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Kapitel 2
ОглавлениеEine Brise kühle Luft zog durch den Raum und über Ina’s Gesicht. Die Vögel draussen sangen. „Guten Morgen“, Map ging im Zimmer umher und hobe ihre Kleider vom Boden auf. „Hast du gut geschlafen?“ Für Ina's Geschmack war es wieder einmal viel zu hell: „Ja“, sie presste ihre Augen zusammen. Map reichte ihr ein kleines Glas Wasser in das sie zuvor eine Tablette geworfen hatte, die nun aufschäumte und das Wasser braun verfärbte: „Dein Freund schlief auch auf dem Fussboden. Allerdings hat er es vorher wenigstens auf dem Bett versucht.“
„Ich auch“, wirkte Ina verteidigend ein. Dann leerte sie das Glas in einem Zug und verzog ihr Gesicht. An den Geschmack würde sie sich nie gewöhnen. Aber es half. Ihre Augen gewöhnten sich an das zuvor so grell wirkende Licht. „Wirklich? So sieht es nicht aus“, Map deutete mit dem Kopf auf das unberührte Bett. Dann zog sie ihr die Decke weg und legte sie daruf. „Kilven ist bereits am frühstücken. Du solltest dich beeilen.“ Es war gerade acht Uhr. Kilven war pünktlich wie immer. Ina zog sich die Kleider des Vortages an, die Map auf einem Stuhl bereitgelegt hatte.
Bevor Ina um die Ecke in den Speisesaal trat, blieb sie stehen und richtete ihre Jacke. Sie hörte Kilven und General Nilia. „Bist du dir sicher?“ Nilia klang überrascht. „Ja Sir. Wer ist er?“ Eine kurze Pause, ehe Nilia fortfuhr: „Erstaunlich. – Neven brachte Ina nach Seran als sie sechs Jahre alt war. Er hat sie aufgezogen. Sie war wie eine Tochter für ihn und er wie ein Vater für sie. Sie hat ihn angehimmelt. Vor vier Jahren hat er Seran verraten. – Er hat mich verraten und ist geflohen. Seither lebt er im Exil. Ina liess er zurück. – Ich habe sie hier aufgenommen. – Ihr ein neues Leben gegeben. Aber sie wusste es nicht zu schätzen. Sie hat rebelliert, wollte nie glauben, dass Neven ein Verräter ist und sie einfach zurückgelassen hat. Ina hat mich verflucht. – Wenn ich nicht gewesen wäre, dann würde sie auf den Strassen leben. Kein anderer Seraner hätte das Kind eines Verräters aufgenommen, noch dazu eine halb-Tuma.“ Kilven hustete leicht. „Das hat sie mir nie erzählt. Ich ging davon aus, dass sie hier aufgewachsen ist, Sir.“ Wieder gab es eine lange Pause. Ob Nilia seine Lüge vielleicht erkannte. Denn Kilven wusste alles. „Nein. – Sie wird ihn suchen“, Nilia war überzeugt davon. „Das denke ich nicht, Sir.“ Doch Nilia wollte Kilven's Bedenken gar nicht hören: „Wie ich schon sagte, er war wie ein Vater für sie. Sie vermisst ihn und wird zu ihm gehen sobald sie Gelegenheit dazu hat.“
„Das würde sie nie tun. Nicht zu einem Verräter – Egal wie nahe sie einander standen“, Kilven klang überzeugt und doch respektvoll. „Ist er in ihren Augen ein Verräter?“ Nilia hatte mit seinem Einwand Recht. „Er hat Seran verraten, sie zurückgelassen und sie hat nie von ihm gesprochen. Was sollte er sonst sein? Wenn Ina ihn suchen wollte, dann wüsste ich das, Sir.“ Erneut gab es eine kleine Pause, in der Nilia nach weiteren Gründen suchte, die bestätigten, dass er recht hatte: „Vielleicht wusste Ina doch, wer dein Gönner ist und hat es deshalb vor dir Geheim gehalten.“ Ina schluckte leer. „Ina hat keine Geheimnisse vor mir. – Wahrscheinlich ist es ihr einfach unangenehm von einem Verräter aufgezogen worden zu sein.“ Sie konnte Nilia's tiefen Atemzug hören: „Vielleicht. - Ich erwarte, dass du mir unverzüglich meldest wenn sie ihn jemals erwähnt. Insbesondere wenn sie Kontakt mit ihm aufnehmen will. – Auch wenn du es nur vermutest Kilven“, der Befehlston eines Generals. „Ich soll sie weiterhin ausspionieren?“ Jetzt wurde Ina speiübel. „Ich will das Beste für Ina. Kontakt mit einem Verräter ist Verrat. Es ist zu ihrer eigenen Sicherheit. – Hast du ein Problem damit?“ So konnte man es auch umschreiben. - Zu ihrer eigenen Sicherheit. Ina's Herz raste, während sie darauf wartete, dass Kilven endlich antwortete. „Nein Sir. Ich werde sie informieren sobald es Grund dafür gibt. Sie können sich auf mich verlassen.“ Ina wusste, dass Nilia kein vertrauen zu ihr hatte. Aber dass er sie auf diese Art – sogar auf der Rekrutenschule – ausspionieren liess, war geschmacklos. Geschmacklos und doch vollkommen typisch für Nilia. Sie hatte genug gehört und wollte es dabei belassen. Also ging sie leise zwei Schritte zurück und lief dann in normalem Tempo in den Speisesaal. Als sie um die Ecke abbog sagte sie mit heiterer Stimme: „Guten morgen meine Herren.“ Beide sahen auf und begrüssten sie als hätten sie gerade eine Diskussion über das Wetter beendet. Sie setzte sich zu ihnen und nahm sich als erstes ein Glas heisses Wasser. Nilia lächelte sie an: „Hast du gut geschlafen?“ Dass sie ihn anspucken wollte, durfte sie sich nicht anmerken lassen. „Sehr gut General“, antwortete sie mit aufgeweckter Stimme. „Gut. Wir sehen uns heute Abend bei der Feier“, damit verabschiedete er sich.
Ina und Kilven sassen schweigend nebeneinander. Nein, sie würde ihn nicht darauf ansprechen. Als sie ihr Frühstück beendet und keiner von ihnen ein einziges Wort gesagt hatte, kochte sie innerlich dermassen, dass sie fast platzte. Er hätte genug Zeit gehabt es ihr zu sagen – aber nichts. Sie lag richtig damit, jemandem der von Nilia finanziert wurde nicht zu trauen. Gequält stand sie auf und ging hinaus. Kilven folgte ihr: „Zeigst du mir den Garten?“
„Den Garten?“ Ina dachte, sie hätte sich verhört. Doch von Kilven kam ein: „Ja“, zurück. Sie hatte keine Lust ihm den Garten zu zeigen oder irgendetwas anderes. Aber etwas bewog sie es zu tun. Nebeneinander gingen sie durch den grossen Salon hinaus, liefen die steinerne Treppe hinunter auf den Rasen in Richtung des Tisches. Danach weiter zum Kampfplatz der mit blauem Sand bedeckt war. Als sie daran vorübergingen fing er an: „Er weiss, dass du zu Neven willst.“ Ina's Mund trocknete aus. „Ich will nicht zu Neven“, gab sie ihm mit ruhiger Stimme zurück. „Ina, bitte belüg mich nicht. Auch wenn du es nie ausgesprochen hast, ich weiss, dass du zu ihm willst“, es lag Bitterkeit in seiner Stimme. Enttäuschung über ihre Lüge. Natürlich wollte sie zu Neven. Trotzdem schwieg sie. Es war nicht nötig etwas dazu zu sagen. „Er will, dass ich ihm berichte wenn du Kontakt zu ihm aufnimmst oder äusserst es vorzuhaben. – Eigentlich soll ich ihm berichten sobald ich einen Verdacht habe.“ In langsamem Schritt gingen sie über den Rasen. Kilven erwartete keine Antwort von ihr. „Ich habe ihm gesagt, dass du nie von Neven gesprochen hast. – Sei vorsichtig Ina. Du kannst hier niemandem vertrauen.“ Wie Recht er doch hatte. „Kann ich dir vertrauen?“ Fragte sie beiläufig. Sichtlich schockiert durch ihre Frage blieb er abrupt stehen und sah sie entsetzt an: „Natürlich.“ Ina drehte sich zu ihm um: „Wie lange noch?“ Er nahm Ihre Hände in seine und sah ihr tief in die Augen: „Ich hoffe wir können einander immer Vertrauen. Du und ich. Es sollte nichts geben das sich zwischen uns stellt. – Nichts.“ Beide wünschten sich so sehr, dass es immer so bleiben würde. Dass sie einander immer Vertrauen konnten. Aber es war Wunschdenken. Beide begannen einen neuen Abschnitt in ihrem Leben. Wohlmöglich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Keil zwischen sie schob. Sie hatte bereits an ihm gezweifelt. Und das schon am ersten Tag nach der Rekrutenschule. In diesem Haus war es schwer jemandem zu vertrauen. Beide fürchteten um ihre Freundschaft, um das was sie verband. „Irgendwann Kilven, irgendwann wird es nicht mehr so sein.“ Er drückte ihre Hände fester zusammen, dabei sah sie Angst in seinen Augen. „Ich werde für dich immer ein treuer Freund sein. – Mehr noch. – Du bist wie eine Schwester für mich. Und was ist stärker als Familie? Es wird immer so sein“, seine Augen bohrten sich durch ihre hindurch. „Und Nilia ist dann wohl dein Vater?“ Fragte sie mit sarkastischer Stimme. „Er ist mein Gönner. Genauso wie er dein Gönner ist. Für dich ist er nicht mehr und für mich auch nicht. – Wir beide sind miteinander verbunden. Er hat damit nichts zu tun. – Nur du und ich. Und unsere Freundschaft. – Vielleicht gibt es Momente, vielleicht sogar Tage oder Wochen in denen es uns schwer fällt einander loyal zu sein – Aber wir werden es sein Ina“, er liess ihren Blick nicht los, im Gegenteil, er sah ihr so tief in die Augen, dass sie das Gefühl hatte er würde in sie hineindringen. „Jeder braucht jemanden dem er ohne Einschränkung vertrauen kann. Jeder! Ich vertraue dir! Und es wird immer so sein. Du wirst mir immer vertrauen können, egal was passiert. Ich werde dir immer zur Seite stehen“, es war ein Schwur – Mehr als das – ein Gelübde. Er sprach ihr aus dem Herzen. „Wirst du zu mir stehen?“ Sie fragte sich, ob ihm klar war, was er sagte, was er ihr versprach und was er von ihr verlangte. Das Ausmass eines solchen Versprechens war kaum abzuschätzen. So etwas einfach nur dahinzusagen war leicht. Es zu versprechen war eine Sache, sein Wort danach zu halten eine ganz andere. Konnte sie es tun? Ihm ein solches Versprechen machen. Konnte sie es verantworten? Einhalten wenn es darauf ankam?
„Ina?“ Sie sah in seine Augen, in sein Gesicht. Suchte etwas. Etwas das ihr sagte, dass sie es tun konnte. Etwas das ihr sagte, dass sie ihm immer vertrauen, sich immer auf ihn verlassen konnte. „Für immer. Ich schwöre es“, Tränen standen ihr in den Augen. „Von heute an sind wir einander verpflichtet“, er legte seine Hände um ihren Kopf und küsste sie auf den Mund. Es war ein langer Kuss. Zu lange, als dass er nur freundschaftlich gewesen wäre. Dann legte er seine Arme um sie, küsste sie auf die Wange und presste seinen Körper fest an ihren. „Für immer“, flüsterte er in ihr Ohr. Ina legte ihr Gesicht an seine Schulter, hielt ihn fest, schloss ihre Augen und hörte seinen rasenden Herzschlag.
„Sie wartet wohl auf uns“, Kilven liess Ina los und deutete mit dem Kopf auf das Haus. Map stand oben an der Treppe und sah zu ihnen. „Sie will aufbrechen“, Ina wollte losgehen doch Kilven hielt sie am Arm zurück und wischte mit einem Finger eine Träne von ihrer Wange: „Jetzt können wir gehen.“ Map beobachtete das ganze von der Tür aus. Als sie bei ihr ankamen musterte sie Ina besorgt: „Ist alles in Ordnung?“ Dabei legte sie ihr die Hand auf die Schulter. „Ja, es geht mir gut“, antwortete Ina mit einem Nicken. Map warf Kilven einen bösen Blick zu, gab sich aber mit Ina’s Antwort zufrieden.
Ihr Weg zur U-Bahn-Station führte sie an den vornehmen Häusern der besseren Gesellschaft vorbei. Jedes Haus war von einer Mauer umgeben die teilweise auch bewacht wurde. Hinter einigen Mauern wurden zusätzlich Bäume gepflanzt um neugierige Blicke abzuwenden. Andere Mauern, wurden so hoch gebaut, dass man die Bäume dahinter gar nicht sehen konnte. Die Wege waren mit Steinplatten gepflastert, und man achtete sorgsam darauf, dass in den Spalten kein Unkraut wucherte. Links und rechts des Weges waren im Abstand von etwa fünfundzwanzig Metern Bäume gepflanzt. An diesem schönen, relativ warmen Tag waren viele Seraner unterwegs. Vor allem ältere Frauen nutzten den Windfreien Tag um spazieren zu gehen und sich bei den Händlern einige Neuigkeiten abzuholen. Es gab nur wenige ausgewählte Händler, die das Recht hatten in dieser Gegend ihre Ware anzubieten. Nach einer kurzen Distanz sah Kilven zurück: „Wir werden verfolgt.“ Map lachte: „Das sind Wachen.“
„Wozu?“ Fragte er. „Die Strassen sind unsicher. Die Kriminalität ist viel höher als früher“, gab ihm Map als Erklärung zurück. „Am helllichten Tag?“ Fragte Ina verblüfft. „Nein. Aber General Nilia ist vorsichtig.“
„Ist es so schlimm oder benutzt er es nur als Vorwand?“ Ina bezweifelte, dass Map wirklich in Gefahr war. „Als Vorwand?“ Ina suchte ihren Augenkontakt: „Für die absolute Kontrolle.“ Map warf einen Blick zu Kilven und dann wieder auf den Boden vor ihren Füssen. „Ich vertraue ihm. Du kannst offen reden.“ Map dachte einen Moment nach und entschied offenbar, dass sie sprechen konnte: „Er ist General Nilia, er hat Feinde. Sie könnten versuchen ihn über sein Hauspersonal vergiften zu lassen.“
„Dann hat er Wachposten für alle Bediensteten?“ Die Kosten dafür mussten enorm sein. Aber Map schüttelte den Kopf ein wenig: „Nein. Er lässt nur mich und Brajram bewachen. Alle anderen müssen sich einer Leibesvisitation unterziehen bevor sie das Haus betreten. Und sie arbeiten nicht länger als einhundert Tage für ihn.“ Deshalb kannte Ina also keinen der anderen Bediensteten. „Seit wann ist er so Paranoid?“
„Ina!“ Map’s Stimme war streng. „Entschuldige. Aber was ist es denn sonst?“ Entgegnete sie ihr kühl. „Vor eineinhalb Jahren wurde Senator Serip von seinem Koch vergiftet“, erklärte ihr Map. „Davon habe ich gehört“, Ina war neugierig was es damit zu tun hatte, obwohl sie eine Vermutung hatte. „Serip hat immer General Nilia’s Ideen unterstützt. Sie waren gute Freunde.“ Natürlich fragte er sich danach wie lange es dauern würde, bis seine Feinde ihn vergiften wollen. Kilven hörte ihnen aufmerksam zu. Er wollte soviel wie möglich über Nilia erfahren ohne dabei neugierig zu wirken. Und doch stellte er eine Frage: „Wieso hundert Tage?“ Map überlegte, ob sie ihm antworten sollte und entschied sich es nicht zu tun. Also tat Ina es: „In zehn0 Tagen können sie nicht seine Gewohnheiten kennen lernen.“
Sie erreichten die U-Bahn-Station welche jede Stadt von ganz Seran unterirdisch mit den anderen verband. Beim Eingang mussten sie ihre Karten auf eine dafür vorgesehene Fläche legen, paralell dazu wurde der Abdruck ihrer Finger gelesen. Ein leiser Pfiff war das Zeichen dafür, dass die Identifizierung und die Abbuchung der Kosten für den Transport auf der Karte erfolgt waren. Danach öffnete sich die Schranke und eine Person konnte passieren.
Die Eingänge der U-Bahnen wurden rund um die Uhr bewacht um zu vermeiden, dass unbefugte sie benutzten oder Bettler dort übernachteten. Es führte eine lange Treppe hinunter, die sich dann in verschiedene Richtungen teilte. Sie nahmen die dritte von links. Am Ende der Treppe angekommen, schwebte gerade eine High-Speed-Bahn an. Diese Wagen funktionierten vollautomatisch und waren beinahe lautlos. Die Türen öffneten sich für etwa dreissig Sekunden ehe die Bahn weiter schwebte.
Kilven setzte sich an das Fenster und sah hinaus. Obwohl es nichts zu sehen gab ausser der Steinverkleidung des Tunnels. Ina sass neben ihm und Map hatte sich ihnen gegenüber platziert. „Ist Madam Nilia noch wütend auf mich?“ Fragte Ina nach einigen Sekunden, da sie keine Lust hatte, die ganze Fahrt schweigend zu verbringen. „Nein.“
„Aber ich habe gestern...“ Map unterbrach sie: „Er hat sie blossgestellt. Nicht du“, dann wandte auch sie ihren Blick zum Fenster hinaus. „Du weißt es?“ Sekundenlang ignorierte Map sie, bis Ina ihr einen leichten Stoss mit dem Fuss gab. „Solche Dinge verbreiten sich unter dem Personal wie ein Lauffeuer“, und wieder richtete Map ihren Blick zum Fenster hinaus. „Dann bin ich nicht der Grund, dass sie heute nicht mit uns gefrühstückt hat?“ Map sah zu Kilven, als ob sie etwas sagen wollte das er nicht hören sollte. „Map?“ Doch es blieb still. Ina schmunzelte aufgrund von Map's Reaktion. Ina legte ihren Kopf auf Kilven’s Schulter und fragte sich, wie lange Madam Nilia bereits eine Affäre hatte. Wie lange es Nilia noch tolerieren würde. Oder ob es ihm vollkommen egal war. Wieso verliess sie ihn nicht? Was hielt sie noch bei ihm? Wenn es doch so offensichtlich einen anderen Mann gab der sie liebte. Es gab verschiedene mögliche Antworten darauf. Entweder war dieser andere Mann selbst noch verheiratet oder er hatte kein so hohes Auskommen, dass er Madam Nilia den Lebensstandart ermöglichen konnte den sie sich gewohnt war. Vielleicht war er auch ein Freund von Nilia, oder ein Offizier der von Nilia gefördert wurde.
„Haben Sie lange auf der Strasse gelebt?“ Nun war es Map, die das Schweigen brach. „Solange ich denken kann, Miss Map.“ Map lachte: „Oh, bitte nennen sie mich nicht Miss. Ich bin zu alt für diesen Ausdruck. Ich bin einfach nur Map.“ Kilven erwiderte ihr Lachen: „In Ordnung. Und ich bin einfach nur Kilven.“
„Einverstanden. – Hast du Familie Kilven?“
„Eine Schwester“, sagte er heiter. „Wirklich?“ Fragte Map erstaunt. „Ina. Sonst niemanden. Und du Map?“ Sie lachte: „Ich habe keine Familie. – Und bisher war mir auch nicht bekannt, dass Ina einen Bruder hat“, sie beäugte die beiden interessiert. „Hat sie. Und wir hätten noch Verwendung für eine Mutter“, Fügte er mit seiner charmanten Art hinzu. Map lachte laut, dass die Wachen zu ihnen herüber sahen: „Ist das etwa ein Angebot?“
„Ja. Ina hat immer in den besten Tönen von dir gesprochen. Wenn es biologisch nicht unmöglich wäre, würde ich glauben, dass ihr zwei Mutter und Tochter seid.“ Map presste ihre Lippen zusammen: „Ich wollte immer Kinder. Und wenn ich jemals eine Tochter gehabt hätte, wäre sie hoffentlich wie Ina gewesen“, ihre Stimme bekam einen merkwürdigen, melancholischen Klang. Ina sah zu Map auf, ihre Blicke trafen sich. „Dann nimmst du das Angebot an?“ Hackte Kilven nach. Map wechselte ihren Blick von Ina zu Kilven und wieder zurück: „Ihr beide meint das ernst?!“ Es war nicht wirklich eine Frage und keiner von ihnen antwortete. Ina wusste, dass es nichts gab, was sich Kilven sehnlicher wünschte als eine Familie. - Scheinbar war er gerade dabei sich eine zu basteln. Wobei sie sich etwas anderes vorstellen konnte, als seine Schwester zu sein. „Nun, dann habe ich jetzt wohl zwei Kinder.“ Kilven legte seine Hand auf Map’s Hand: „Willkommen in der Familie.“ Sie lächelte: „So werden Heute also Familien gegründet. – Und wer ist euer Vater? General Nilia?“ Kilven verzog seinen Mund: „Wir kommen ohne aus.“ Map wirkte damit sehr zufrieden: „Gut. Denn ich war einmal verheiratet, das reicht mir.“
Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück.
Das Gebäude das sie suchten befand sich direkt vor der Station. Es herrschte ein reger Andrang. Alle Rekruten von sämtlichen Rekrutenschulen dieses Teils von Seran waren dort um ihre neuen Uniformen zu holen und jeder der das Gebäude betreten wollte musste sich vorher autorisieren. In dem Gebäude gab es zwei Reihen. Links waren alle Frauen und rechts alle Männer. Sie standen vollkommen geordnet in einer geraden Linie. „Wir treffen uns vor dem Gebäude“, sagte Map zu Kilven bevor er sich eingliederte.
Die Schlange bewegte sich schnell vorwärts. Zuforderst standen zehn Schneider die bei jedem Rekruten Mass nahmen. Neben jedem Schneider stand sein Schüler der die Masse auf einem Zettel notierte. Es dauerte nicht länger als fünfzehn Minuten bis sie zuvorderst standen und Ina die Masse genommen wurden. Danach sagte der Schneider die abgehackten Worte: „Fahrstuhl fünf, Etage drei“, und schon kam die nächste Rekrutin an die Reihe.
Die verschiedenen Fahrstühle standen für die verschiedenen Grössen der Rekruten und die Etagen definierten die anderen Masse.
Fahrstuhl fünf, Etage drei. Dort waren die Uniformen die ihrer Grösse entsprachen. Zusammen mit Ina und Map betraten noch einige andere Rekrutinnen den Fahrstuhl. Er machte halt auf der ersten Etage, wo zwei davon wieder ausstiegen. Danach auf der dritten, wo nur sie und Map den Fahrstuhl verliessen. Kaum hatten sie die Etage betreten, wurden sie von einer jungen Frau in Empfang genommen, die sie zu einer Umkleidekabine führte. Dort nahm sie Ina den Zettel ab und bat sie einen Moment zu warten. Links und rechts von ihnen waren sämtliche Rekrutinnen daran, die Uniformen die ihnen laufend gebracht wurden anzuprobieren.
Nach zwei Minuten kam das Mädchen zurück. Ihre Arme waren mit Uniformen voll gepackt. Sie hängte sie an die Stange vor der Kabine und ging wieder. Es gab zahlreiche verschiedene Uniformen. Für Feiern, offizielle Anlässe, den normalen Dienst, den Bereitschaftsdienst, Missionen auf staubigen Planeten, Missionen auf feuchten Planeten, sportliche Aktivitäten, usw.
Ina ging in die Kabine und zog sich die erste Uniform an. Es war die für Feiern. Diese würde sie am Abend tragen. Die Uniform war von oben bis unten und von innen bis aussen blau, damit die Abschlussrekruten deutlich von den Soldaten und Offizieren herausstachen. Was für eine Verschwendung. Diese Uniform trug jeder Soldat nur ein einziges Mal in seiner gesamten Karriere. Das Hemd hatte einen breiten Kragen. Es wurde mit einer Art kleiner Häkchen, die sich unter der Überlappenden Naht versteckten, geschlossen. Das Jackett, das gerade mal bis zur Naht der Hosen reichte, hatte dasselbe Verschlusssystem. Die Hose war ziemlich eng. Erst vermutete Ina, dass es die falsche Grösse sein musste aber es war die richtige Grösse. Sie verliess die Kabine um sich im Spiegel anzusehen. Map’s Gesichtsausdruck sagte alles. Es waren keine weiteren Worte nötig. Ina stand vor dem Spiegel und knöpfte das Jackett zu, während Map ihr den Kragen richtete und den Rücken glatt strich. Danach griff sie mit beiden Händen um Ina’s loses Haar, drehte es ein par Mal und hielt es ihr an den Hinterkopf: „Du siehst aus wie -“, Map konnte es nicht beschreiben, sie fand keine passenden Worte.
„Schade, dass niemand hier ist der dich“, sie liess ihre Hände auf Ina’s Schultern gleiten und bestaunte sie im Spiegel. Ina hob ihre Hand und legte sie auf Map’s: „Du bist hier.“
„Deine Eltern wären Stolz auf dich.“ Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Stolz? Dass ihre Tochter für das seranische Militär arbeitet? Ich denke nicht.“ Map schwieg kurz: „Dass du die Rekrutenschule beendet hast. Ich wäre es. – Ich bin es.“ Ina drehte sich um, küsste Map auf die Wange und flüsterte: „Das reicht mir“, danach ging sie zurück in die Kabine um die restlichen Uniformen anzuprobieren. Jede Uniform wurde von Map’s kritischen Augen genau geprüft. Länge der Ärmel, breite der Schultern, Länge der Hosen usw.
„Wieso hast du heute Morgen geweint?“ Ina wusste, dass Map diese Frage früher oder später stellen würde, aber sie hoffte, dass es später sein würde. „Hat er dich gekränkt?“ Ina kam aus der Kabine und Map richtete wieder den Kragen der Jacke, während Ina die Knöpfe der Ärmel schloss. „Nein.“ Map nickte. Der Anstand untersagte es ihr, weiter nachzufragen. „Kilven würde nichts tun das mich kränken könnte.“ Erneut zog Map ihr die Haare zurück und betrachtete sie im Spiegel: „Sitzt gut. Du kannst die nächste anprobieren.“ Ina ging wieder in die Kabine und streifte sich das nächste Model über, ging hinaus und stellte sich erneut Map’s Blick. „Er gab mir ein versprechen, das mir sehr viel bedeutet.“ Map fragte skeptisch: „Bedeutet es ihm auch viel?“ Ina schloss den letzten Knopf: „Kilven hält sein Wort.“ Map strich ihr über den Rücken: „Dann ist es ja gut. – Die nächste.“ Und wieder verschwand Ina in der Kabine und wechselte die Kleidung. „Was hältst du von ihm?“ Map stellte sich auf ihre rechte Seite und prüfte die Länge des Ärmels: „Bisher scheint er ein netter, anständiger, aufgestellter junger Mann zu sein. Bis jetzt mag ich ihn.“
Es dauerte tatsächlich zwei Stunden, bis sie jede Uniform anprobiert hatte, und Stücke die nicht passten ausgewechselt waren. Am Ende musste sie nur noch die Entscheidung treffen, wie viele Exemplare sie von jeder Uniform haben wollte. Da die Regierung und somit auch das Militär überall Kosten einsparte, musste jeder Soldat seine Uniformen selber berappen. Ina unterhielt sich mit Map darüber, wie viele sie benötigen würde.
„Es gibt auch gebrauchte Uniformen. Diese bekommen sie zur Hälfte des Preises.“ Sie sahen das junge Mädchen an, das ihnen diese Information gab. „Danke. Aber das ist nicht nötig.“ Das Mädchen lächelte und blieb an Ort und Stelle stehen. Sie war nur für Ina zuständig und wartete geduldig auf ihre Bestellung. Ina nahm dem halben Kind den Zettel ab und notierte die Anzahl der jeweiligen Uniformen die sie haben wollte. Map sah Ina mit grossen Augen an, als sie die Mengen auf dem Zettel sah. „So viele Ina?“ Sie nickte nur. „Aber die Hälfte würde doch sicher auch ausreichen?“ Natürlich hatte Map mit diesem Einwand Recht. „Das würde es. Aber ich habe nicht vor ihn zu schonen. Die Kosten für meine Ausbildung haben sich für ihn gelohnt, dann wird er bei meinen Uniformen nicht sparen wollen. Oder?“ Map senkte ihren Kopf: „Er wird einen Wutausbruch haben. Willst du das?“ Nilia hatte sie und Kilven auf diese Rekrutenschule geschickt. Sollte er sie auch angemessen mit Uniformen ausstatten. „Vielleicht.“
Langsam gingen sie zu dem Tresen, an dem die Uniformen eingepackt wurden. „Ich benötige ihre Karte.“ Im Gegenzug wurde ihr ein kleines Gerät zugeschoben das ihren Handabdruck scannte. Map geriet leicht ins Schwanken, als sie den Betrag sah, der abgebucht wurde. „Wollen sie warten, bis wir alle Uniformen eingepackt haben? Wir können sie ihnen auch zustellen.“ Wie praktisch. „Zustellen“, Ina hatte nicht vor, unzählige Packete zu tragen. „Sehr gerne. Sie werden in etwa drei Stunden abgeliefert.“
Auf dem grossen Platz vor dem Gebäude hielten sie Ausschau nach Kilven und den Wachen die sie begleitet hatten. Es war schwer sie unter all den wartenden Leuten auszumachen. Schliesslich deutete Map mit ihrem Kopf auf die Mitte des Platzes und ging los. Kilven stand wie ein richtiger Soldat da. Er strahlte eine solche Selbstsicherheit aus, dass man glauben konnte, er wäre nie etwas anderes als ein Soldat gewesen. Er trug bereits eine neue Uniform, die ihm weitaus besser stand, als die abgetragene Rekrutenkleidung. Als er die beiden kommen sah, stellte er sich in Pose, damit sie ihn bestaunen konnten. Er genoss seinen neuen Aufzug rundum. „Wo sind deine Uniformen?“
„Werden geliefert. Und deine?“ Er sah neben sich auf den Boden. Dort stand ein Packet. „Nur das?“ Fragte Ina skeptisch. „Ich habe alles was ich brauche“. er hob sein Packet hoch und sie machten sich quer über den Platz auf den Weg zu der U-Bahn. „Seid ihr hungrig?“ Wollte Map wissen. Kilven schien erst jetzt zu bemerken, dass er in der Tat hungrig war. „Wir werden in der Stadt etwas essen.“ Map schien Ina's Antwort nicht sonderlich zu zusagen: „Wann werdet ihr Zuhause sein?“
„Gegen Abend“, oder noch später, sprach sie jedoch nicht aus. „Dann werde ich Brajram bescheid geben, dass er euch etwas kocht“, Map strich ihr Kleid glatt und blickte auf den Boden vor ihren Füssen. Bei der U-Bahn nahm Map Kilven das Packet ab und verabschiedete sich von ihm. Sie warteten noch, bis Map und einer der Wachen die Schranken passiert hatten und gingen danach in Richtung Stadt, gefolgt von dem anderen Wachposten. „Und was nun?“ Fragte Kilven mit erwartungsvollem Ton. „Worauf hast du Lust?“
„Ich weiss nicht. Was tut man denn in der Stadt, wenn man kein Bettler ist?“
„Uns wird schon was einfallen.“
„Ich weiss nicht was ich hier essen soll“, die Karte in seinen Händen hatte er schon mehr als einmal komplett durchgelesen. „Was du willst“, Ina hatte sich längst für ein Gericht entschieden. Tat aber so, als ob sie auch noch suchen würde, um ihn nicht unnötig unter Druck zu setzen. „Das ist ja das Problem. Ich weiss nicht was ich will, weil ich das alles nicht kenne“, Kilven's Flüstern hatte etwas zerreissendes an sich. Ina formte ein überraschtes: „Oh“, mit ihrem Mund. Es reichte kaum über den kleinen Tisch zu seinen Ohren. „Wollen wir nicht auf den Markt gehen und dort etwas essen?“ Er klang ein wenig verzweifelt. Ina begriff seine Frage. Er fühlte sich unwohl. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie in einem Restaurant gegessen. Und jetzt, noch dazu in einem für die bessere Gesellschaft. Er fühlte sich deplaziert. Obwohl er in das Bild passte. In seiner neuen Uniform erkannte man keineswegs, dass er von der Strasse kam. „Nein. Früher oder später musst du deine Tischmanieren unter Beweis stellen. Übe sie lieber jetzt“, war Ina's unbarmherzige Antwort auf sein Verlangen. Der Seraner der sie bediente war seit Jahren dort angestellt und erinnerte sich noch an Ina. Sein Auftreten war dementsprechend offen und entgegenkommend.
„Es ist schön sie nach so langer Zeit wieder zu sehen Miss Ina.“
Sie lachte ihm herzlich entgegen: „Dasselbe gilt für sie.“
„Herzlichen Dank. Darf ich ihre Bestellung aufnehmen?“ Sie orderte die Empfehlung und zwei Gläser Talila.
„Und für sie Sir?“
„Dasselbe“, kurz und ohne zu wissen was es überhaupt war. Doch Kilven vertraute ihr scheinbar bei dieser Angelegenheit. Ihr Kellner nickte und ging in die Küche. Kilven neigte sich halb über den Tisch: „Woher kennt er dich?“
„Ich war früher oft hier“, sie blieb zurück gelehnt und sah sich interessiert unter den Anwesenden um. „Mit Neven?“ Diese Frage war noch leiser gestellt, als ob sie eine Intrige schmieden würden. Beschäftige es ihn so sehr? Vielleicht hätte sie sich doch für ein anderes Lokal entscheiden sollen. Aber sie antwortete mit einem kurzen: „Ja.“ Er schwieg einige Sekunden, lehnte sich dann erneut vor und fragte mit flüsternder Stimme: „Weißt du schon, wo du mit der Suche anfängst?“ Ina zog ihre Augenbrauen zusammen: „Ich werde ihn nicht suchen.“ Kilven lehnte sich mit geöffnetem Mund zurück und suchte nach etwas in ihrem Gesicht. „Aber ich dachte du willst zu ihm?“ Bohrte er nach einigen Sekunden nach. „Ja. Aber das seranische Militär hat ihn Monatelang gesucht und nicht gefunden. Ich habe weder die Zeit noch die Mittel die dem Militär zur Verfügung standen. – Ich würde ihn nie finden. Wenn die Zeit da ist, wird er mit mir Kontakt aufnehmen“, sie sprach in normaler Lautstärke, als ob sie sich über das Wetter unterhalten würden. Wenn sie eines gelernt hatte, dann dass man die Aufmerksamkeit auf sich zog wenn man flüsterte. Kilven hatte das noch nicht erkannt und flüsterte nach wie vor: „Dann wirst du einfach warten?“ Ina klopfte mit ihren Fingern auf der Tischplatte: „Ich warte seit vier Jahren.“ Er nickte nachdenklich. „Und was glaubst du, wie lange es noch dauern wird?“ Vielleicht noch einmal vier Jahre. Vielleicht nur noch einige Monate. Woher sollte sie das auch wissen? „Ich weiss es nicht“, aber sie hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Bisher gab es keine Gelegenheit, dass Neven mit ihr hätte Kontakt aufnehmen können. Doch nun, da sie nicht mehr auf der Rekrutenschule war und bald ihren Dienst antreten würde, würde Neven mit Sicherheit eine Möglichkeit finden. „Und was willst du bis dahin tun?“
Ihr Gespräch wurde durch den Kellner unterbrochen: „Zwei Mal die Empfehlung für das junge Paar.“ Kilven lehnte sich zurück, sodass die Teller serviert werden konnten. „Und? Was wirst du bis dahin tun?“ Fragte er erneut, da sie ihm nicht geantwortet hatte. „Nicht auffallen und Nilia keinen Grund geben mir zu Misstrauen“, wenn Ina Glück hatte, würde Nilia sie auf ein Schiff schicken das irgendwo an den Grenzen patrouillierte. „Nicht auffallen?! Das dürfte unmöglich sein.“ Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Du fällst auf, sobald du einen Raum betrittst. – Und ausserdem, alle Seraner versuchen irgendwie aufzufallen, sich von der Masse abzuheben. Du hast alles was sich eine vernünftige Seranerin wünscht und willst unauffällig sein? Sag das bloss niemandem. Man würde dich für verrückt erklären“, er schnitt sich ein grosses Stück Fleisch ab und schob es in den Mund. Ina war neugierig was er meinte: „Was habe ich denn, was sich jede Seranerin wünscht? - Ausser meiner blassen Haut und meinem zierlichen Erscheinungsbild?“ Dieses zierliche Erscheinungsbild wurde ihr auf der Rekrutenschule von beinahe jedem Ausbilder vorgehalten und als Grund genannt wenn sie einen Kampf verlor oder in irgendeiner Übung nicht gut genug abschloss. Er legte seinen Kopf etwas zur Seite, kniff die Augen leicht zusammen und stellte fest: „ Du weißt es wirklich nicht, oder?“
„Was?“ Dabei nahm sie ihre Gabel zur Hand und drehte ein Stück Gemüse um. „Es ist dein Aussehen“, erwiderte er kurz. Ihr Aussehen? Also ihr zierliches Erscheinungsbild. Ina zog eine Augenbraue hoch.
„Dein Aussehen, deine grünen Augen, deine Bewegungen, dein Verhalten, deine Art zu sprechen, einfach alles an dir. – Mir ist noch kein Seraner begegnet der dich nicht anziehend findet.“ Sie schüttelte ihren Kopf: „Sie finden mich anziehend weil Nilia mein Gönner ist.“ Genau so würde auch Kilven in Zukunft für jede Seranerin anziehend sein. Nun schüttelte Kilven den Kopf: „Nein. Natürlich ist das ein weiterer Punkt der für dich spricht. Aber du hast eine bezaubernde Art an dir. Du könntest jeden um den Finger wickeln wenn du wolltest. Und zusammen mit deiner Ausbildung. – Du könntest es weit bringen.“ Er irrte sich. Sie war zur Hälfte eine Tuma. Niemand der halbwegs bei Verstand war, würde eine Tuma fördern. „Deshalb verstehe ich auch nicht, weshalb du Seran verlassen willst. Was willst du tun?“ Ina nahm einen Schluck Wasser und überlegte dabei was sie auf seine Frage Antworten sollte. Denn sie wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung was sie tun wollte, wenn sie Seran jemals verlassen könnte. „Ich weiss es nicht. Aber irgendetwas wird sich schon ergeben“, sie zerteilte das Fleisch in kleine Stücke. „Genau! Irgendetwas!“ Ina sah ihn erstaunt an. Diesen Ton war sie sich von ihm nicht gewöhnt. Kilven zermatschte das Gemüse in seinem Teller und fuhr fort: „Ina, ich sage dir das als Freund, als Bruder. Ich habe mir viele Gedanken gemacht. Ich möchte nicht, dass du gehst. Aber abgesehen davon solltest du darüber nachdenken was du tun willst, wenn es soweit ist. Wovon du Leben willst. – Willst du Händlerin werden? Von der Hand in den Mund leben? Oder zu deinem Volk gehen?“ Sie holte Luft um ihm eine Antwort darauf zu geben, aber er hob seine Hand, winkte ab und sprach weiter: „Sie würden dich kaum mit offenen Armen empfangen. Eine Halb-Tuma, die den grössten Teil ihres Lebens auf Seran verbracht hat. Im besten Fall würden sie dich dahin zurück schicken wo du hergekommen bist. Also hierher! – Um Seran zu verlassen und zu überleben brauchst du einen besseren Plan als: irgendetwas wird sich schon ergeben. Und wieso willst du Seran überhaupt verlassen?! Du hattest diesen Wunsch nicht als du bei Neven gelebt hast. Oder? Du willst es erst seit vier Jahren! Weißt du weshalb?! – Weil du seit dem keine Entscheidungen mehr treffen konntest. Aber jetzt kannst du wieder entscheiden“, er schob sich eine Gabel voll Gemüse in den Mund, kaute genüsslich darauf herum und sprach mit halb vollem Mund weiter: „Sicher, Nilia hat entschieden, dass du dem Militär Dienst zu leisten hast. Aber es ist deine Entscheidung wie du diesen Dienst leistest!“ Er machte eine kurze Pause, nahm einen Schluck Wasser und fuhr dann fort: „Hier weißt du, was du hast. Hier hast du gute Chancen, bessere als sonst irgendwo. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst. Und wenn du das getan hast, und Seran immer noch verlassen willst, dann werde ich dich dabei unterstützen. – Aber ob du willst oder nicht, du wirst noch einige Jahre hier sein. Nütze diese Zeit. Versuch nicht unauffällig zu sein. Mach etwas aus deinen Möglichkeiten, nütze Nilia’s Gunst und deine Talente. Verschwende nicht die nächsten Jahre deines Lebens.“ Ina schüttelte ihren Kopf. - Schon der Gedanke daran, in den Militärdienst einzutreten war ihr zuwider. „Wenn du es nicht für dich selbst tun willst, dann tu es für mich und für Neven. Ich möchte nicht, dass du eines Morgens aufwachst und bereust nichts aus deinen Chancen gemacht zu haben. Und er möchte das mit Sicherheit auch nicht.“ Dass er Neven ins Spiel brachte war hinterhältig. Kilven konnte nicht wissen was Neven wollte. Er liess seinen Blick einen Moment auf ihrem Gesicht ruhen, als keine Reaktion von ihr kam, nahm er einen Schluck Wasser und ass weiter.
Ina beobachtete ihn, wusste nicht was sie sagen sollte. Er brachte Dinge vor, über die sie vorher noch nie nachgedacht hatte und die sie teils sehr trafen. Kilven hatte sich sehr viele Gedanken über sie gemacht. – Irgendwie überraschte es Ina. Mit dem was er sagte, hatte er nicht gänzlich Unrecht. „Was würdest du tun wenn du an meiner Stelle wärst?“ Fragte sie schliesslich nach langem. Kilven hob seinen Blick: „Weiss ich nicht. – Eine Halb-Tuma auf Seran, eine schöne Kindheit bei einem Seraner der zu einem Verräter wurde, danach ein Leben in einem schönen Haus, das für dich mehr Gefängnis als sonst etwas war und wohl noch immer ist. – Niemand kann dir sagen, was er an deiner Stelle tun würde. – Ich habe es einfacher. Ein Junge von der Strasse. Das alles ist das Beste was mir je passiert ist. Ich weiss nicht ob ich den Rest meines Lebens dem Militär geben will. Aber bis ich es weiss, werde ich alles daran setzen es zu was zu bringen.“ Ina biss sich auf die Lippen. „Die einzige Frage, die du dir selbst beantworten musst, ist ob du woanders glücklicher werden kannst als du es hier sein könntest.“ Als sie hier seien könnte? Hier? „Was glaubst du?“
„Ich glaube, du könntest hier ein schönes Leben haben. Und wenn du aufhören würdest Nilia zu hassen, dann würdest du gut mit ihm klar kommen“, er war unbarmherzig ehrlich. Zumindest ehrlich aus seinem Standpunkt. „Ich hasse Nilia nicht“, wirkte Ina verteidigend ein. „Dann verachtest du ihn eben nur“, Kilven's Antwort liess keine einzige Sekunde auf sich warten.
„Darf ich ihnen noch etwas bringen?“ Ina winkte dem Kellner schnell ab. „Wieso verachtest du ihn?“ Kilven hatte erkannt, dass er einen Punkt getroffen hatte. Ihre Augen trafen einander. „Weil er mir mein Leben genommen hat!“ Kilven legte seine Gabel hin: „Nein. - Er hat dir dein Leben nicht genommen. Die Sklavenhändler die den Transporter überfallen und deine Eltern getötet haben, haben es dir genommen und Neven hat es dir ein zweites Mal genommen, als er ohne dich gegangen ist. Nilia hat dir eine Chance gegeben. Zwar mit Einschränkungen die du dir nicht gewohnt warst. Aber ein Leben. Hättest du lieber auf der Strasse gelebt?!“ Er betrachtete sie kurz: „Ich glaube, du bist in Wirklichkeit wütend weil Neven dich zurückgelassen hat.“ Ina legte ihr Besteck in den Teller. Sie hatte keinen Appetit mehr und wollte auch nicht weiter mit Kilven über dieses Thema sprechen. Er wusste nicht wie es war. Was alles geschehen war. Und scheinbar hatte er eine weitaus höhere Meinung von Nilia als sie selbst. Kilven ass genüsslich weiter. „Sprichst du nicht mehr mit mir?“ Ina drehte ihr Glas in den Händen: „Ich denke nach.“ Er neigte seinen Kopf: „Kann ich dir behilflich sein?“ Sie schob das Glas weiter in den Tisch hinein: „Nein. Für heute hast du mir genug an den Kopf geworfen.“ Er richtete seinen Oberkörper auf: „Wenn du eine Frage hast, du weißt wo du die Antwort bekommst.“ Nicht bei ihm! Kilven schien es in ihrem Gesicht zu lesen: „Ina, ich...“ Sie hob ihre Hand: „Ich will nichts mehr hören.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte seine Arme. „Es war nicht meine Absicht dich zu verletzen“, seine Augen untermauerten diese Aussage. „Ich weiss. Und doch hast Du es getan“, dabei löste sie sich von seinem Blick, der sie beinahe zerriss. „Du kannst alles was ich dir gesagt habe ignorieren wenn du willst. – Ich wollte nur, dass du einmal einen anderen Blickwinkel hörst“, dabei legte er seine Hand auf ihre, die neben ihrem Glas lag. „Ich habe nicht vor, deine Meinung und Ansicht zu ignorieren. Vielleicht werde ich darüber nachdenken.“
Sie verbrachten noch einen stillen Nachmittag zusammen, ehe sie zurückkehrten. Im Eingangsbereich begegneten sie Map. „Ihr seid spät“, es klang beinahe wie ein Vorwurf. „Das ist meine Schuld, ich schwelgte in Erinnerungen und konnte mich fast nicht von der Strasse trennen“, bei dieser Aussage von Kilven lächelte Map wieder. Sie gingen in die Küche, weil Ina nicht daran Interessiert war, in dem Speisesaal zu essen. Wie so oft auf der Rekrutenschule, assen sie im stehen. „Deine Uniformen wurden geliefert. Sie sind in deinem Zimmer.“ Kilven stand dicht neben Ina und gab ihr einen kleinen Schubs. „Danke Map“, brachte sie mit halb vollem Mund heraus. „General Nilia erwartet euch in zwei Stunden vor Ort. Ihr solltet nicht zu spät kommen.“
„Wir treffen uns in fünfundvierzig Minuten beim Eingang.“ Sie ging hoch in ihr Zimmer. Dort standen drei Kisten voll gepackt mit Uniformen. Die Uniform die sie benötigte hatte Map bereits auf dem Bett zurechtgelegt. Das Jackett zog sie noch nicht an, sie wollte sich erst frisieren. Als sie vor dem Spiegel sass und versuchte ihre Haare irgendwie zusammenzustecken trat Map in das Zimmer. Sie nahm ihr die Haarklammern aus den Händen und fing an ihre Haare nach hinten zu ziehen. Es dauerte kaum zwei Minuten bis sie fertig war. Danach half sie ihr das Jackett anzuziehen. „Es hatten nicht alle Uniformen im Schrank Platz“, meldete sich Map gleichgültig zu Wort. Ina war erstaunt, dass das nicht alle Uniformen waren. „Ich werde die restlichen morgen wegräumen.“
„Und wohin?“ Wollte Ina wissen.
„Wahrscheinlich in eines der Gästezimmer. – Wenn die blauen Flecken an deinem Hals nicht wären, würdest du perfekt aussehen.“ Ina streckte den Kopf nach oben und betrachtete ihren Hals. Es sah furchtbar aus. „Was bedrückt dich?“ Ina sah zu ihr. Sie wunderte sich darüber, dass Map das erkannte. „Ist es so offensichtlich?“ Map richtete den Kragen: „Nein. Aber ich kenne dich gut genug um es zu sehen. Willst du darüber sprechen?“ Ina setzte sich auf das Bett: „Ich bin mir nicht sicher.“
„Ich werde da sein, wenn du darüber sprechen möchtest.“ Map stand da und wartete auf eine Reaktion von Ina, die ihr zeigte ob sie gehen oder bleiben sollte. „Glaubst du, ich bin daran schuld, dass es mir hier nicht gefällt?“ Map senkte ihren Blick. Es schien, als wüsste sie die Antwort darauf, sie aber nicht aussprechen wollte. Schliesslich setzte sie sich neben Ina. „Glaubst du, ich bin undankbar?“ Ina sah wie ein hilfloses, verzweifeltes Kind zu Map hoch, deren Kopf etwas weiter oben als ihr eigener war. Map atmete tief durch: „Ich glaube, wir alle sind selbst für unser Glück verantwortlich. Wir müssen unseren Beitrag leisten. Ohne den können wir nicht erwarten glücklich oder zufrieden zu sein. – Ich glaube, dir hat es hier nie gefallen, weil du dich mit den Veränderungen die dir das Leben hier beschert hat, nicht abgefunden hast“, Map sprach langsam, formulierte ihre Antwort sehr vorsichtig: „Aber du warst noch ein Kind. Zu jung um das alles einfach so zu verkraften. Man hat zu viel von dir erwartet. Und was geschehen ist bevor General Nilia dich hergebracht hat -“ Sie verstummte einen Moment: „Es sind nun drei – nein schon vier Jahre vergangen. Deine ganze Situation hat sich verändert und du bist älter und reifer geworden. General Nilia trägt dir dein Verhalten von früher nicht nach. Du kannst es jetzt besser machen.“ Ina wirkte abwesend, aber sie hörte aufmerksam zu. „Du bist nicht undankbar. Ich glaube, du weißt genau was du General Nilia zu verdanken hast. Aber du hast dich bisher nicht sehr dankbar gezeigt.“ Beide sahen auf den Boden und schwiegen. In ihren Worten hatte Map dasselbe gesagt wie Kilven. Und je länger Ina darüber nachdachte, umso mehr musste sie dem zustimmen. Sie könnte hier glücklicher sein als sie es war. Es lag an ihr! „Du glaubst, dass es noch nicht zu spät ist?“ Map lächelte auf sie herab: „Es ist nie zu spät etwas zu ändern.“ Ina nickte nachdenklich bis Map ihren Arm um Ina’s Schulter legte und sie zu sich heran zog: „Du hattest es nie einfach. Aber du hast dich immer gut geschlagen. Niemand erwartet, dass du perfekt bist. Aber es wird erwartet, dass du dazu lernst“, sie gab ihr einen Kuss auf die Wange und legte ihre Hand auf Ina’s Kopf: „Du solltest gehen. Kilven wartet bestimmt schon auf dich.“