Читать книгу Hochzeitsflug - Yusuf Yesilöz - Страница 7
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ОглавлениеOnkel Mamdoh fuhr konzentriert, seine Augen auf die Straße gerichtet, doch immer wieder trafen sich unsere Blicke kurz, seine Augen im Spiegel waren die warmen von früher. Auf beiden Seiten der Straße waren hohe und dünne Pappeln, die sich vom Wind bewegen ließen, als tanzten sie in der Reihe. In jedem Auto, das uns überholte und hupte, saßen mindestens fünf Menschen. Mein Onkel ärgerte sich und murmelte, diese Fahrer seien noch in der Zeit des Pferdereitens steckengeblieben, würden auch auf Rädern zu schnell fahren und so ihrem Tod entgegenrasen.
Als die traurigen Geschichten aus dem Dorf ausgegangen waren, kamen die Scherze an die Reihe. Onkel Mamdoh schaffte mit gekonnten Sätzen den Übergang mit einer Geschichte über einen knausrigen Nachbarn, der bei der Hochzeit seines Sohnes jedes Mal geschwitzt habe, wenn er für die Ausgaben Geld aus seiner Tasche herausholte, das er mit drei Tüchern umwickelt hatte.
Meine Eltern lachten im Auto, waren für einmal nicht mehr die melancholischen Menschen, wie ich sie von ihrem Kebab House her kannte. Ich fühlte, wie sie im Auto, auf dem Weg ins Dorf, sehr glücklich waren. Ich verglich sie mit einem Hund, der zu seiner Besitzerin fand.
Die ewige Sehnsucht meiner Eltern war allgegenwärtig, oftmals viel wichtiger als Essen und Trinken. Sie war spürbar wie das Licht in der Dunkelheit. Sie war eine Fluchtoase für meine Eltern, in die sie sich zurückzogen, wenn sie in ihrem eigentlich verfluchten Leben in der Bischofstraße, wie sie es nannten, vor wichtigen Entscheidungen standen oder irgendetwas sie bedrückte, zum Beispiel wenn sie einen Behördenbrief nicht verstanden. Ihre Sehnsucht stillten meine Eltern jeden Tag ein bisschen nach zwölf Uhr nachts, wenn sie nach sechzehn Stunden Arbeit das Kebab House, den dreißig Quadratmeter großen Laden, abschlossen und erschöpft und traurig in unsere Wohnung über dem Laden zurückkamen. Sie hätten den ganzen Tag Löwen gefüttert, pflegten sie zu sagen, um ihre Müdigkeit zu begründen, während sie ihre orangefarbenen Arbeitsschürzen auszogen. Wenn sie da waren, stanken alle Zimmer der Wohnung, die Wände, die Teppiche, ihr Atem und ihre Kleider, sogar der nie fehlende Goldschmuck meiner Mutter am Hals, nach fettigem Fleisch und in Öl gebratenen Kartoffeln. Mutter kochte vor sich hinredend Schwarztee im aus Zink hergestellten, mit Nelken und Kamillen verzierten Teekrug, den sie natürlich vom Beytodorf mitgenommen hatte, nachdem sie sich frisch und schön gemacht hatte. Sie zog jeweils ihre schönsten Kleider an, als würde sie an eine Hochzeit gehen. Vater streckte stöhnend seine Beine auf dem Teppich aus, auf den er stolz war, weil er von seiner Mutter geknüpft worden war. Jeden Tag erzählte er die gleichen Geschichten von den komplizierten Mustern des Teppichs – etwa ein Rentier mit Hörnern – und vom Geheimnis seiner Mutter, die sich ohne Vorlage mit diesen rätselhaften Mustern auskannte. Der Tee und das Geschichtenerzählen waren ein Ausgleich zu ihrem anstrengenden Leben. Meine Mutter schenkte Tee in die schmalen Gläser mit der goldfarbenen Verzierung, während Vater den Tagesumsatz von Hand auf der leeren Schachtel seiner Zigaretten ausrechnete, so konzentriert, als würde er ein Flugzeug steuern. Nur dann setzte er eine Brille auf. Sie stellten eine Tasse voll farbigem Bonbonzucker auf ein Tischchen zwischen sich und tranken Tee in der berühmten Art des Dorfes: Sie nahmen den Zucker in den Mund, versteckten ihn in einer Backe, bis der heiße Tee aus dem schmalen Glas ausgetrunken war. Beide waren redselig. Sogar ich hatte meine Freude daran, ihnen zuzuhören. Mutter hatte von irgendwem gehört, dass diese Art Tee mit Bonbonzucker nicht dick mache. Meine Eltern wurden aber Jahr für Jahr breiter und breiter. Sie würden mich noch mehr lieben, sagten sie, wenn auch ich auf dieselbe Art Tee mit farbigem Bonbonzucker trinken würde. Sie wollten nicht auf mich hören, wenn ich ihnen weiszumachen versuchte, dass sie als Erstes gegen das unerwünschte Fett an den Knochen diesen ewigen Bonbonzucker weglassen sollten. Der Vater war jeweils verletzt durch meine unüberlegte, lächerliche Feststellung. Stolz sagte er: «Die Art unseres Dorfes, Tee zu trinken, macht nicht dick, weil wir auch im Dorf nicht dick wurden.» Er wiederholte einen Satz aus seinem Dorf, das Pferd solle am Gerstenessen sterben, wenn es sein müsse, also jemand dürfe an dem sterben, was er gerne habe. Meine Eltern gingen erst zu Bett, wenn die Zuckertasse und die Teekrüge leer waren und sie genüsslich und lange vom Dorf gesprochen hatten.
Am nächsten Morgen begann ihr Leben dann mit dem Seufzen meines Vaters und seinen Beschimpfungen von Onkel Mamdoh, der das Vermögen der Beytofamilie für sein ungesättigtes Schilfrohr ausgegeben habe, wie Vater den Grund für die Nachtclubbesuche seines Bruders umschrieb.
Mein Vater hatte immer wieder von Onkel Mamdoh erzählt, auch den Gästen in seinem Kebab House. Wenn sein Deutsch nicht ausreichte, musste ich einspringen und für die Gäste, die mein Vater in seinem Laden wie Könige behandelte, die Geschichten vom anstößigen Umgang meines Onkels mit den Barfrauen übersetzen, der meinen Vater in seiner Existenz bedroht hatte. Dass er schuld war, dass mein Vater im Alter von dreiundzwanzig Jahren in die Fremde gehen musste, wo er in ein schwieriges Leben «dazwischen» trat, wie er es ausdrückte – ich glaube, diesen Begriff hatte ein Kunde meines Vaters benutzt, dem er seine Lage geschildert hatte, und Vater hatte ihn übernommen –, hatte der Vater ihm nie verziehen. Er hatte aber Mamdoh vom Kebab House aus in all den Jahren bedingungslos unterstützt. So wollten es die archaischen Gesetze seines Dorfes. Bevor wir jeweils in den Urlaub fuhren, suchte der Vater für sich einen ganzen Tag lang einen billigen Anzug, aber wenn er für Mamdoh einen Anzug kaufte, was zu den Reisevorbereitungen gehörte, ging er in das teuerste Modegeschäft. Mamdoh, der ältere Bruder, war sein hoher Prinz, den er seit je bewunderte. Das begründete mein Vater mit seiner Kultur: dass der Kleine den Großen zu respektieren habe, denn wenn man den Älteren keinen Respekt entgegenbringe, falle eine Gesellschaft auseinander wie ein Kartenhaus und schmelze wie Schnee unter den starken Sonnenstrahlen.
Mamdoh hatte den Erlös aus den Ländereien des Beytolandes, wie mein Vater stolz den Herkunftsort seiner Familie bezeichnete, in den damals noch wenigen Nachtclubs der Hauptstadt ausgegeben, ließ Vater mich sehr oft seinen Gästen im Kebab House in der Bischofstraße übersetzen. Mamdoh, der verwöhnte Bruder, der Wunschsohn, den der allmächtige Gott dem reichen Großvater nach der Geburt von drei Töchtern geschenkt hatte, genoss es, aus dem Nabel der Frauen Schnaps zu trinken. Deshalb liebte er nur die breitesten Frauen, weil ihre Nabel mehr Platz böten, sagte Vater abschätzig. Mamdoh goss Schnaps in dieses ihm wertvolle Loch, das er mit viel Geld gekauft hatte, und trank oder schleckte das bittere Wasser mit der Zunge aus. Es geschah über Jahre immer das Gleiche: Mamdoh verlor Geld im Nachtclub oder auch beim Glücksspiel, und am nächsten Tag kam der Gläubiger zu meinem Großvater Beyto. Dieser wollte in niemandes Schuld stehen, weder eines Zuhälters noch eines Nachtclubbesitzers, die er als minderwertig betrachtete, verkaufte einen Acker und beglich die Schulden. Er schlug seinen Sohn nicht, wie man im Dorf erwartet hätte, weil dieser sein erster, nach langer Zeit von Gott ins Haus geschickter Sohn war. Mit dem Spruch, Mamdoh sei sein Augapfel, musste er sich jeweils getröstet haben. Das ging so weiter, bis alle fruchtbaren Ländereien des Großvaters, der nicht wenig Tränen vergossen haben soll, den Besitzer gewechselt hatten. Als Mamdoh alles verspielt hatte, aber sein Auto nicht verkaufte, mit dem er weiterhin in die Hauptstadt fuhr, schickte mein Großvater seinen zweiten Sohn, also meinen Vater, zu seinem ehemaligen Hirten ins Land der Heiden zum Arbeiten, damit die Familie wenigstens ein Einkommen habe. Mein Vater unterstützte seither die ganze Familie. Mamdoh hörte mit dem Schnapstrinken aus Frauennabellöchern auf, allerdings erst, als seinen vier Töchtern Brüste wuchsen, wie meine Mutter sein verändertes Verhalten begründete.