Читать книгу Hochzeitsflug - Yusuf Yesilöz - Страница 5
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ОглавлениеAls wir im neuen Flughafen der Hauptstadt Ankara bei der Landung den Atem anhielten, sah ich, dass mein Vater schwitzte. Das Landen tat ihm nicht gut, das wussten wir von früheren Reisen. Wir saßen nebeneinander auf einem Dreiersitz in der vollen Maschine, die melancholisch wirkende und mit vollen Gesichtern gepflegt aussehende ehemalige Dorfmenschen und heutige Stadtarbeiter aus ihrer Fremde ins Dorf nach Hause, also ins Herz ihrer Sehnsucht, brachte. Mein Vater Safir war am Fenster und meine Mutter Narin in der Mitte zwischen uns. Mein Vater ließ sogar seine knochige, mit stark hervortretenden Adern versehene Hand von meiner Mutter halten. Sie durfte das nur im Flugzeug. Nie habe ich sonst die beiden so nah beisammen, Hand in Hand, gesehen. Der Respekt, den sie ihrer Gesellschaft entgegenbringen, erfordert es, als Ehepaar keine Körpernähe zu zeigen, auch nicht vor den Kunden in ihrem Kebab House, die sich wie Tauben küssten, während meine Eltern für sie einen scharfen Kebab zubereiteten. Ich wusste nicht, worauf dieser Respekt basierte, interessiert hatte es mich oft. Aber niemand konnte es mir erklären. Mein Vater sagte mir jeweils, ich würde diesen Respekt nicht verstehen, weil ich in der Bischofstraße in einem traditionslosen Land aufwachse und nicht aus der Erde der Heimat meiner Eltern geknetet worden sei. Damit wollte er sagen, dass ich in der Beytokultur keine Erfahrungen gemacht hatte.
Ich, der ich die letzte Nacht nicht geschlafen, sondern nur gefeiert hatte, nickte im Flugzeug hin und wieder ein, um immer wieder von den Ankündigungen des Flugkapitäns geweckt zu werden. So bekam ich auch das Flüstern meiner Eltern mit. Wenn sie merkten, dass ich erwachte, brachen sie ihr Gespräch ab, wie mit einem Messer schnitten sie den Gesprächsfaden durch und schwiegen oder sprachen vom Umsatz in ihrem Kebab House, das neben dem Dorf jeweils das zweitwichtigste Thema an unserem Esstisch war. Dass in ihrem Flüstern die Rede war von der Zahl der geladenen Gäste, von einem großen beytowürdigen Empfang, davon, wie viele Schafe man schlachten werde oder welche Frau in der Verwandtschaft das Essen für die vielen Gäste am besten kochen könne, nahm ich, der ich benommen war vom Vorabend, gar nicht wirklich wahr.
Kaum wandten wir uns zum Ausgang des Flughafens, entdeckte ich auch schon Onkel Mamdoh, den Bruder meines Vaters. Er hatte eine Filterzigarette im Mund, was ich von ihm gut kannte. Sobald er uns in der großen Menschenmenge, die sich aus dem Tor hinausdrängte, erblickt hatte, kam er lächelnd und im Eilschritt auf uns zu und spaltete die Menschenmenge auf wie ein Messer die Gurke. Er umarmte meine Eltern fest, alle drei ließen sich während Minuten nicht los, küssten einander mehrmals auf die Wangen, sehr innig. Sie zogen sogar erstaunte Blicke anderer Menschen auf sich. Dann, fast beiläufig, gab Mamdoh mir die Hand und küsste mich auf beide Wangen, so zurückhaltend, als erledige er eine Schulpflicht. Ich hatte ihn seit langer Zeit nicht gesehen und bemerkte, dass sein Schnurrbart, der wie ein Besen aussah und sein Markenzeichen war, fast ganz grau und er breiter geworden war. Er nahm die Koffer meiner Eltern, und wir gingen alle vier nebeneinander durch die Halle. Ich rollte meinen Koffer selber.
Meine Eltern schauten mit großem Erstaunen auf den neuen Boden, der wie ein Spiegel glänzte, und auf die moderne, die Augen blendende Beleuchtung des Flughafens und sagten im Chor zu Mamdoh, das sei ja moderner als im Westen. Mamdoh grinste und meinte verschmitzt: «Wir haben Fortschritte gemacht. Jetzt sind wir dran, den Komfort zu genießen.» Draußen zeigte er auf das neue hellblaue Auto auf dem Parkplatz schräg vis-à-vis vom Ausgangstor des Flughafens. Wir schlängelten uns durch die vielen Autos und hörten das Klicken der Autotüre, die Mamdoh mit der Fernbedienung demonstrativ öffnete, bevor wir den Wagen erreicht hatten. Es war sehr heiß in diesem Juli, man hatte das Gefühl, vom neu asphaltierten Boden steige einem Glut ins Gesicht hoch. Mamdoh wies uns die Plätze im Auto zu, es war sehr angenehm im klimatisierten Wagen. Mein Vater machte seinen Scherz, dass sie hier jetzt besser leben würden als in der Bischofstraße, mein Onkel sagte seinem jüngeren Bruder, während er seinen Gurt anschnallte, dass dies alles dank dem jüngeren Bruder Safir so sei, der der Familie immer treu geblieben sei wie der Baum seinen Früchten.
Wir begaben uns in den Verkehr, der wie ein Ameisenzug anmutete. Wir fuhren auf der Autostraße, die Sonne, die auf dem Asphalt spiegelte, blendete uns. Sechs Stunden Reise hatten wir vor uns bis in unser tscherkessisches Dorf, den Ort der ständigen Sehnsucht meiner Eltern. Vater saß auf dem vorderen Sitz neben seinem älteren Bruder, ich und meine Mutter auf dem hinteren Sitz. Die Mutter hielt mich, seit wir im Auto saßen, an der Hand, wie sie es immer machte, wenn wir auf Reisen waren. Auch ich hielt gerne die Hand meiner Mutter, sie hatte trockene, aber warme Hände. Meine Eltern fragten den Onkel über das Dorf aus, Hunderte von Namen der Dorfbewohner fielen so im Eiltempo, und von allen wusste Onkel Mamdoh ein für meine Eltern erstaunliches Ereignis zu berichten. Die wichtigsten Mitteilungen waren mit Abstand die über die Heiratsangelegenheiten der Leute aus dem Dorf, die überall in der Welt lebten. Als Mamdoh von den Scheidungen dieser Dorfleute, die wie Pilze gewachsen waren, berichtete, drückte meine Mutter ihr Erstaunen mit «Vah vah!» aus und schlug sich mit beiden Händen auf ihre Schenkel. Die Welt sei ja zuerst im Dorf untergegangen, sagte sie mehrmals. Mein Vater bemerkte laut lachend, dass unser Dorf in diesen Bereichen mittlerweile die Heiden überholt habe.
Auch die Felder, Wasserleitungen, Strommasten und Tiere des Dorfes blieben von Onkel Mamdoh nicht unerwähnt. Dann berichtete er noch über die schlechte Ernte und wer wegen des Regenmangels, der im Dorf wie eine chronische Krankheit sei, wie stark von der schlechten Ernte betroffen war. Meine Mutter rief wieder: «Vah vah!»
Ich wusste schon lange, dass die Geschichten über die Verwandten im Dorf, die meine Eltern auch immer in unserem Kebab House in der Bischofstraße erzählten, während der Vater Kebab zubereitete und die Mutter die Brötchen dafür backte, für sie ein wichtiges Lebenselixier war, das ihnen mehr bedeutete als die gescheiten Reden eines Professors.
Schon bei der Begrüßung hatte ich gemerkt, dass Onkel Mamdoh sich zu mir anders verhielt, als ich es in Erinnerung hatte. Früher, wenn er uns am Flughafen abholte, warf er mich jeweils mehrmals in die Luft, umarmte mich lange, küsste meine Augen mindestens dreimal und drückte mich fest an sich, wobei mich, das muss ich gestehen, störte, dass er nach Rauch und Schweiß stank, woran ich mich heute noch gut erinnern kann. Jedes Mal, wenn wir in den Urlaub flogen, holte er uns am Flughafen mit einem neuen Auto ab. Gekauft hatte ihm dieses mein Vater, der in seinem Kebab House in der Bischofstraße, über dem wir auch unsere Wohnung hatten, mehr als sechzehn Stunden pro Tag arbeitete.
Onkel Mamdoh nahm mich jeweils schon am Flughafen zur Seite, wollte unter vier Augen über Frauen scherzen, fragte mich, wie schön und wie groß meine Lehrerin sei, und ob ich mich im Schwimmbad schon an junge Frauen heranmache. Ob mir Frauen mit großem Busen oder breitem Hintern am besten gefallen würden. Mir war es immer peinlich gewesen, wenn er so redete, trotzdem mochte ich Mamdoh sehr, weil er immer lieb zu mir war.
Dass Onkel Mamdoh diesmal so distanziert zu mir war, beschäftigte mich, während ich vom hinteren Sitz aus im Spiegel sein liebevolles Gesicht, das nun einige Falten aufwies, betrachtete. Ich interpretierte sein verändertes Benehmen mit meinem Erwachsenwerden. Mamdoh würde mich nun als einen Mann betrachten. Weiter dachte ich auf dieser Reise ins Dorf nicht.
Onkel Mamdoh kannte die Vorlieben meines Vaters und hatte eine Papiertüte mit gerösteten Kichererbsen im Auto. Mein Vater hatte die linke Hand bereits voller Kichererbsen, die er mit der rechten Hand in rhythmischen Abständen in den Mund schob. Er aß mit Genuss, ich hörte nur noch das Geräusch, wenn er in eine biss. Mein Onkel und mein Vater sprachen im Auto leise und irgendwie verschlüsselt. Ihr Gerede drehte sich ganz offensichtlich um ein Fest, das bevorstand. Ich bekam nicht alles mit, interessierte mich auch nicht unbedingt dafür, zumal ich alle fünf Minuten eine SMS von meinem Geliebten Manu beantwortete, auf Englisch, weil wir vermeiden wollten, dass mein Vater hinter unsere Geschichte kam. Manu schwärmte von meiner Zärtlichkeit. Er liebe mich, schrieb er, könne kaum warten, bis diese drei Wochen Urlaub vorbei seien. Ich liebe ihn auch, schrieb ich, diese drei Wochen würden so schnell vergehen, wie das Wasser im Fluss fließe. In meiner letzten SMS schrieb ich ihm, dass ich im Dorf keinen Empfang haben würde. Ich würde in eine andere Welt eintauchen.