» Bevor wir ins Haus gingen, hörten wir Stimmen, wir sollten uns zu Mamdohs Haus, also zum großen Haus meines Großvaters, in dem jetzt Mamdoh mit seiner Familie lebte, drehen: Zwei junge Männer kamen aus dem Stall von Onkel Mamdoh, jeder hatte ein Schaf auf den Schultern, und sie bewegten sich in unsere Richtung. Ich musste nicht lange überlegen, weshalb diese Tiere zu uns gebracht wurden. Vor dem Auto hielten mehrere Jungen die Schafe nebeneinander am Boden an den Beinen fest, eine Frau reichte Mamdoh ein langes Messer. Mamdoh schliff das Messer. Einen Vers rezitierend, hielt er das Tier am Genick fest, drehte dessen Gesicht gen Mekka, also gegen Süden, drückte mit seinem rechten Fuß auf die vorderen Schenkel, setzte das Messer am Hals des Tieres an, nachdem er die Wolle auf die Seite geschoben und eine freie Stelle für das Messer gesucht hatte. Ich hatte das Gefühl, in mir breche ein Vulkan aus, und vor meinen Augen wurde es schwarz. Mamdoh zögerte einen Moment, als wolle er die Spannung noch erhöhen. Das Tier bebte am ganzen Körper, bevor Mamdoh dessen Kehle durchschnitt. Das Blut floss in die rote Erde, das Tier bewegte noch einige Minuten die Beine, die von zwei Männern gehalten wurden. Mamdoh wandte sich dem zweiten Schaf zu, das von zwei anderen Männern gehalten wurde, tat das Gleiche mit ihm. Mamdohs Frau tauchte ein Tuch in das Blut, beschmierte mit diesem die Stirn meines Vaters, der hinter seinem Bruder stand und alles stumm beobachtet hatte, als Zeichen, dass das Opfer ihm galt. Und dann wandte sie sich mit demselben Tuch mir zu. Ich warf mich hinter eine Frau, die ich nicht kannte, nur meine Hand wurde erreicht und mit Blut beschmiert. Während ich damit beschäftigt war, meine Hände zu reinigen, war Mamdoh schon dabei, die Schafe zu häuten. Das Fleisch glänzte an der Sonne. Die abgetrennten Köpfe der Schafe lagen nebeneinander unweit ihrer Körper, die Augen der Tiere waren groß geworden, als versuchten sie, aus ihren Löchern herauszukommen. In sicherem Abstand von den Menschen warteten Hunde des Dorfes, mindestens zwanzig, darauf, ihren Anteil zu bekommen.
Später nahmen wir Platz im großen Saal des Hauses auf den Teppichen, die meine Mutter geknüpft hatte, als sie noch im Dorf lebte. Alle redeten gleichzeitig, was mir vorkam, als würde ich in einem Tunnel auf der Autobahn stehen.
Das Essen kam aus Mamdohs Haus, wie ich es von früheren Reisen her kannte, es war dort in Kürze zubereitet worden. Alle Männer des Dorfes waren anwesend. Allein für sie wurden zwei Bodentische eingerichtet, zuerst kam die Joghurtsuppe mit Minze, dann das Fleisch der vorher geschlachteten Schafe in einer großen Schüssel und Reis, zum Abschluss Aprikosenkompott – ein traditionelles Menü, das hohen Gästen serviert wird.
Den Wänden entlang saßen der Reihe nach unsere Verwandten. Meine Mutter, die strahlend wie ein Maikäfer lächelte, servierte auf silbernen, verzierten Tellern Schokolade, die sie in der Bischofstraße kiloweise gekauft hatte. Später würde ich sehen, wie die Schokoladepapiere um unser Haus herumlagen und vom Wind im Dorf verteilt wurden. Einige Papiere blieben noch Tage an den Sträuchern hängen.
Mein Vater reichte den Männern seine Filterzigaretten, von der stärksten Sorte natürlich. Die Älteren rauchten, die Jungen, die aus Respekt nicht vor den Älteren rauchen durften, steckten die Stängel in die Brusttasche ihres Hemdes.
Nach dem Essen, das auch die Frauen an separaten Esstischen mit großem Appetit und dankend zu sich nahmen, wurden die Männer in ein Zimmer gebeten. Die Älteren saßen auf den gewobenen Sitzkissen am oberen Ende des Raumes, die Jüngeren unten. Die älteren Männer durften ihre Beine ausstrecken – bei vielen kamen die Löcher in den Socken zum Vorschein. Dass Jüngere ihre Beine in Anwesenheit von Älteren nicht ausstrecken, war sogar mir bekannt. Es bedeutet Respekt. Mein Vater, der stolze Rückkehrer, verteilte weiterhin Zigaretten und Schokolade, das war seine einzige Beschäftigung seit unserer Ankunft. Rauch strömte in den Raum wie aus einem Kamin und durch die offenen Fenster hinaus. Eine junge Frau, die ich nicht kannte, brachte auf einem silbernen Tablett Tee in schmalen, verzierten Teegläsern bis vor die Zimmertür. Als ich Anstalten machte, Tee zu verteilen, wurde ich einstimmig wie von einem Chor zurechtgewiesen, der Gast habe nicht zu arbeiten. Ein anderer sprang ein. Mein Vater sah glücklich aus, er mischte sich im Gegensatz zu mir in das Gespräch der Männer ein, er wusste, was in dem Jahr seiner Abwesenheit in seinem Dorf passiert war, er kannte die Geschichten von Missernten oder vom Sohn eines Cousins, der von seiner fiesen Frau, die nicht eine Beyto war, verlassen worden war. Als die älteren Männer schmatzend reichlich Schokolade gegessen und ihre löchrigen Zähne, die vom Rauchen eine gelbliche Farbe angenommen hatten, mit Zahnstochern, die sie in ihren Taschen mittrugen, geputzt hatten, verabschiedeten sie sich, und mein Vater blieb mit seinen Gleichaltrigen zurück, die nun fröhlich einen Scherz nach dem anderen zum Besten gaben.
Meine Mutter war mit den Frauen im anderen Zimmer. Die Türe stand offen, man hörte das laute Lachen der Frauen. Die Mutter verteilte die Geschenke. Seit wir in der Bischofstraße wohnten, war meine Mutter eine fleißige Sammlerin von Aktionskleidern. Textilien, egal welcher Art, die im Preis reduziert waren, brachte sie nach Hause und lagerte sie in einem separaten Schrank in ihrem Schlafzimmer, den sie auch als Aktion gekauft hatte. Mit der Zeit kannten alle Verkäuferinnen meine Mutter, und manche von ihnen benachrichtigten sie einen Tag, bevor das Geschäft die Aktionswoche startete. Diese Kleider brachte sie dann einmal im Jahr ins Dorf, nicht für nahe Verwandte, wie Mamdohs Familie, für die sie in Boutiquen eingekauft hatte, sondern für bedürftige Verwandte. Bei ihren letzten Besuchen im Dorf war sie enttäuscht gewesen, dass die Leute modischere Kleider trugen und über Mutters billige Ware sogar spotteten. Mutter aber hörte nicht auf, Aktionskleider zu sammeln. Auch diesmal hatte sie einen Koffer voll mitgebracht.
Mein Onkel Mamdoh saß als der Älteste nun oben, und ich sah erstaunt, wie schnell mein Vater seinen Ernst verloren hatte und mit den Männern scherzte. Das heitere Gespräch ging um die Männer und die Frauen und was da so zwischen ihnen ablief. Die Augen waren auf einen Mann namens Ramo gerichtet. Dessen Mundwerk galt als locker. Er begann mit einer seiner Geschichten über die Männer, die er in Deutschland in der Bahnhoftoilette geölt hatte, wie er es nannte. Alle brachen in schallendes Gelächter aus – ich lachte sogar mit, weil alle lachten, auch wenn ich den Inhalt der Erzählung von Ramo abstoßend fand.
Später ging man zu ernsteren Dingen über. Mein Vater erzählte mit nicht wenig Stolz von meinem Beruf als Informatiker, und Onkel Mamdoh schaute mich liebevoll an. Ich musste allen erklären, was mein Beruf beinhaltete. Sein Sohn verstehe von dieser Erfindung der Heiden so viel, als hätte er sie selber entworfen, berichtete Vater über meine Computerkenntnisse. An Ramo mit dem undichten Mund gewandt, verkündete er, dass es heute für ihn nicht mehr nötig sei, sich in Gefahr zu begeben und in der Nacht vor den Fenstern zu lauern, um einen lang ersehnten nackten Frauenkörper zu sehen, denn die Erfindung der Heiden würde die schönsten Frauen, sogar Models oder berühmte Frauen vom Fernsehen, ganz nackt zu ihm nach Hause bringen. Da richtete sich Ramo, der halb am Schlafen war, auf und forderte meinen Vater auf, ganz genau zu erzählen, wie das gehe. Er habe nämlich auch schon früher von dieser schönen Neuigkeit gehört. Das Paradies liege einem neuerdings so einfach vor den Füßen, man müsse nicht mehr ein Leben lang beten, um eingelassen zu werden. Vater erzählte mit leiser Stimme, die Frau stehe nackt vor einem Mann, der sie fotografiere, danach könne er diese Fotos im Computer Tausenden oder Millionen schicken. Eine Frau gehöre nun nicht mehr nur einem einzigen Mann. Vater wusste aber nicht genau, wie das alles technisch ging, er schaute mich an, es wäre aber unstatthaft gewesen, wenn er mich, seinen Sohn, dazu aufgefordert hätte, zu erzählen, wie nackte Frauenfotos verbreitet werden. Mein Onkel Mamdoh, der Meister der Erotik, wusste natürlich bestens Bescheid. Er beschrieb es mit einem unerwarteten Bild: Da man den Frauenkörper fotografiere, mache man daraus eine Art Sonne, die oben stehe, und jeder Mensch, der einen Computer habe, könne sie anschauen. Sie sei aber weit weg, man sehe sie, aber man dürfe sie nicht anfassen, genau wie die Sonne. Ramo reagierte mit Erstaunen, er schrie vor Freude und sagte, die Welt werde nicht mehr untergehen. Er warf ein leeres Schokoladenpapier in Richtung meines Vaters und sagte, er solle das nächste Mal keine Schokoladen, sondern diese Erfindung der Heiden, also einen Computer mit nackten Fotos der Models mitbringen. Alle lachten.
Solche Gespräche über Verbotenes waren eigentlich nicht angebracht, das wusste ich von früher, aber wenn Ramo mit dem undichten Mund anwesend war, leistete man es sich, halb im Spaß Sprüche zu machen, die unter die Gürtellinie gingen, und so für Stoff zum Lachen zu sorgen.
Ramos Geschichte erzählten meine Eltern oft in unserem Kebab House: Er habe einige Jahre in Deutschland gelebt, unsere Landsleute munkelten, dass er für Geld Männer bediene. Als diese Abscheu, wie meine Eltern seine Tat nannten, verbreitet war, habe Ramo sich verteidigt, dass sein Besuch bei den Männern doch nicht schlimm gewesen sei, weil er nicht unter dem Mann, sondern über ihm gelegen habe. So versuchte der stolze Mann vom Beytodorf zu erklären, dass nicht er, sondern der Mann, der unter ihm lag, schwul war. Wegen dieser Männerbeziehungen hat niemand ihm eine Frau gegeben, nachdem er zurück ins Dorf gekommen war. Er galt nun als Dorfnarr, der ab und zu für Vergnügen sorgte. Auch seine Schwestern litten unter seinem Ruf, meine Mutter meinte, er sei schuld gewesen, dass die Schwestern in schlechte Ehen gerieten. Eine wurde die zweite Frau eines hinkenden Mannes, der nicht einmal aus dem Dorf stammte.
Meine gleichaltrigen Kindheitsfreunde saßen mit in dieser Runde, auch sie aßen reichlich Schokolade und lachten mit. Sie forderten mich bald auf, mit ihnen hinauszugehen, zum alten Dorfbrunnen, der nicht mehr in Betrieb war, weil jetzt die Wasserleitungen bis zu jedem Haus gelegt worden waren. «Wir wollen Erinnerungen auffrischen und aus Fürzen Tänze machen», sagten sie im Chor, als wir aus dem Haus gingen. Ich hatte tatsächlich sehr viele Erinnerungen an diesen Brunnen, der unser Treffpunkt gewesen war. Ich, der ich von mindestens zehn Freunden begleitet wurde, war einerseits froh, nicht mehr die sexuell angehauchten Männergespräche hören zu müssen, andererseits merkte ich, dass das Lachen an diesem Tag mir, der ich mir vorkam wie ein Körper ohne Kopf, gut getan hatte.
Zuerst scherzten auch meine Freunde beim alten Dorfbrunnen über die schönsten Frauen, die sie wollten, aber noch nicht hatten, und über die eigenen Mütter und Väter, die klagten, dass alles teuer geworden sei, wenn es ums Kaufen eines Hemdes für sie selber gehe, aber das ganze Geschäft kaufen wollten, wenn es um eine Hochzeit gehe, bei der die gekaufte Ware von den Gästen gesehen und groß bestaunt werde.