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Kapitel 1

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Ina drehte sich um. Sie konnte sich nicht durchringen weiter zugehen. Die Wachen, die sie nach einer strengen Kontrolle durch das Eingangstor liessen, standen da und beobachteten sie. Der Wind wirbelte um ihre Haare und liess ihren ganzen Körper schaudern. Es war ein kühler Tag, obwohl die Sonne am Himmel stand und keine Wolke zu sehen war.

Wieder wandte sie sich dem Haus. Gross, rechteckige Form, zwei Etagen und ein Untergeschoss. Die Fassade war mit braun-grauen Steinplatten besetzt. Vom Eingangstor führte ein Weg in einem leichten Bogen über den Rasen bis zum Eingang des Hauses. Auf der rechten Seite dieses Weges war ein kleiner Teich mit Brunnen, auf der linken Seite standen einige Statuen über die ganze Fläche verteilt. Ein seltsames Gefühl überkam Ina. Sie hatte bloss ein Jahr dort gelebt, ehe Nilia sie in die Rekrutenschule geschickt hatte. Nun, nach drei Jahren war ihre Ausbildung abgeschlossen und sie kehrte in dieses seltsame Familienidyll zurück. Ina blickte auf den Boden zu ihrer Tasche, welche die letzten drei Jahre einiges miterlebt hatte. Ausgefranster Riemen, Schleifspuren, gestopfte Risse. Sie warf sich die Tasche über die Schulter und ging auf den Eingang zu. Mit jedem Schritt den sie machte wuchs ihre Aufregung, ihre Anspannung, ihre Nervosität, die Angst vor der Ungewissheit was sie erwarten würde. Am liebsten wäre sie in die andere Richtung gelaufen, einfach weggerannt. Aber sie hatte keine Wahl. Sie hätte sonst nirgendwo hingehen können.

Vor der Tür blieb sie stehen, atmete tief durch, versuchte sich zu sammeln. Noch bevor Ina anklopfen konnte, wurde die Tür bereits geöffnet. Eine ältere Dame mit grauen Haaren und einem einladenden Lächeln auf dem Gesicht stand vor ihr. Map, die Haushälterin, die einzige gute Seele dieses Hauses breitete ihre Arme aus und drückte Ina fest an sich. „Willkommen Zuhause.“ Diese Worte klangen eigenartig. Doch Ina erwiderte die Umarmung, denn Map war die einzige Person in dem ganzen Haus der sich Ina jemals verbunden fühlte. Dann liess Map ihren Blick einen Moment auf Ina’s Gesicht ruhen: „Du wurdest älter“, sagte sie schliesslich und nahm ihr die Tasche ab, wobei sie sich unter dem Gewicht krümmte. Es hatte keinen Sinn sich mit Map darüber zu streiten und Ina war einfach zu müde dafür. Also ging sie schweigend hinter ihr her. Es waren einige flache Stufen bis zum Vorraum mit den Schränken für die Mäntel. Die Treppe war breit, sodass ohne Problem vier Leute nebeneinander stehen konnten. Auf beiden Seiten war an den Wänden ein silbernes Geländer mit Verzierungen befestigt. Die Treppe selbst war aus weissem Stein. Oben angekommen wollte Ina ihren Mantel ausziehen, doch Map ging ohne Unterbruch weiter, sodass sie ihren Mantel anbehielt und ihr folgte. Geradewegs durch alle Räume und Flure hindurch, direkt in ihr früheres Zimmer. Dort angekommen wollte Map ihre Tasche auf das Bett legen, entschied sich in Anbetracht des Schmutzes daran aber anders und stelle sie schliesslich neben den Schrank. „Im Schrank hat es Kleider die Dir passen sollten.“ Map stand da und betrachtete Ina, die sich ihrerseits im Zimmer umsah. „Sie haben es neu eingerichtet, hoffentlich gefällt es dir.“ Ina reagierte nicht darauf. Map kannte sie gut genug um zu erkennen, dass es ihr nicht gefiel. „Madam Nilia hat viel Zeit aufgewendet um es einzurichten. Du solltest ihr einfach sagen, dass es dir gefällt.“

„Das werde ich, danke Map. – Wo ist sie gerade?“

„Auf dem Markt, sie wird erst gegen Abend zurückkehren. Wir hatten dich nicht so früh erwartet“, sie musterte Ina mit ihrem kritischen Blick von oben bis unten. Ina blickte unbeabsichtigt selbst an sich hinunter und bemerkte erst jetzt, dass sie keinen guten Eindruck machte. In ihrer staubigen Rekrutenuniform, mit den abgewetzten Knien, den teilweise ausgefransten Nähten und den zerrissenen Knopflöchern entsprach sie keineswegs der Norm, die man sich in diesem Haus gewohnt war. Zum Glück war es nur Map die sie so sah. Schliesslich unterbrach Map die Stille: „Ich lasse dir ein Bad ein. – Du hast noch genug Zeit dich zu waschen und danach werde ich dir in der Küche etwas zu Essen machen.“ Mit einem erzwungenen Lächeln antwortete Ina schlicht: „Danke.“ Map drehte sich um und verliess das Zimmer. Sie wusste, dass Ina wahrscheinlich seit mehr als einem Tag nicht mehr geschlafen hatte, dass sie in den letzten Tagen wohl mehr als eine Mahlzeit verpasste und deshalb nahm sie ihr ihre Wortkargheit und ihr Verhalten nicht übel.

Ina ging zum Fenster. Es war dieselbe Aussicht wie früher. Das Gras hatte dasselbe grün, die Sträucher waren etwas grösser, der Tisch mit den Stühlen stand noch immer in der Mitte des Gartens und die Bäume, hinter denen sich die bewachte Mauer versteckte, waren immer noch die Herberge zahlreicher Singvögel. Dahinter erhob sich der Hügel auf dem die Natur wucherte. Dieser Hügel hatte sich verändert. Sehr verändert. Einige Büsche waren zu kleinen Bäumen herangewachsen, dafür hatten sich auf einer Grasfläche Sträucher angesiedelt. An diesem Hügel erkannte Ina, dass viel Zeit vergangen war. Sie drehte sich langsam und betrachtete ihr Zimmer. Das Bett war grösser – ein Bett für zwei Personen. Der Kleiderschrank wurde durch einen grösseren ersetzt, an dessen Front von oben bis unten ein Spiegel ragte. Rechts vom Fenster stand ein Tisch auf dem sich ebenfalls ein Spiegel befand. Daneben fand sich eine Kommode, die Ina bis zu den Schultern reichte, zahlreiche Schubladen mit silberfarbenen Griffen bedeckten die Vorderseite. Alle Möbel waren grau. Sogar der Bettüberwurf war silber-grau. Ein kühles Zimmer. Eingerichtet von einer Person die Ina nicht kannte und sie noch weniger mochte. Sie auch nicht in ihrem Haus haben wollte. Ina ging auf das Bett zu und liess sich fallen. Mit ausgestreckten Armen lag sie da und drückte ihr Gesicht in die Kissen. - Weich, das Bett war weich. Sie konnte sich kaum noch an dieses Gefühl erinnern. Auf der Rekrutenschule hatte sie ein schmales Brett das man Bett nannte. Sie und die anderen Rekruten hatten die ersten Nächte dort kaum geschlafen. An die Rückenschmerzen, die sie alle hatten mochte Ina gar nicht denken.

Die Tür ging auf und jemand trat herein. Ihre Neugier wer es war wurde von Ihrer Müdigkeit übertroffen, also blieb sie regungslos liegen. Jemand stellte etwas auf das Bett und öffnete danach ihre Tasche die neben dem Schrank lag. Ihre Kleider landeten neben der Tasche auf dem Boden. „Hast du gut geschlafen?“

„Ich habe nicht geschlafen. Niemand kann innerhalb von einer Minute einschlafen Map.“ Ein leises Lachen ertönte: „Es waren drei Stunden.“

Ina sah Map ungläubig an. Neben Ihr auf dem Bett befand sich ein Tablett mit Früchten, Brei, Brot und einem Glas Wasser. „Iss etwas. Ich werde die Kleider wegbringen und danach kannst du dich waschen.“ Und schon war Map wieder aus dem Zimmer verschwunden. Ina rappelte sich auf allen Vieren hoch und setzte sich neben dem Tablett hin. Löffelte in der Schüssel Brei. Ihre Arme waren schwer, dass sie den Löffel kaum bis zu ihrem Mund bewegen konnte. Wie gerne hätte sie jetzt ein Stück Fleisch gegessen. Aber da sie seit drei Tagen kaum etwas zwischen den Zähnen hatte war der Brei das richtige und Map wusste das nur zu genau. Die Schüssel war schnell leer und Ina griff nach dem Glas Wasser. Während sie es ohne Unterbruch leerte wurde ihr bewusst wie durstig sie eigentlich war. Sie hielt es noch an Ihren Lippen als es schon leer war um auch noch den letzten Tropfen zu bekommen. Als Map wieder ins Zimmer trat hielt sie das Glas noch immer in ihren Händen. Sie nahm es ihr aus der Hand und zog sie mit den Worten: „Du kannst später noch träumen“, hoch. Schob sie vor sich her auf den Korridor hinaus. Dort gingen sie nach links und dann die dritte Tür auf der rechten Seite wieder hinein. Ina schwoll eine Wolke Wasserdampf ins Gesicht, dass sie die Augen schloss und tief einatmete. – Blütenduft. Map gab ihr einen kleinen Schubs, da sie die Tür blockierte. Als sich die Tür hinter Map schloss, fing sie an an Ina’s Kleidern herum zuzupfen, öffnete die Knöpfe ihres Hemdes und half ihr, es auszuziehen. Der Dreck daran war bereits eingetrocknet. Als sie alle Kleider auf ihren Armen hatte, deutete sie Ina mit einem Kopfnicken in die Badewanne zu steigen. Das Wasser war angenehm warm. Als sie ganz in das duftende Bad eingetaucht war verliess Map den Raum und löschte das Licht, welches ohnehin viel zu hell war. Die Kerze die sie aufgestellt hatte erleuchtete den Raum genug. Ina legte den Kopf zurück und drehte mit ihrem Fuss das heisse Wasser auf. Das letzte Bad hatte sie vor 3 Jahren. Auf der Rekrutenschule war es bereits Luxus, wenn man duschen konnte. Und Urlaub hatte sie nie erhalten. Die wenigen Tage Freizeit, die ihnen während den ganzen drei Jahren zugestanden wurden, hatte sie steht’s auf dem Rekrutenschulegelände verbracht. Die Anreise und Rückreise hätte viel zu viel Zeit in Anspruch genommen. So dass sie letztendlich gar nichts davon gehabt hätte. Einmal in drei Jahren erhielten sie eine ganze Woche Urlaub. Doch auch diese Woche hatte Ina auf der Rekrutenschule verbracht. - Sonderausbildung hatte man es genannt. Beinahe die Hälfte aller Rekruten musste daran teilnehmen. Auf Grund welcher Kriterien diese Rekruten ausgewählt wurden, war ihnen allen Rätselhaft. Denn nicht alle gehörten zu den Schlechtesten. Sie betrachtete den Dampf der hochstieg und den Spiegel beschlug, tauchte ganz unter Wasser. Nach einigen Sekunden öffnete sie ihre Augen und sah Map’s verzerrte Silhouette. Als sie wieder auftauchte war diese damit beschäftigt verschiedene Tücher bereit zu legen. Ina beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Map entsprach ungefähr der Durchschnittsgrösse einer Seranerin, hatte dunkelbraune Augen, schmale Lippen, ein sanftes, einfühlsames Gesicht das bereits einige Falten aufwies und eine schlanke Statur. In ihrer Jugend, musste sie eine Schönheit gewesen sein. Sie trug ein einteiliges braunes Kleid das ihr bis zu den Fussgelenken reichte und bis zum Hals geschlossen war. – Map trug niemals Kleider mit einem Ausschnitt. Lange Ärmel und ein schlichter Schnitt waren ihre Norm. Ihre Haare waren bereits grau und wie immer hochgesteckt. Kein einziges Schmuckstück verzierte ihre Hände, Ohren, Haare oder ihren Hals. Von Kopf bis Fuss bescheiden. Doch Map war zufrieden damit, denn im Gegensatz zu allen anderen Angestellten musste sie keine Arbeitskleidung tragen an der man sie gleich als Bedienstete erkannte, solange sie sich angemessen kleidete. Sie war von Natur aus eine ruhige Person, stets korrekt und immer gut gelaunt, dachte nach, bevor sie etwas aussprach. – Das taten bei weitem nicht alle Seraner.

Map arbeitete seit Jahren in diesem Haus, hatte als Küchengehilfin angefangen und sich im Laufe der Zeit durch ihre seriöse, vertrauenswürdige Art bis zur Aufsichtsperson der anderen Bediensteten aufgearbeitet. Sie tat nichts was ihre Position hätte gefährden können. Dies, weil sie auf ihre Arbeit angewiesen war und es sich noch dazu um eine gut bezahlte Stelle handelte. Obwohl Map in ihrer Jugend geheiratet hatte, hatte sie keine Kinder. Sie verliess ihren Mann fünf Jahre nach ihrer Heirat, aus Gründen die niemand so genau kannte, über die aber alle spekulierten. Über sich selbst sprach sie fast nie. Fragen wich sie immer geschickt aus. Map setzte sich auf einen Stuhl. Nach einer Weile der Stille sagte sie schliesslich: „Ich habe gehört, dass du gut abgeschlossen hast.“ Ina suchte ihren Blick: „Die Ergebnisse sind doch noch nicht bekannt?“

„General Nilia kennt die Ergebnisse. Und er scheint mit deiner Leistung sehr zufrieden zu sein.“ Ina legte ihren Kopf wieder zurück: „Weißt du auch wieso er wollte, dass ich wieder hierher komme?“

„Wo solltest du denn sonst hin?“ Das war eine gute Frage. Darauf hatte Ina keine Antwort: „Madam Nilia will mich doch immer noch nicht hier haben oder?“ Map antwortete nicht. „Streiten sie noch oder haben sie das auch schon aufgegeben?“ Ina wünschte sich sofort, sie hätte es nicht ausgesprochen, denn Map’s Blick erschlug sie fast. „Ihre Ehe war schon vor drei Jahren nicht glücklich. – Wenn sie es jemals war“, erklärte Ina ruhig und hoffte, dass sie Map damit etwas milder stimmte. Diese Ehe war vom ersten Tag an eine politische Angelegenheit. Das begriff sogar Ina. Nur Madam Nilia war damals, vor zwanzig Jahren noch zu jung gewesen, um dem Charme dieses Mannes zu entkommen und Nilia hatte sie sich zweifellos nur wegen ihrem einflussreichen Vater ausgesucht. Map strich gedankenverloren ihr Kleid glatt. Vielleicht war es ihr ja genau gleich ergangen. Wobei Ina diesen Gedanken gleich wieder verwarf. – Map hatte keine einflussreiche Familie, sonst würde sie diese Arbeit nicht tun. „Seit Madam Nilia’s Vater vor zwei Jahren gestorben ist, hat ihr Mann keinen Grund mehr sie zu halten. Er vergisst teilweise jeden Respekt ihr gegenüber und sie hat nach so vielen Jahren nicht mehr die nötige Energie, um dieses Spiel weiter zu spielen. Sie bemühen sich nicht einmal mehr ihre Unstimmigkeiten ungestört auszutragen. Es ist ihnen egal wenn die Hälfte des Personals alles hört was sie sich an den Kopf werfen. – Es ist ein offenes Geheimnis.“ Ina wunderte sich darüber, dass Map es so offen aussprach aber noch mehr wunderte sie sich über ihr Mitgefühl für Madam Nilia. Ina konnte diese Emotion nicht teilen. Von Madam Nilia hörte sie nie ein einziges nettes Wort. „Und ihr Sohn?“

„General Nilia hat Jerma in ein Internat geschickt. So bekommt er wenigstens nicht alles mit. In einem Monat wird er auf die Rekrutenschule gehen.“ Ina glaubte nicht recht zu hören: „Auf dieselbe Rekrutenschule?“ Dass er sie dort hin geschickt hatte war eine Sache. Aber seinen eigenen Sohn für drei Jahre in diese – wie sollte sie es nennen? - Rekrutenschule? Oder doch eher Gefangenenlager? Zu schicken zeugte von mangelnder Vaterliebe. „Ja, General Nilia ist der Meinung, dass er dort zu einem Mann wird.“

„Ich weiss nicht ob er das wirklich verdient hat.“ Map sah Ina etwas erstaunt an aber schwieg zu diesem Thema: „Es ist Zeit.“ Ina erhob sich und liess sich von Map ein Tuch um den Körper wickeln.

Die Sonne war hinter dem Hügel verschwunden und tauchte den Himmel in ein tiefes rot. Map öffnete den Kleiderschrank und nahm einen Bügel mit Kleidern heraus, legte sie auf das Bett und ging zu Ina um sie abzutrocknen. Ina sah im Spiegel, dass die blauen Flecken an ihrem Hals immer noch nicht ganz abgeheilt waren. Map drückte ihr gerade mit dem Daumen auf das rechte Schulterblatt und bemerkte: „Das sieht nicht gut aus!“ Ina drehte sich um und betrachtete ihre Schulter im Spiegel. Stellenweise grüne und blaue Punkte. Es sah aus als ob sie sich angemalt hätte. „Woher ist das?“ Fragte Map mehr besorgt als interessiert. „Nahkampf. – Ich habe gewonnen.“ Map zwang sich ein Lächeln auf die Lippen: „War es das Wert?“ „Bestimmt“, gab sie überzeugt zurück, was Map mit einem seltsamen Gesichtsausdruck quittierte und ohne weiteres Wort hinausging.

Ina griff nach den Kleidern. Zog sich eine schwarze Hose heraus und überlegte, ob sie ihr wohl passen würde – sie passte. Dazu fand sie ein schwarzes Oberteil. Allerdings war der Ausschnitt für ihren Geschmack etwas zu tief geraten, also suchte sie im Schrank nach etwas das sie darüber anziehen konnte. Schliesslich fand sie eine blaue Jacke mit Kragen die sie bis oben schliessen konnte. Sie sah sich im Spiegel an. Ihre Haare waren noch nass und hingen ihr über die Schultern. Die Kleider Sassen ihr perfekt. Sie kniete sich bei ihrer Tasche hin und suchte in den Seitentaschen nach etwas. In der letzten Seitentasche fand sie es. – Ihre schwarze Steinkette. Vorsichtig zog sie sie heraus. Diese Kette war das einzige was sie an ihre Mutter, ihre Familie, ihre Herkunft erinnerte. Sie hatte kaum eine Erinnerung an das Leben bevor sie nach Seran kam. Meistens war sie sich nicht einmal sicher ob es nicht vielleicht nur ihrer Fantasie entsprang. Das einzig greifbare war diese Kette. Sie legte sie sich um. Drei Reihen lagen eng um ihren Hals, die vierte Reihe fiel etwas tiefer hinunter. Das einzige was ihr jetzt noch fehlte waren Schuhe. Sie sah sich im Zimmer um. Allerdings sah sie keine. Nicht einmal ihre eigenen Stiefel waren noch da. Map hatte diese wahrscheinlich entsorgt. Keine einzige Schublade der Kommode offenbarte Schuhe. Alle waren leer. Map blieb vollkommen verblüfft vor Ina stehen: „So sieht eine junge Dame aus“, ihr Gesicht strahlte Freude aus. „Hast du meine Schuhe gesehen?“ Fragte Ina abwesend „Im Schrank hat es andere. Saubere“, sie ging hin und reichte Ina ein Paar. Während sie die Schuhe anzog räumte Map die Kleider weg für die sie sich aus diversen Gründen nicht entschieden hatte. Dann ging sie zu dem Tisch auf dem der Spiegel stand und zog den Stuhl zurück, damit sich Ina setzte. Map wusste bei dem Gewirr auf Ina's Kopf kaum wo sie beginnen sollte. Doch sie hatte bereits genug Erfahrung um ihre Haare zu bändigen und begann damit, sie zu flechten: „Das Essen wird gleich serviert. Madam Nilia ist bereits bei Tisch und General Nilia wird heute wohl auch hier essen. Bist du bereit dich ihnen zu stellen?“ Ina bemerkte Map’s besorgte Stimme und wollte sie etwas aufheitern: „Ich habe drei Jahre Rekrutenschule überstanden, so schlimm kann es nicht werden.“

Gemeinsam schritten sie aus dem Zimmer. Map ging voran und Ina hinterher. Sie erinnerte sich daran, dass sie vor drei Jahren froh war auf die Rekrutenschule gehen zu können, glaubte dort würde es ihr besser gefallen als in diesem Haus. Natürlich irrte sie sich. Bereits nach der ersten Woche wäre sie liebend gern wieder hierher zurückgekehrt. Und das obwohl sie in diesem Haus von allen nur toleriert worden war weil General Nilia sie hier haben wollte. Es wurde ein Verhalten von ihr erwartet mit dem sie nicht dienen konnte, es galten Regeln mit denen sie sich nicht anfreunden konnte. Kurzum, sie hatte die grössten Probleme sich in diesem Haus zu etablieren. Neven, der Mann der sich um sie kümmerte seit sie sechs Jahre alt war, hatte sie andere Dinge gelehrt als in diesem Haus von ihr verlangt wurden. Er hatte ihr eine Erziehung zukommen lassen die in diesem Haus auf Widerspruch stiess. Ina hatte viel eingebüsst, als sie hier aufgenommen wurde. Und sie büsste noch mehr ein, als sie auf die Rekrutenschule ging. Was würde sie nun hier erwarten? Drei Jahre waren eine lange Zeit. Wie viel hatte sich hier verändert? Wie hatte sie sich verändert? Würde es nun besser passen? Ina wurde mit einem Ruck aus ihrer Gedankenwelt geholt. – Sie lief gegen eine Person und hätte diese sie nicht an den Schultern festgehalten, wäre sie wohl rückwärts hingefallen. Sie sah vom Boden auf die Arme die sie hielten. Es war nicht Map. Also sah sie weiter hinauf – General Nilia hielt sie mit einem schelmischen Lachen fest. Er neigte seinen Oberkörper etwas zurück, so dass er sie von oben bis unten betrachten konnte, ohne seine Hände von ihren Schultern zu nehmen: „Ich habe ein Kind auf die Rekrutenschule geschickt und einen Soldaten zurückerhalten. Die Investition hat sich gelohnt.“ Diese Worte und der zufriedene Ton in denen er sie aussprach lösten eine Flutwelle in Ina’s Gefühlshaushalt aus. Sie hatte drei lange, harte Jahre hinter sich in denen sie sich mehr als einmal gewünscht hatte nicht zu existieren und er war zufrieden! - Es hätte sich gelohnt. Neven hätte sie niemals auf die Rekrutenschule geschickt. Er hätte die Entscheidung ihr überlassen. Das nahm sie General Nilia übel. Von dem Tag an, an dem er ihr seine Entscheidung mitteilte bis zu diesem Tag. „Noch nicht ganz wach?“ Ina sammelte sich: „Entschuldigen sie Sir, ich war mit meinen Gedanken wo anders.“ Er hob eine Augenbraue: „Und wo?“ Seine Hände strichen ihren Armen entlang hinunter. „Bei der Rekrutenschule“, gab sie verwirrt zurück und verfolgte mit ihren Augen seine Hände. Er lächelte, griff mit seinen Händen an ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. Danach trat er bei Seite und liess sie vor sich zum Tisch gehen. Madam Nilia die bereits dort sass, machte keine Anstalten Ina zu begrüssen, so ging sie an ihr vorbei und setzte sich an das dritte Gedeck ihr gegenüber. General Nilia setzte sich am Kopf des Tisches hin und wies den Bediensteten an das Essen zu servieren. Map war verschwunden, wahrscheinlich ging sie in die Küche um nach dem Rechten zu sehen.

Mit demselben Argwohn mit dem Madam Nilia bereits die Szene zwischen Ina und ihrem Gatten beobachtet hatte, starrte sie nun zu Ina hinüber. „Du siehst erholt aus“, meinte sie schliesslich mit einer Stimme die keinen Zweifel daran liess, dass sie Ina nach wie vor nicht in ihrem Haus haben wollte. Bei diesen Worten lachte General Nilia laut los: „Ihr Kopf fällt beinahe auf die Tischplatte und du glaubst sie wirkt erholt?“ Sie blickte ihrem Gatten verächtlich entgegen: „Nun, ich dachte es wäre eine Rekrutenschule auf der die Rekruten gefordert werden. Aber es scheint ihr dort gut ergangen zu sein.“ Er straffte seinen Rücken und hob sein Kinn: „Dann wird es unserem Sohn dort auch gut ergehen!“ Madam Nilia wandte unter dem scharfen Blick ihres Mannes den Kopf ab und sagte mit etwas unterwürfiger Stimme: „Ich meine nur, dass Frauen dort offensichtlich besser behandelt werden als Männer.“ Ja, die Ehe der beiden war nur noch Fassade. Sie lebten im selben Haus, um nach aussen den Anschein zu wahren. Doch im Grunde konnten sie einander nicht mehr ausstehen. „Jerma wird dort reifen und hoffentlich auch zu einem Mann, was höchste Zeit ist!“ Seine starren Augen hafteten an denen seiner Ehefrau. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Zum Glück kam kurz darauf einer der Bediensteten und servierte den ersten Gang. Als er Ina den Teller vorsetzte lächelte sie ihn an und bedankte sich. Madam Nilia’s Blick traf sie wie ein Pfeil und die scharfen Worte liessen nicht auf sich warten: „Du brauchst dich nicht bei einem Bediensteten für dein Leben hier zu bedanken. Er wird von uns dafür bezahlt! Wenn du dich bei jemandem zu bedanken hast, dann bei uns!“ Ina bereitete schon eine Entschuldigung vor. Doch Nilia kam ihr zuvor: „Er wird von mir bezahlt! Und wann hast du dich jemals dafür bei mir bedankt?!“ Er hatte seine Frau blossgestellt. Vor Ina und vor dem Bediensteten, der es sehr eilig hatte den Raum zu verlassen. Madam Nilia war sprachlos, genauso Ina. General Nilia griff unbeirrt zu seiner Gabel und fing an zu essen. Ina starrte auf ihren Teller. Eine dünne Scheibe Fleisch mit Gemüse das sie sich so ersehnt hatte. Aber der Appetit war ihr vergangen. Mit welcher Entschuldigung konnte sie sich vom Tisch entfernen? „Ich habe keinen Appetit!“ Madam Nilia erhob sich und ging auf die Tür zu. „Sag einfach, dass du nicht mit Ina an einem Tisch sitzen willst.“ Im gehen warf sie ihm zurück: „Es liegt nicht nur an ihr!“

Ina griff verlegen nach der Gabel und versuchte etwas hinunter zu bringen. Nun konnte sie nicht mehr gehen. Sie hatte zu lange gezögert. Auf der Rekrutenschule hatte man ihr beigebracht nicht zu zögern und nun hatte sie es doch getan. Das Resultat war, dass sie alleine mit General Nilia da sass. An einem grossen Marmortisch an dem zwölf Personen Platz hätten und sie wusste nicht was sie sagen sollte.

Es herrschte einige Minuten Stille. Auf der Rekrutenschule war es den Rekruten untersagt beim Essen zu sprechen. Doch hier war es eine unangenehme Stille. - Wie konnte sie diese Stille brechen? Nicht zögern dachte sie und fing an: „Es tut mir leid…“

„Was?“ Unterbrach er sie schroff, was ihr den Atem raubte. „Dass durch mein Fehlverhalten diese Situation entstanden ist.“ Er lachte: „Diese Situation wäre ohnehin entstanden. Du bist nicht der Auslöser.“ Er wechselte das Thema ehe Ina auf seine Aussage reagieren konnte. „Map wird Morgen mit dir deine Uniform für die Feier holen.“

„Das ist nicht nötig. Ich habe nicht vor hin zu gehen“, sie biss sich auf ihre Zunge, als sie seinen Blick bemerkte. „Du wirst hingehen. An solchen Feiern lernt man wichtige Leute kennen“, er erwartete keine Antwort von ihr. Sie hatte sich seinem Willen zu fügen. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht was du nun tun willst?“ Mit einigen Freunden eine Reise unternehmen. Am liebsten nie mehr zurückkommen. „Nicht direkt.“

„Und das heisst?“ Er stellte diese Frage sehr autoritär.

Sie suchte nach den richtigen Worten. Doch wahrscheinlich gab es keine richtigen Worte für das was sie tun wollte. Nicht zögern dachte sie. Nicht zögern. Er sah sie an und wartete auf ihre Antwort. „Ich möchte Seran für einige Wochen verlassen.“ Nilia behielt seinen Blick steif auf ihrem Gesicht ohne etwas zu sagen. „Acht oder neun Wochen.“ Nilia schob sich eine Gabel voll Gemüse in den Mund und kaute genüsslich darauf herum: „Und wohin willst du?“ Sie sammelte allen Mut: „Verschiedene Handelsstationen und Planeten besuchen. Die Sonnenaufgänge auf Terus sollen einmalig sein.“ Sein argwöhnischer Blick musterte sie sekundenlang: „Du willst zu Neven“, meinte er schliesslich ruhig und doch agressiv. „Nein“, ihre Antwort kam so schnell und bestimmt, dass offensichtlich war, dass sie mit dieser Unterstellung gerechnet hatte. Nilia analysierte ihr Gesicht. Er versuchte herauszufinden, ob sie ihn täuschen wollte. Ihre Teller wurden abgetragen und ein Krug mit heissem Wasser, eine Flasche Wein und Gläser wurden hingestellt. Mit einer Handbewegung deutete er den Bediensteten den Raum wieder zu verlassen. Er nahm zwei Gläser, schenkte Wein ein, schob eines zu Ina und fuhr fort: „Er ist ein Verräter.“ Ina wich seinen strengen Augen aus: „Das ist mir bekannt“, gab sie mit unterwürfiger Stimme zu. „Wieso willst du zu ihm?“ Sie drehte das Glas in ihrer Hand: „Ich will nicht zu ihm. Er hat Seran und mich verraten. Er hat mich alleine zurückgelassen. Wieso sollte ich ihn jemals wieder sehen wollen?“

„Er hat dich aufgezogen. Neven war wie ein Vater für dich und…“

„Er ist nicht mein Vater!“ Fuhr sie mit bebender Stimme dazwischen. Sie erschrak aufgrund ihrer eigenen Reaktion und bereute es. Sie hatte kein Recht in diesem Ton mit ihm zu sprechen. Das liess er sich von niemandem gefallen – schon gar nicht von ihr. Ein tiefer Atemzug, ihre Hände zitterten. Sie umschlang mit beiden Händen das Glas und fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Hätten sie mich nicht in ihrer Grosszügigkeit aufgenommen, dann würde ich heute in den Strassen leben. Ich habe kein Interesse daran diesem Mann jemals wieder zu sehen. – Ich weiss nicht einmal wo er lebt.“

„Das ist auch gut so. – Ich habe keine Kosten gescheut um dich ausbilden zu lassen. Wenn du es mir mit Verrat vergelten willst, wirst du es bereuen Ina“, seine Stimme war kalt und liess keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. „Ich würde niemals bewusst etwas tun, was sie verärgern könnte General Nilia. Meine Treue ist ihnen sicher“, hätte sie diese Worte auf der Rekrutenschule nicht immer wieder geübt, wären sie ihr wohl im Hals stecken geblieben. - Ihm zu Treue verpflichtet zu sein widerte sie an. Doch so war es nun mal und sie konnte nichts daran ändern. Nilia nahm einem Schluck Wein, stellte das Glas hin und sah ihr in die Augen. Wie alle Seraner hatte er dunkle Augen. Seine Haare waren schwarz, ein kräftiges Gesicht mit einem eckigen Kinn und einem breiten Hals. Über seinem rechten Auge hatte er eine Narbe, diese zog er sich bei einem Strassenkampf in seiner Kindheit zu. Sein Körper war muskulös. Er hatte eine Ausstrahlung wie sie nur wenige besassen. Die Uniform die er eigentlich immer trug, rundete das Bild ab. Er war ein gut aussehender Seraner in den besten Jahren, wie man sagte. Und für sein Alter, das irgendwo um die fünfzig Jahre lag, hatte er es schon sehr weit gebracht. Ina fragte sich oft, was er noch vom Leben erwarten könnte. Er hatte noch so viel Zeit und kaum etwas wonach er noch streben konnte. Das Durchschnittsalter von Seranern lag bei ungefähr einhundertzehn Jahren. „Du wirst in kürze deinen Dienst antreten.“ Warum er sie überhaupt nach ihren Plänen fragte, wenn er schon entschieden hatte wie es mit ihr weiter ging, war kein Rätsel für Ina. – Er mochte es seine Untergebenen in falschen Hoffnungen winden zu lassen. „Danke General.“ Sich auch noch dafür bedanken zu müssen, war widerlich. Beide hoben die Gläser. Ein süsser Wein der ihre Kehle hinunterfloss und sie an die Rekrutenschule erinnerte. Es gab einige Rekruten die es immer wieder schafften an Wein heran zu kommen. In kalten Nächten wärmte er sie zusätzlich, denn ihre Decken taten es nicht. Und in den Nächten in denen sie keinen Wein hatten, rutschten sie einfach näher zusammen.

„Ein junger Mann Namens Kilven ist hier, General.“ Nilia hob erfreut sein Gesicht: „Bring ihn herein“, wies er Map an, die den Jungen etwas skeptisch anmeldete.

Eingetrockneter Matsch an den Schuhen, zerrissene Hosen, staubige Jacke, Tasche über der Schulter und soviel Dreck im Gesicht, dass man ihn kaum erkennen konnte. Er sah genauso furchtbar aus wie Ina selbst noch vor wenigen Stunden. Aber er war es. Kilven, einer ihrer besten Freunde von der Rekrutenschule. Er hatte immer ein aufmunterndes Wort, ein Lächeln und eine Umarmung für sie gehabt wenn ihr die Energie fehlte um weiter zu machen. Einige Jahre älter als sie selbst und im Gegensatz zu ihr war für ihn die Rekrutenschule das Beste was in seinem Leben passiert war. Ein Junge von der Strasse, der das Glück hatte, dass ein reicher Mann während einem Strassenkampf auf ihn aufmerksam wurde und seine Ausbildung finanzierte. Viele reiche Seraner finanzierten Strassenkindern eine Ausbildung und sicherten sich so ihre Loyalität. Aber Kilven wurde von Nilia finanziert?! Ina stockte wieder der Atem, nicht zum ersten Mal an diesem Tag! General Nilia ging zu ihm und schüttelte ihm die Hand: „Einige Stunden länger als Ina, aber du hast es geschafft. Ich bin zufrieden.“ Kilven wirkte erschöpft und doch voller Energie: „Ich hoffe ich habe sie nicht enttäuscht General.“

„Du hast bestanden. Meine Investition hat sich gelohnt. Setz dich zu uns und iss etwas. Du musst hungrig sein“, er deutete auf den Tisch. Genauer, auf den Stuhl neben Ina. Kilven liess seine Tasche fallen und ging auf Ina zu. Irgendwie realisierte sie immer noch nicht ganz was sich da abspielte. Nur langsam begriff sie, dass Nilia der reiche Gönner war, der Kilven's Ausbildung finanzierte. Kilven setzte sich mühsam auf den Stuhl neben ihr und drückte ihr einen schmierigen Kuss auf die Wange. – Wieviele Nächte hatten sie zusammen hinter einem Busch verbracht und Wache gehalten? Wie oft hatte sie in seinen Armen geweint und Nilia verflucht? Wie oft hatte sie ihm von Neven erzählt?! Von ihren Plänen Seran für immer zu verlassen?! – Und die ganze Zeit über war er Nilia’s Spitzel gewesen!

Map kam mit einem Teller herein und stellte ihn Kilven hin. Man sah wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Bei ihm war es nicht drei Jahre her seit er das letzte Mal so etwas gegessen hatte. Wahrscheinlicher war, dass er noch nie einen Teller gefüllt mit Fleisch vor sich hatte. Er griff nach Gabel und Messer und fing gierig an alles hinunterzuschlingen. „Es ist gut, dass ihr euch versteht. Ihr werdet in Zukunft wahrscheinlich oft zusammenarbeiten“, Nilia legte seinen Arm auf den Tisch und musterte sie beide zufrieden. „Sie haben schon Pläne für uns, General?“ Nilia blickte Kilven mit Genugtuung entgegen. Ina konnte sich denken weshalb. - Noch einer mehr, der ihm verpflichtet war. „Natürlich. Aber darüber sprechen wir nicht heute. – Willst du Seran auch verlassen?“

Kilven schluckte hinunter: „Wir dachten darüber nach. Sir. Für etwa neun Wochen. Eine kleine Pause bevor ich meinen Dienst bei ihnen antrete. Ich würde gern die Sonnenaufgänge von Terus sehen. Sofern sie damit einverstanden sind.“

Nilia schmunzelte: „Die Sonnenaufgänge von Terus? - Dann hast du Ina auf diese Idee gebracht?“ Kilven blickte Ina von der Seite an: „Wir wollen gemeinsam gehen. Ich, Ina und drei andere Rekruten.“ Nilia zuckte mit seiner Oberlippe: „Nein.“ Dann verabschiedete er sich. Kaum war Nilia zu Tür hinaus, griff Kilven nach Ina’s Glas und leerte es in einem Zug. Er war so gierig, dass ihm der Wein am Mundwinkel herunter lief. Ina schenkte ihm nach und nahm sich selbst ein neues Glas: „Wieso hast du mir das nie gesagt?“ Fragte sie mit vorwurfsvoller Stimme. Mit vollem Mund antwortet er: „Spielt es eine Rolle?“

„Ja!“ War ihre kurze und bestimmte Antwort. „Eben. Deshalb habe ich es dir nicht gesagt. Du hättest mir nicht vertraut“, er sah nicht einmal von seinem Teller auf. „Glaubst du etwa, dass ich dir jetzt vertraue?!“ Ihre Wut war nicht zu überhören. „Ja. Und wenn du nicht mehr wütend bist wirst du mir Recht geben“, er sagte alles mit solcher Zuversicht und Selbstverständlichkeit, dass sie ihm hätte die Augen auskratzen können. Er hatte mit allem was er sagte recht. Sie hätte ihm niemals vertraut, wenn sie gewusst hätte, dass Nilia sein Gönner ist. Er wäre niemals ihr bester Freund geworden und doch fühlte sie sich verraten. Doch vor allem ärgerte sie sich über sich selbst. Drei Jahre und sie hatte nicht die geringste Ahnung davon.

Sein Teller war leer. Er leerte noch einmal das Glas Wein und sah sie dann mit einem breiten Grinsen an. Sie zog ihre Hand auf und gab ihm eine hallende Ohrfeige: „Dafür, dass du mich drei Jahre lang belogen hast.“ Kilven starrte zu ihr, bewegte seinen Kiefer um sicherzugehen, dass alles noch ganz war und meinte schlicht: „Aber ich habe recht.“ „Ich werde das nie vergessen“, ihre grünen Augen funkelten ihm wütend entgegen. „Das solltest du auch nicht. Aber ich habe dich nicht belogen. Ich habe es bloss nie erwähnt“, er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sah sich in dem Raum um: „So lebt man also wenn man reich ist? – So hast du immer gelebt?“ Seine Frage war nicht Vorwurfsvoll, es war eher so, dass er jetzt verstand weshalb sie die Rekrutenschule so sehr gehasst hatte. „Nicht immer. Neven’s Einkommen war nicht so hoch wie das von Nilia. Aber ich hatte jeden Tag drei Mahlzeiten und abends ein warmes Bett.“ Kilven nickte beeindruckt, lehnte sich zurück und sagte selbstzufrieden: „Das werde ich von jetzt an auch haben.“ Ina liess ihn einige Sekunden in seinen Träumen schwelgen: „Komm, wir suchen ein Zimmer für dich.“ Als sie aufstanden umarmte er sie. Er roch nach Schweiss, Erde und etwas anderem, was ihre Nase reizte. Mit seiner dreckigen Hand drückte er ihren Kopf an seine Schulter. „Was hast Du so lange gemacht?“ Obwohl sie ihn eigentlich nicht danach fragen wollte, wurde sie von ihrer Neugier überrumpelt. „Bin gestürzt und hab mein Bein verletzt. - Ilean musste mich fast tragen“, flüsterte er in ihre Haare und zog danach ihren Duft in seine Lungen. - Er hatte mit Ilean das bessere Los gezogen als sie mit Lenit. Nach langem löste sie die Umarmung und ging zu seiner Tasche die noch schlimmer aussah als ihre eigene, packte sie und warf sie sich über die Schulter. Kilven stand neben ihr und legte seinen Arm über ihre Schulter als sie wieder gerade stand. Er hätte gut alleine gehen können, fand es aber amüsant sich an ihr abzustützen. Alle Gästezimmer waren auf dem Flur in dem Ina’s Zimmer war. Sie gingen den ganzen Weg schweigend. Kilven war damit beschäftigt alles genau zu studieren und kam kaum aus dem Staunen heraus. So ein Haus hatte er noch nie von innen gesehen und es überstieg wohl bei weitem seine Vorstellungen davon. Als sie an Ina’s Zimmer vorbeigingen kam Map aus dem Zimmer das direkt daneben lag. Sie staunte darüber, dass sich ein junger Mann auf einer noch jüngeren Frau abstütze die bereits seine Tasche trug. Ina lachte Map an und ging in das Zimmer hinein. Sie liess die Tasche fallen und stellte Kilven in der Mitte des Zimmers ab. „Ich werde ein Bad einlassen“, sagte Map mit der üblichen Distanzierung die sie Gästen immer entgegen brachte. „Ein Bad?“ Fragte Kilven verblüfft. Map drehte sich zu ihm und betrachtete ihn mit einer Art Geringschätzung. Ina antwortete, da Map es nicht tat: „Ja. Das erste in deinem Leben.“ Eigentlich hatte sie es als Scherz gemeint. Doch ihr wurde bewusst, dass es wirklich so war. Ina zog ihm die Jacke aus und legte sie auf seine Tasche. Als sie sich umdrehte war er auf dem Weg zum Bett. „Wage es bloss nicht dich in diesen Kleidern auf das Bett zu legen!“ Er blieb sofort wie eingefroren stehen: „Wieso?“ Dabei drehte er sich zu ihr, sah aber an ihr vorbei zu Map, die gerade das Zimmer verliess. „Weil es sauber ist.“ Sie ging zu ihm und öffnete die Knöpfe seines Hemdes wie es Map Stunden zuvor bei ihr getan hatte. „Nicht so hastig meine Liebe. Ich würde es gerne etwas langsamer angehen.“ Ina musste lachen. Drehte ihn um und zog ihm das Hemd aus. Sein Rücken wies einige Narben auf. Die meisten davon stammten nicht von der Rekrutenschule sondern von der Strasse. Er hatte keine leichte Kindheit. Im Vergleich zu ihm, hatte sie ein traumhaftes Leben. Sie setzte ihn auf einen Stuhl und zog ihm die Stiefel aus. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen. „Wurde das Bein behandelt?“ Er legte seinen Kopf nach hinten: „Oh ja“, seufzte er. „Und?“ Bohrte Ina nach. „Soll nicht jammern.“ Sie nickte verständlich. Das war die standard Antwort auf alle Verletzungen. „Hier, dann kannst du deine Hosen ausziehen.“ Dabei reichte sie ihm einen Morgenmantel. Kilven hielt das Kleidungsstück vor sich hoch: „Nun, dafür brauche ich nicht unbedingt diesen Mantel.“

„Doch. Erst den Mantel anziehen und dann die Hosen ausziehen.“ Er lachte sie wie ein verzogener Junge an: „Sicher, dass du es in dieser Reihenfolge haben willst?“ Obwohl sie ernst bleiben wollte, musste sie lachten. Als ihr seine Hosen an den Kopf flogen wusste sie, dass er fertig war und sie sich wieder umdrehen konnte. Er sah merkwürdig aus, in diesem weissen Morgenmantel, barfuss, ohne die gewohnte Uniform. Sie gingen gemeinsam in das Badezimmer. Map legte wieder einige Tücher zurecht und erkundigte sich danach, ob Kilven noch weitere Dinge zu seinem Wohl benötigte. Danach verliess sie die beiden. „Steig rein.“ Kilven sah beeindruckt auf die Badewanne: „Da haben wir beide Platz.“ Damit hatte er Recht. Doch das wäre etwas eigenartig gewesen. „Ich habe heute schon gebadet.“ Ohne Vorwarnung zog er seinen Bademantel aus und stieg hinein: „Dann eben ein anderes Mal – Aber du weißt nicht was du verpasst“, er lehnte sich zurück und schloss seine Augen. Ina legte ihm einen Waschlappen auf den Rand des Beckens, als er sie am Handgelenk packte, ihr in die Augen sah und mit vollkommen ernster Stimme sagte: „Es tut mir leid.“ Sie sah ihn verblüfft an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihre Stimmbänder versagten. Ihre Augen erfassten seine dunklen Augen. Gerne hätte sie ihm gesagt, dass sie es verstand. Dass sie es ihm nicht nachtrug – aber sie konnte nicht. Er griff mit seiner anderen Hand hinter ihren Kopf und zog sie zu sich. Ihre Arme glitten um seinen Oberkörper und zogen ihn fest an sich. Ihr war egal, dass sie dabei vollkommen nass wurde. Er hielt seinen Mund direkt an ihr Ohr und flüsterte: „Ich wusste einfach nicht wie ich es hätte sagen können. Am Anfang spielte es keine Rolle, dann fürchtete ich du würdest dich von mir abwenden und plötzlich war es zu spät. – Es tut mir leid. Ich wollte dich niemals belügen.“ Sein Gewissen sprach aus ihm und sie selbst hatte Mühe ihre Tränen zurückzuhalten. Er drückte sie fester an sich: „Ich“, jetzt fehlten auch ihm die Worte. Ina fasste sich: „Ich weiss. Es ist in Ordnung.“ Ein Seufzen der Erleichterung ging durch seinen Körper. Sie verharrten einen Moment in dieser Position, keiner von ihnen wollte die Umarmung lösen, beide genossen es zu sehr. „Es ist nicht zu spät rein zu kommen“, sagte er mit einem herausfordernden Unterton. Ina griff nach dem Lappen auf dem Beckenrand und presste ihn ihm ins Gesicht: „Wasch dich. Ich werde etwas für dein Bein holen.“ Sie ging in die Küche die im ersten Untergeschoss des Hauses lag. Dort wurde das Verbandsmaterial aufbewahrt. Als sie ankam war Map daran einige Salben und einen Verband bereit zu legen. Ihre mütterlichen Gesichtszüge lächelten Ina entgegen: „Du kennst diesen jungen Mann gut“, es war eher eine Feststellung als eine Frage. „Er hat mir geholfen die Rekrutenschule zu überstehen“, gab Ina bedeutungslos zurück. „Geholfen? Oder war er der Grund?“ Oh, Map sah mehr als andere. „Geholfen.“ Map nickte vielsagend: „Woher stammt er?“ Ina ignorierte den aufblitzenden Schimmer in Map's Augen, der soviel bedeutete wie: ich weiss, dass da mehr ist. „Von der Strasse.“ Map nickte anerkennend, hob das Tablett mit den Salben und Verbänden und wollte zur Tür hinausgehen die von Ina versperrt war: „Dein Tag war lang genug.“ Sie schürzte ihre Lippen: „Dafür bin ich doch hier.“ Ina nahm ihr das Tablett aus den Händen: „Gute Nacht Map.“

Kilven war immer noch in der Badewanne als Ina zurückkam. Er war eingenickt. Immerhin hatte er sich vorher gewaschen. Seine Haare waren wieder schwarz und in seinem Gesicht klebte kein Dreck mehr. „Kilven“, flüsterte sie und doch zuckte er zusammen. „Hm?“ Ina drehte den Waschlappen aus: „Komm, ein weiches Bett wartet auf dich“, bei diesen Worten war er wieder hellwach: „Mit einem Kissen?“ Sie schmunzelte: „Und einer Decke.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen stand er bereits in seiner vollen Grösse vor ihr. Sie drehte sich um und griff sich ein Tuch das sie ihm reichen konnte. Er wickelte es sich um die Hüfte und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie voran gehen sollte.

In seinem Zimmer warf er sich rücklings mit einem Schwung auf das Bett und legte seine Arme lässig hinter seinen Kopf. Ina setzte sich am Fussende auf das Bett und griff auf dem Boden nach der Salbe. Die Wunde verlief quer über sein Schienbein und blutete leicht. Ina tauchte zwei Finger in die Salbe. Als sie ihm die Salbe auf das Bein strich, verzerrte er sein Gesicht. Sie trug eine dicke Schicht auf und verband es sehr behutsam. Kilven hob es ein wenig damit sie es besser einbinden konnte. Danach kroch sie zu ihm hoch und legte sich neben ihn. Er legte seinen Arm unter ihren Kopf, griff an ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran. Ina legte ihren Kopf auf seine Schulter, ihre Hand auf seinen Brustkorb und presste ihren Körper an seinen. Wie auf der Rekrutenschule hörte sie sein Herz schlagen, spürte seinen Atem und fühlte sich einfach geborgen. „Ich könnte Stunden so bei dir liegen“, flüsterte sie leise. „Dann tu es“, seine Stimme war ebenfalls in ein leises Flüstern gefallen, weil er wusste wie sensibel ihre Ohren waren und er diesen Moment nicht stören wollte.

Ina öffnete ihre Augen, es war dunkel, ihr Rücken schmerzte, deshalb war sie aufgewacht. Sie drehte sich zum Fenster um – Es war nicht das Fenster ihres Zimmers. Es war Kilven’s Zimmer. Offenbar waren sie eingeschlafen – Aber sie lag alleine im Bett, zugedeckt. Ihre Augen spähten zum Fenster hinaus, um einschätzen zu können wie spät oder früh es war. Ein Mond stand über dem Hügel, der zweite erschien gerade dahinter. Ungefähr zwei Uhr morgens. Sie setzte sich auf und überlegte sich, wo sie nach Kilven suchen sollte. Als sie aus dem Bett steigen wollte wäre sie fast auf ihn getreten. Er lag neben dem Bett auf dem Fussboden, auf einer Decke die er wohl im Schrank gefunden hatte und ausser einer Hose trug er nichts. „Ich kann auch nicht schlafen“, ertönte seine heisere Stimme. Ina sah hinunter und er blickte sie an: „Wieso schläfst du nicht?“ Wie viel konnte er von ihr erkennen? Seraner sahen in der Dunkelheit nicht wie sie. Für Ina war es fast so, als wäre das Zimmer hell beleuchtet. Aber für Kilven? Wohlmöglich erkannte er nur ihre leuchtenden Augen. „Ich fürchte das Bett ist daran schuld. Mein Rücken schmerzt wie nach der ersten Nacht auf der Rekrutenschule. – Wie ist der Boden?“

„Bequem“, er rutschte etwas zur Seite um ihr Platz auf der Decke zu machen. Ina winkte ab: „Nein. Ich sollte in mein Zimmer gehen. – Wir sehen uns beim Frühstück, gegen acht Uhr. Gute Nacht Kilven.“ Er sah ihr nach. Müde und etwas benebelt ging sie in ihr Zimmer. Sie trug noch all ihre Kleider welche in einer Ecke des Zimmers landeten. Danach zog sie die Decke vom Bett herunter, packte ein Kissen und machte es sich auf dem harten Boden bequem. Eine Wohltat für ihren Rücken.

Ina

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