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Kapitel 5

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Ina erwachte bevor die Sonne aufging. Die Monde waren untergegangen. Es war sehr früh, das Personal würde erst in ein oder zwei Stunden mit seiner Arbeit beginnen. Aber sie konnte nicht mehr schlafen. Zog sich eine Trainingsuniform an und band sich ihre Haare zusammen. Ein Lauf würde ihr jetzt gut tun. Beim Ausgangstor versperrten ihr die beiden Wachposten den Weg. „Wohin wollen sie?“ Fragte der ältere der beiden mit strenger Stimme. Diese Frage löste in Ina einen leichten Hauch von Aggression aus. Sie musste sich vor zwei Wachposten erklären! „Laufen“, antwortete sie ihnen kurz. Die beiden wechselten einen Blick. „Das geht nicht“, erklärte ihr derselbe. „Wieso?!“

„Sie dürfen das Areal nicht ohne Begleitung verlassen“, entgegnete er ihr. „Dann begleiten sie mich doch!“

„Das geht nicht“, seine Stimme war nicht mehr so streng wie zuvor, weil er ihre Wut bemerkte. „Wieso?!“

„Wir bewachen das Tor Miss.“ Zwei Wachen für ein Tor durch das sich ohnehin kein halbwegs vernünftiger Krimineller wagen würde. „Was hält sie davon ab, einen anderen Wachposten zu rufen, der mich begleitet?!“

„Die anderen Wachen eskortieren das Personal Miss. – Aber in einer Stunde…“

„Ich will jetzt laufen! Nicht in einer Stunde!“ Sie war wütend, die Wachposten verunsichert. Aber sie konnten ihr nicht weiterhelfen. Und es war nicht deren Schuld. Sie erfüllten ihre Pflicht. Es lag an Nilia. Ina dachte nach. Sie hätte einfach an ihnen vorbei gehen können. Aber damit hätte sie Nilia’s Vertrauen nicht gefördert. Also drehte sie um. Das Areal war gross. Sie konnte der Mauer entlang laufen, um das Haus herum. Keine herausfordernde Strecke aber immerhin eine Strecke.

Ina lief rechts am Haus entlang, kam zu der Rasenfläche die ziemlich lang war, bog links ab und passierte die Mauer vor dem Hügel die ebenso lang war, ging wieder nach links und passierte den Trainingsplatz, dann das Haus, danach die Fläche mit den Statuen, bog wieder nach links ab und passierte das Eingangstor mit den Wachen die ihren Blickkontakt mieden, ihr aber zweifellos hinterher sahen. Für diese Strecke benötigte sie ca. zwei Minuten. Die Route war keineswegs interessant und schon gar nicht abwechslungsreich. – Aber sie konnte laufen. Konnte ihre Aggression abbauen. Ina zählte die Runden die sie machte nicht. Irgendwann änderte sie die Richtung, als sie das Gefühl hatte, dass ihr schwindlig werden würde, wenn sie noch einmal nach links abbiegen musste. Einige Bedienstete wurden einer Visitation unterzogen, als Ina das Tor zum xten Mal passierte. Einige Runden später begegnete sie Map. Als sie nach dieser Runde wieder zum Trainingsplatz gelangte, stand Nilia mit zwei Stäben dort. Beim Vorbeilaufen warf er ihr einen Stab zu. Sie fing ihn und beendete ihren Lauf auf dem Platz. Stützte sich auf dem Stab ab und versuchte zur Ruhe zu kommen. Schweissperlen liefen über ihr Gesicht und sie war ausser Atem. „Wie viele Runden?“ Ina schüttelte ihren Kopf: „Nicht gezählt Sir“, sie schluckte schwer, ihre Kehle war trocken. „Wie lange?“ Und wieder schüttelte sie ihren Kopf: „Vor Sonnenaufgang.“

Nilia sah zu dem Hügel, bei dem die Sonne erschien. Sie war bereits vollkommen erschienen. Ina ging in Position. Beide gingen einmal im Kreis ehe Nilia angriff. Ihre Stäbe trafen sich in der Mitte, er lenkte sie mit einem weiteren Stabmanöver ab und schlug dann mit seinem Bein zu, sodass sie auf dem Bauch landete. „Sebiha hat Interesse an dir.“ Ina stand auf: „Interesse Sir?“ Interesse welcher Art? Er hatte wohl kaum dasselbe Interesse an ihr wie Kadir. „Er will dich in seinen Dienst stellen.“ Ina glaubte nicht richtig gehört zu haben. Nilia griff an, sie blockte ab, es gab eine Folge von Zusammenstössen der Stäbe, ohne einen Körpertreffer. Er unterbrach seinen Angriff und nickte anerkennend. „Er meint du hättest Potential.“

„Was für Potential?“ Bei Quendresa! Was bitte sah Sebiha in ihr? Nilia lachte: „Vollkommen egal. Solange es dich weiterbringt. – Er denkt es wäre im Militär verschwendet und bietet dir einen Posten.“ Sie gingen langsam im Kreis. „Aber sie haben andere Pläne mit mir?“ Nur, weshalb erzählte er ihr das dann überhaupt? „Ich hatte andere Pläne mit dir. In der Politik nützen mir deine Ohren mehr als auf einem Schiff.“ Er schwang seinen Stab und schlug zu. Ina wehrte ab und wieder gab es eine Reihe von Schlägen ohne Körpertreffer. Ihre Stäbe schlugen in der Mitte aufeinander und Nilia warf sie mit einem Tritt in ihren Bauch auf den Rücken. „Aber die Rekrutenschule Sir. Wofür habe ich die Rekrutenschule absolviert, wenn ich nicht in den Militärdienst eintrete?“ Nicht nur, dass diese drei Jahre verschwendet wären, sie hatte auch keine Ahnung was sie erwarten würde, wenn sie in Sebiha's Dienst treten würde. „Du wurdest reifer. Es war keine Verschwendung. Du hast dort kluge Freundschaften geschlossen.“ Damit spielte er Ilean’s und Saira’s gute Herkunft an. Ina stand mittlerweile wieder: „Sie wollen mich also in seinen Dienst stellen?“

„Natürlich.“ Erneut ging er langsam im Kreis um Ina herum. „Sir, ich hatte mich auf den Dienst beim Militär eingestellt“, sie brachte viel Mut auf, um ihm zu widersprechen. Nilia griff an: „Dann wirst du deine Einstellung ändern!“

„Die Politik, Sir. Was soll ich in der Politik?“

„Zuhören und es mir berichten!“ Ohne Treffer unterbrach er seinen Angriff. „Ich würde das Militär vorziehen Sir“, überhaupt würde sie alles vorziehen, als in Sebiha's Dienst zu treten. Nilia biss sich auf die Zähne. Ina sah die Wut in seinem Gesicht. Dabei hatte sie sich bemüht es vorsichtig auszudrücken. Sie wollte auf keinen Fall in Sebiha’s Dienst. Denn das bedeutete, dass sie auf Seran bleiben würde. In diesem Haus. Nilia schlug seinen Stab an ihren. Ihre Stäbe lagen aneinander, dass er direkt vor ihr stand und sie die Wut in seinen Augen erkennen konnte. Es war dieselbe wie früher. Es hatte keinen Zweck sich ihm widersetzen zu wollen. „Sir, ich wollte…“, ihre Worte wurden unterbrochen. Nilia’s Faustschlag in ihr Gesicht warf sie auf den Boden. Er schleuderte seinen Stab weg und kniete sich neben sie. Drückte dabei ein Knie auf ihren rechten Arm, packte sie am Kragen und riss sie mit einem Ruck hoch wobei er ihr fast die Schulter auskugelte. Ihren verzweifelten Schmerzschrei ignorierte er. Sie fasste mit ihrer anderen Hand an ihre Schulter. Nilia sprach nicht laut aber die Wut seiner Stimme war unermesslich: „Du wagst es?!“

„Nein Sir“, ihre Stimme war schmerzverzerrt. „Nein was?!“ Sein Gesicht war so dicht an ihrem, dass sie seine Schweissperlen riechen konnte. „Ich werde mich fügen“, das Sprechen fiel ihr schwer. Sie wollte vor Schmerzen schreien. Aber das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Er blickte in ihre Augen, dann zog er sie noch ein Stück höher. Ihr Arm, sie dachte er würde ihn ausreissen. „Wage es nie wieder mir zu widersprechen“, dann liess er sie fallen und stand auf, legte seinen Stab zu den anderen Waffen und marschierte ins Haus. Ina blieb auf dem Trainingsplatz liegen, konnte ihren Arm nicht mehr bewegen. Unter Schmerzen drehte sie sich auf den Bauch und kniete sich hin. Umklammerte ihre rechte Schulter, fasste dann an ihr linkes Auge, das Nilia’s Schlag erhielt. Es war nass. – Blut. An ihrem Stab kämpfte sie sich auf die Beine. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie wischte sie weg und umklammerte wieder ihre Schulter. „Guten Morgen“, Kilven legte seinen Arm um sie und lachte sie an, bis er ihr Gesicht sah. Bis er ihre Tränen, ihr Auge und das Blut sah und realisierte, dass sie Schmerzen hatte. Er erstarrte. Ina drückte den Stab an seinen Körper und lief auf das Haus zu. Erneut wischte sie die Tränen aus dem Gesicht und hielt danach wieder ihren Arm fest, der bei jedem Schritt schmerzte. Als sie Kilven's Schritte hinter sich hörte, hatte sie das Haus schon fast erreicht. „Ina!“ Er fasste sie an der linken Schulter, sie streifte seine Hand ab und ging weiter. „Warte!“ Nun packte er ihren Arm. „Sprich nicht mit mir! Fass mich nicht an! Und sieh mich nicht an!“ Dabei schüttelte sie seine Hand ab, dass er perplex dort stehen blieb. Ina ging so schnell sie konnte in ihr Zimmer und verriegelte die Tür. Setzte sich vor den Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie hatte das Blut in ihrem Gesicht verschmiert. Mit einem Tuch tupfte sie die Wunde ab. Es blutete stark und die Schmerzen! „Ina.“ Kilven stand vor der Tür. Aber sie wollte ihn nicht sehen. Nicht jetzt. „Ina, lass mich rein. – Bitte.“ Durch den Spiegel betrachtete sie die Tür. Nicht im Geringsten konnte sie in Versuchung kommen diese Tür jetzt zu öffnen. Auch nicht das geringste Interesse Kilven zu Antworten war vorhanden. Sie tauchte das Tuch in ein Glas Wasser und drückte es wieder auf die Wunde die noch blutete, stand auf und legte sich auf das Bett. „Ina“, Kilven stand immer noch vor der Tür. „Ina. – Ich werde warten. Du kannst dich nicht den ganzen Tag einsperren.“ Und ob sie konnte! Er hatte ja keine Ahnung wie oft sie das schon getan hatte! Geduldig lag sie auf ihrem Bett und wartete darauf, dass es endlich aufhörte zu bluten. Doch immer wenn sie das Tuch anhob, floss das Blut über ihre Schläfe. Kilven klopfte noch einige Male an ihre Tür, ehe es ganz Still wurde. Unter Schmerzen zog Ina das Hemd aus. Sie liess ihre Kleider auf den Boden fallen und betrachtete ihre Schulter im Spiegel, dabei bewegte sie sie vorsichtig. Es schien nur eine Zerrung zu sein. – Nur! Und nur mit grossem Zeitaufwand schaffte sie es sich anzukleiden. Vor dem Spiegel sah sie sich ihr Auge an, zog sich das Band aus den Haaren und strich sich einige Strähnen neben das Auge, sodass man die verhältnismässig kleine Platzwunde kaum wahrnahm. An der Tür lauschte sie. War Kilven noch da? Um diese Zeit wurde gefrühstückt und sie hörte ihn nicht. Ein tiefer Atemzug und Hoffung. Hoffentlich war er weg. Sie öffnete die Tür und wartete. Nichts tat sich. Also machte sie einen Schritt hinaus. Niemand war dort. So leise sie konnte ging sie durch das Haus zum Ausgang. Raus! Einfach nur weg! Ohne jemandem zu begegnen kam sie zum Ausgangstor. Dort wurde eine Eskorte abkommandiert und sie konnte weitergehen. Mit einer Eskorte! Nilia wusste also jederzeit wo sie war! Sie ging zu der U-Bahn, passierte die Schranke sodass einige Personen zwischen ihr und ihrem Wachposten waren, eilte die Treppe hinunter und erwischte gerade eine High-Speed-Bahn. Die Türen schlossen sich und Ina sah wie ihr Verfolger die Treppe hinunter rannte und nur noch an die Tür der Bahn schlagen konnte. Ihr ganzer Körper zuckte kurz, dann setzte sie sich hin und blieb einige Stationen in der Bahn sitzen. Ein Ziel hatte sie nicht. Einfach nur weg. Einfach nur alleine sein. Irgendwo stieg sie aus. Beeilte sich um in den Fahrstuhl zu gelangen, denn ihr Wachposten nahm mit Sicherheit die nächste Bahn, die dreissig Sekunden darauf folgte. Er brauchte also nur am Fenster zu stehen und sie zu suchen. Die Zeit reichte knapp aus. Die Tür des Fahrstuhls schloss sich gerade, als die nächste Bahn heranschwebte. Auf der Oberfläche angekommen, setzte sie sich auf die erste Bank die ihr begegnete und wartete. Liess die Zeit verstreichen und versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden in Sebiha’s Dienst zu treten. Weiterhin unter Nilia’s Dach zu leben, täglich seinem strengen Blick ausgesetzt zu sein und seiner Laune. Kilven lange Zeit nicht mehr zu sehen. Bisher hatte sie die leise Hoffnung gehabt auf demselben Schiff stationiert zu werden. Aber jetzt gab es keinen noch so kleinen Grund mehr, um noch Hoffnung zu haben. Die Zeit verstrich und Ina wusste nicht was sie damit anfangen sollte.

Jemand setzte sich neben sie obwohl zahlreiche andere Bänke frei gewesen wären. Doch Ina verschwendete keinen Gedanken daran. Sie hatte genug andere. Nach einer Weile hob sie ihren Blick vom Boden und liess ihn über ihre Umgebung schweifen. Er endete bei der Person rechts von ihr, bei Kadir! Sie verharrte kurz bei seinem Gesicht und sah dann in die andere Richtung. Er beobachtete seine Umgebung, hatte aber wahrgenommen, dass sie ihn endlich bemerkte. „Warten sie auf jemanden Miss Ina?“ Auch wenn es abwägig war, hatte sie dennoch gehofft, dass es ein Zufall war. Dass er sie nicht erkannt hatte. „Nein. – Ich geniesse die Aussicht“, eine lächerliche Aussage. Da sie einerseits damit beschäftigt war den Boden anzustarren und andererseits die Aussicht sich auf den Eingang der U-Bahn beschränkte. Kadir nickte, blieb neben ihr sitzen und beobachtete die Passanten. Er versuchte nicht ein Gespräch mit ihr anzufangen. Ihm war klar, dass sie kein Gespräch wollte. Die Zeit verstrich und abgesehen von ihrer Schulter, tat ihr jetzt auch noch der Rücken weh. Diese Bänke waren ungemütlich. Aber Kadir. Weshalb sass er neben ihr? Was tat er hier? Was wollte er? Nein, sie wusste was er wollte. Nur hatte sie jetzt wirklich keine Lust auf Gesellschaft. Schon gar nicht auf seine. Ina änderte ihre Sitzposition. Aber es half nicht. Alles tat weh. „Sie sehen hungrig aus und ich bin es mittlerweile auch. Kommen sie“, er stand auf und streckte ihr seinen Arm hin. Ina schüttelte ihren Kopf. Sollte er gehen. Sie wollte nicht. Früher oder später würde er eine Erklärung verlangen. „Sie müssen sich nicht mit mir unterhalten. Wir werden nur etwas essen. – Kein Gespräch“, er lächelte sie freundlich an: „Sie schulden mir noch ein Essen.“ Es hatte keinen Sinn, er würde nicht aufgeben. Wieso auch, wenn sie schon alleine war. Ina stand langsam auf und legte ihren Arm vorsichtig und mit Schmerzen unter seinen. Ein zufriedenes Lächeln erfüllte sein Gesicht. Langsam und schweigend gingen sie nebeneinander durch die Strassen. Ina nahm den Weg den sie zurücklegten nicht wahr, ihre Augen lagen auf dem Boden direkt vor ihren Füssen und ihre Gedanken – Ihre Gedanken waren weit weg. Sie gelangten zu einem Haus mit Wachposten, gingen hinein, eine Treppe hoch, durch zwei oder drei Räume und wieder eine Tür hinaus, einige Stufen hinunter, dort setzte er sie auf einen der gepolsterten Zweiersessel, die in einem offenen Kreis zueinander gestellt waren. „Sie werden nicht weglaufen oder?“ Er versuchte sie etwas aufzulockern. Aber das war Zwecklos. Als Antwort erübrigte Ina einen nichts sagenden, abwesenden Blick. Kadir ging zurück ins Haus. Von ihrem Stuhl aus hatte sie die Aussicht auf einen grossen Garten, grosse Rasenfläche, viele Bäume, Büsche, Sträucher. Die Sonne stand hoch am Himmel. Nachmittag, dachte sie beiläufig. Nach einigen Minuten kam ein Bediensteter und stellte Früchte, Wasser und Wein auf den Tisch hinter ihr. Für Wein war es etwas früh. Sie fragte sich, weshalb Kadir ein solches Haus hatte. Keine Kinder, keine Frau, hatte eigene Räume auf dem Areal der Rekrutenschule und wollte wieder in den Dienst auf ein Schiff zurückkehren. Es machte keinen Sinn. Ihre Ohren vernahmen seine Schritte. Er stellte etwas auf den Tisch. Schenkte ein Glas ein, setzte sich zu ihr, wodurch es relativ eng auf dem Sessel wurde. – Relativ. Je nachdem wie sehr man die Person mochte, mit der man dort sass. Schliesslich reichte er ihr das Glas unter einem kritischen Blick. Es war ein Glas für Wasser, das bis oben mit Wein gefüllt war. Ina nahm es mit ihrer linken Hand und roch daran: „Ist es nicht zu früh für Wein?“

„Nicht für sie“, dabei ging er zum Tisch und machte etwas. Ina nahm einen grossen Schluck und dachte nicht weiter darüber nach. Kadir setzte sich wieder zu ihr. Wieso? Es gab mehr als genug andere Sitzmöglichkeiten. Auf seine Annäherungsversuche hatte sie jetzt am wenigsten Lust. Nur wie konnte sie ihm das klar machen, ohne ihn dadurch zu beleidigen? Er drehte sich zu ihr und betrachtete ihr Gesicht, ihre Augen, ihr linkes Auge. – Er hatte es bemerkt. Sie senkte den Kopf und sah das Tuch und die Dose Salbe in seinen Händen. Obwohl sie angenommen oder besser gesagt gehofft hatte, dass es ihm nicht aufgefallen war. Ihre Haare lagen darüber und er war immer auf ihrer rechten Seite, sie hatte ständig darauf geachtet ihren Kopf nicht zu sehr in seine Richtung zu drehen. Aber es war ihm aufgefallen. Er rückte noch etwas näher zu ihr, was ihr Herz schneller schlagen liess. Was war nur mit ihr los? Sie sass verkrampft da und wünschte sich nichts mehr, als dass er so tun würde als ob nichts wäre. Schliesslich legte er seine Hand an ihr Knie und zog es in seine Richtung, dann fasste er an ihr Kinn um es hoch zu ziehen, was sie ihm verwehrte. „Ich werde sie nicht danach fragen Ina“, er wartete einige Sekunden, legte seine Hand danach wieder unter ihr Kinn und zog ihren Kopf in seine Richtung, stellte die Salbe auf ihr Bein und strich mit der rechten Hand ihre Haare aus dem Gesicht. Seine Stirn runzelte sich. Sanft zog er ihr Gesicht einwenig mehr zur Seite, nahm das Tuch ohne ihr Kinn loszulassen und tupfte es vorsichtig auf ihre Wunde. Sie zuckte zurück und verzog ihr Gesicht. Es brannte. – Desinfektionsmittel. Das hätte ihre Wunde schon viel früher benötigt, doch Ina war es zuwider, in die Küche hinunter zu gehen und sich Map zu stellen. Kadir hielt eine Sekunde inne und führte das Tuch vorsichtig auf ihr Gesicht. Sie biss sich auf die Lippe und drückte ihre Augen zusammen. Es war schmerzhaft. Nach einigen Sekunden liess er von der Wunde ab und betrachtete sie kritisch. Etwas schien ihm daran nicht zu gefallen. Er legte seine rechte Hand neben die Wunde und tastete mit seinem Daumen ringsherum. „Sie ist entzündet“, stellte er fest, seine Stimme hatte etwas Sanftmütiges an sich. Wieder ging er ins Haus. Ina nahm einen weiteren grossen Schluck Wein. Als Kadir zurückkam stellte er sich hinter sie. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf das kleine Möbelstück an der Wand hinter sich. Legte seine Hand an ihre Stirn und zog ihren Kopf nach hinten. In seiner linken Hand hatte er ein kleines Messer. Er griff mit seiner Hand unter ihr Kinn und zog ihren Kopf an seinen Bauch. „Bereit?“ Ina wusste was sie erwartete. Es war etwas in der Wunde, wahrscheinlich ein Sandkorn vom Trainingsplatz. Mit dem Messer würde er es hinausschaben. Es war eine schmerzhafte Prozedur, vor allem da die Wunde schon einige Stunden alt war, und sich daher bereits eine dünne Kruste gebildet hatte. „Nein“, ihr war klar, dass er es trotzdem tun würde. Er drehte ihren Kopf etwas zur Seite und festigte seinen Griff an ihrem Kinn, zog ihren Kopf fester gegen seinen Bauch, sodass sie ihn nicht wegziehen konnte. Dann setzte er die Spitze des Messers an und bohrte es in ihre Wunde. Ina umklammerte die Stuhllehne, ihr Körper zuckte aber Kadir hatte ihren Kopf fest im Griff. Sie wollte schreien aber brachte ihren Mund nicht auf. Mit der Ignoranz eines seranischen Offiziers bohrte er in der Wunde herum. Ina hatte das Gefühl er würde ihr das Fleisch vom Knochen schaben. Sie griff nach seiner Hand, die ihr Kinn fest im Griff hielt. Egal wie sehr sie es versuchte, es war unmöglich sich zu befreien. Endlich war es zu Ende. Er legte das Messer weg, drückte ein Tuch auf die Wunde und entliess sie erst nach einigen Sekunden aus seinem Griff. Sie beugte sich nach vorn und drückte das Tuch auf ihr Gesicht. Ihre Schulter – Sie hatte eine falsche Bewegung gemacht. Ihre Schulter brannte wieder wie Feuer auf der nackten Haut. Was tat mehr weh? Schulter oder Gesicht? Egal. Es waren einfach nur Schmerzen. Kadir hob die Salbe auf und kniete sich vor Ina, legte die Dose auf ihr Bein und zog ihr Gesicht zu sich. Legte seine andere Hand auf ihre, die das Tuch auf die Wunde drückte. Seine Finger waren warm oder ihre eiskalt. Was auch immer. Ein Schauer durchlief ihren Körper, als er ihre Hand umschloss und das Tuch ein wenig anhob aber sofort wieder auf die Wunde drückte, weil es noch blutete. Ihre Wunden hatten die schlechte Angewohnheit länger zu bluten als jene von Seranern. Er gab etwas Druck darauf und verharrte so. Verharrte fast so. Sein Körper drückte sich zwischen ihre Beine. Ina versuchte seinem Blick auszuweichen. Braune gütige Augen, die ihre zu fesseln schienen. Wieder hob er das Tuch leicht an, dann entfernte er es, nahm die Salbe und tauchte einen Finger hinein. Seinen Daumen legte er vorsichtig unter ihr Auge und tupfte die Salbe auf. Er stand auf und legte alles auf den Tisch hinter ihr. „Was ist mit ihrem Arm?“ Er war Aufmerksam, ihm entging nichts. „Nichts Sir.“

„Natürlich“, dabei neigte er sich über sie, legte seine Hand auf ihre Schulter: „Nichts?“ Dabei drückte er seinen Daumen gegen ihr Schulterblatt und zog ihre Schulter etwas zurück. Das reichte aus, dass ein stechender Schmerz durch sie fuhr. „Nur eine Zerrung“, ihre Stimme war vor Schmerz verzerrt. „Sicher?“ Es war eine skeptische Frage. Nichts vorwurfsvolles, eher besorgt. Wobei sie während ihrer Ausbildung unzählige ähnliche Verletzungen hatte und es ihn nie interessierte. „Ja Sir.“ Ina hätte sich andere, bessere Umstände vorstellen können um Kadir wieder zu begegnen. Aber so typisch für sie, dass es eine derartige Situation sein musste. Eine die sie sich ersparen wollte. Er führte seine Hände an ihre Schulter und tastete sie ab, drehte sich um und bediente sich einer weiteren Salbe, hob den Kragen ihres Hemdes an und ging mit seiner linken Hand darunter um die Salbe aufzutragen. Seine Hand fand einen diskreten Weg zu und über Ina’s Schulter und zurück. „Sonst noch etwas?“ Vorsichtshalber blieb er hinter ihr stehen. „Nein Sir.“

„Sicher?“ Ja, weshalb sollte er es jetzt glauben? Da sie schon alles andere vor ihm verbergen wollte. „Ja Sir“, antwortete sie ruhig. Dann reichte ihr Kadir das Glas und eine Frucht, setzte sich auf den Zweiersessel neben ihren. Vielleicht könnte er jetzt etwas länger sitzen bleiben. Ina drehte die Frucht in ihrer Hand und betrachtete den Rasen. „Denken sie nicht, dass es mich nicht interessieren würde, Miss Ina.“ Erst nach einigen Sekunden antwortete sie: „Danke, dass sie nicht danach fragen.“ Ihr war klar, dass er sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie zu diesen Verletzungen gekommen war. Ein Bediensteter räumte die Tücher und Salben weg. Später kam ein anderer der Ina’s Glas erst mit Wasser auffüllen wollte, dann aber zu der Flasche Wein ging als er den dunkelroten Bodensatz ihres Glases sah. Ina fühlte seine Verwunderung aber es stand ihm nicht zu seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Kadir gab ihm eine wikende Handbewegung, so dass er ihm die Flasche gab und wieder ihm Haus verschwand. Kadir erhob sich, setzte sich wieder zu ihr und füllte ihr Glas. Weshalb nur blieb er nicht auf dem anderen Sessel sitzen? Seine Augen lagen lange auf ihrer Hand haften: „Sie haben sich nicht verteidigt.“ Aufgrund ihres fragenden Blickes deutete er auf ihre Hände: „Sie sind immer gerötet, wenn sie gekämpft haben.“ Sie konnte ihre Überraschung, dass ihm etwas derart Nebensächliches an ihr aufgefallen war, kaum verbergen. „Keine Fragen Sir.“

„Das war keine Frage“, damit wandte er sich von ihr ab und richtete seinen Blick in den Garten hinaus. Er sagte ihr, dass sie nicht mit ihm sprechen müsste und er hielt sich daran. Sass neben ihr und führte hin und wieder sein Glas an seinen Mund. Ina hielt ihr Glas in der Hand und betrachtete ihr Gesicht das sich darin spiegelte. – Um die Platzwunde herum verfärbte sich ihre Haut blau-grün. Sie überlegte sich mit welcher Ausrede sie sich entfernen konnte. Aber ein Teil von ihr wollte bleiben. Ohnehin gab es für sie nichts wohin sie hätte gehen können. Trotzdem war es mehr als seltsam, dass sie hier zusammen mit Kadir sass und sie einander anschwiegen. „Wohin schickt er sie?“ Kadir flüsterte. Er, damit meinte er Nilia. Wollte er wissen, ob es eine Möglichkeit gab, sie wieder zu sehen, wenn sie ihren Dienst für das Militär leistete? Oder wusste er bereits, dass sie in Sebiha’s Dienst treten würde? – Eher nicht. Er würde nicht so plump danach fragen, wenn er es wüsste. Nach Sekunden des Schweigens drehte er sich zu ihr: „Entschuldigung. – Kein Gespräch.“ Ina biss sich auf die Lippe: „Ich muss mich entschuldigen. Ich bin unhöflich.“

„Bei der Feier machte ihnen das nichts aus“, dabei lächelte er zufrieden. „Das war etwas anderes.“ Langsam atmete er ein. Ja, er wusste, dass sie bereits nach so kurzer Zeit eine gänzlich andere Meinung von ihm hatte. Sie hatte es ihm am Tag davor deutlich genug gesagt. Vorsichtig strich er ihre Haare zurück, berührte dabei ihr Ohr was einen Schauer durch ihren Körper jagte. Seine Hand blieb an ihrem Hinterkopf liegen, ein sanfter Zug bewegte ihren Kopf einen Zentimeter in seine Richtung. Was tat er? Sie schluckte leer. Zu schnell für ihren Geschmack. Er ging viel zu schnell vor. Hielt ihren Augenkontakt, als er seinen Kopf zu ihrem bewegte und seine Lippen langsam ihre berührten. Seine andere Hand legte sich auf ihr Bein, glitt ihren Schenkel entlang hinauf. Ein fester Griff. – Was sollte sie tun? Ihn zurückweisen? – Nein. Ihre Arme um ihn legen? – Nein. Einfach nur starr verharren und nichts tun? – Auch falsch! Zögerlich legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Ihr Herz raste, sie konnte kaum noch atmen. Dann fühlte sie seine Zunge an ihren Lippen, die sich vorsichtig voran tastete und dann ihre berührte, was ihr restlos die Luft raubte. Er nahm seine Hand von ihrem Bein, umschloss ihre, führte sie an seinen Mund und küsste sie zärtlich. Ina’s Brustkorb hob und senkte sich unter ihren schweren Atemzügen. Kadir’s Augen forschten in ihrem Gesicht. Wonach suchte er? Fand er es? Bemerkte er, dass er sie überrumpelte? Dass sie dafür noch nicht bereit war? Konnte sie es ihm sagen, ohne ihn wieder zu beleidigen? Wieder bewegte er seinen Kopf zu ihrem, wieder küsste er sie. Dieses Mal fordernder, hielt dabei ihre Hand und ihren Kopf fest. Was konnte sie tun? Wie konnte sie ihn zurückweisen, dass es höflich blieb und er sich nicht gänzlich abgewiesen fühlte. Wie konnte sie ihm verständlich machen, dass sie dafür noch nicht bereit war? Dann drehte er seinen Kopf. Er hörte etwas. Ja, da kam jemand. Sofort liess er sie los und stand auf. Eine Sekunde danach kam ein kleines Mädchen von vielleicht zwölf Jahren um die Ecke des Hauses gerannt. Als es Ina erblickte blieb es stehen, sah zu Kadir und lief in seine Arme. Wer war dieses Mädchen? Kadir küsste ihre Stirn, lachte sie an und setzte sich mit ihr auf einen anderen Sessel. „Das ist Zefa. – Zefa, das ist Miss Ina.“ Dieses kleine Mädchen Namens Zefa beäugte Ina lange und sehr neugierig. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem Leben noch nie eine Tuma gesehen. Kurz darauf folgte eine Frau. Diese lächelte Ina freundlich und erwartungsvoll entgegen. Jetzt war Ina vollkommen verwirrt. Wer war das Kind und wer war diese Frau? Kadir war nicht verheiratet. Hatte er ihr zumindest gesagt. „Stellst du mich deinem Gast vor?“

„Miss Ina, das ist meine Schwester Dea.“ Ina zwang ein Lächeln auf die Lippen und nickte ihr freundlich zu. „Ich bin sehr erfreut ihre Bekanntschaft zu machen Miss Ina. Mein Mann hat mir schon viel über sie erzählt.“ Ihr Mann? Ina dachte nach, um wen es sich dabei handeln konnte. Aber Kadir hatte den Namen des Gatten seiner Schwester nicht erwähnt. Noch nicht einmal der Name seiner Schwester war ihr bis zu diesem Moment bekannt gewesen. Ihr Mann hatte ihr von Ina erzählt? Dann musste sie ihn kennen. Vielleicht einer der anderen Ausbilder der Rekrutenschule. „Er wird sich freuen, sie hier anzutreffen“ Dea's Lächeln war nach wie vor freundlich und offen: „Darf ich mich dazu setzen?“ Kadir machte eine Handbewegung die ihr deutete, dass er damit einverstanden war. Dea setzte sich Ina gegenüber hin. Ihre Tochter war noch in Kadir's Armen und nach wie vor von Ina's Anblick gefesselt. Endrlich brachte Ina es zu stande etwas zu sagen: „Madam, entschuldigen sie meine Frage aber wer ist ihr Mann?“ Dea wandte ihren Blick zu Kadir. Die Überraschung über diese scheinbar absurde Frage war deutlich zu erkennen: „Entschuldigen sie Miss Ina, ich nahm an, das wäre ihnen bekannt. – Sebiha ist mein Gemahl.“ Ina schluckte leer. Sie benötigte einige Sekunden um es zu realisieren. – Weg! Sie musste gehen! Durfte ihm nicht begegnen! Nicht jetzt! Sie stellte ihr Glas auf die Stuhllehne und stand auf um zu gehen. Aber Sebiha stand schon auf der Treppe und lachte sie an: „Was für eine Überraschung Miss Ina“, er ging auf sie zu und wollte ihr seine Hand reichen. Aber Ina regte sich nicht. „Ist etwas?“ Sebiha's Freude war noch ungetrübt. „Ich war gerade im Begriff zu gehen Sir“, ihre Stimme hatte nichts Höfliches. „Das ist mir aufgefallen“, er ging an ihr vorbei und setzte sich zu seiner Gattin: „Sprechen wir darüber Miss Ina.“

„Ich habe ihnen nichts zu sagen Sir.“ Seine Tochter ging zu ihm und stellte sich an seine Seite. Sebiha nickte: „Was habe ich gemacht, dass Ina Norak nichts mehr zu sagen hat?“ Ihre Halssehnen spannten sich an, ihr Herz raste, flache und kurze Atmung. – Ja, sie war wütend. „Sie kennen den Grund Sir.“

„Wirklich?“ Sebiha klang erstaunt aber er wusste worum es ging: „Setzen sie sich. – Sie sind ohnehin schon hier, mir begegnet und sie sprechen auch mit mir. Also bitte. Sagen sie mir worum es geht Miss Ina.“ Weshalb sie seiner Aufforderung folgte wusste sie selbst nicht. Aber sie setzte sich langsam, versuchte sich zu beherrschen: „Sie verfügen über die nötige Intelligenz diese Schlussfolgerung ziehen zu können!“ Sebiha nickte: „Nilia hat ihnen mein Angebot unterbreitet.“ Seine Stimme war ruhig. Weder Kadir noch seine Schwester wussten worum es ging. „Ich habe von ihnen kein Angebot erhalten Sir. Ich erhielt Nilia’s Entscheidung!“ Sebiha verstand und führte seine Hand zu seinem Mund: „Und sie sind mit seiner Entscheidung nicht einverstanden?“ Er erhielt einen verächtlichen Blick. „Was erwarten sie jetzt von mir, Miss Ina?“

„Nichts Sir.“ Mit dem Zeigefinger strich er sich über die Lippen und fuhr langsam fort: „Wenn sie Nilia nicht in seine Entscheidungsfindung miteinbezogen hat, Miss Ina, und sie mit seiner Entscheidung nicht einverstanden sind – Offensichtlich, dann nutzen sie ihr Talent um seine Entscheidung zu ändern.“

„Ha. Natürlich Botschafter. – Vielleicht können sie mir auch noch sagen, wo ich dieses Talent finde! Denn ich habe bereits versucht meine Bedenken an seiner Entscheidung zu äussern. – Ohne Erfolg!“

„Vielleicht haben sie seine Antwort nur falsch interpretiert, Miss Ina. Wohlmöglich denkt er noch einmal darüber nach.“ Konnte er es wirklich nicht erkennen? „Glauben sie mir Sir. Das tut er nicht.“ Sebiha schüttelte seinen Kopf: „Woher haben sie nur diesen Pessimismus? Was hat er gesagt? – Vielleicht müssen sie nur etwas mehr Geduld haben und es noch einmal versuchen.“ Es noch einmal versuchen! Natürlich! Der nächste Versuch würde sie vielleicht in ein Krankenhaus befördern. Sie lehnte sich vor, hätte ihn anspucken können aber sie tat es nicht: „Seine Antwort, Sir, passt farblich zu meinen Augen.“ Man hörte, wie sehr sie sich zusammenreissen musste um diese Worte in angemessener Lautstärke hinauszubringen. Kadir änderte seine Sitzposition, Madam Sebiha starrte schockiert in ihr Gesicht und Sebiha hielt seine Hand bei seinem Mund und verzog keinen einzigen Muskel in seinem Gesicht. „Ihr Talent ist noch nicht ausgereift. – Sie werden noch einige Fehlschläge hinnehmen müssen“, seine Ruhe machte Ina rasend. Sie umklammerte ihr Glas. Fühlte wie ihr das Blut in den Kopf schoss, ihr ganzer Körper verkrampfte sich, ihr Herz raste. Dann überkam es sie. Mit einem Ruck sprang sie auf, drehte sich und schleuderte ihr Glas gegen die Mauer. Madam Sebiha zuckte zusammen, ebenso ihre Tochter, die aus lauter Schreck einen Schritt zurück machte und sich hinter ihrem Vater in Schutz begab. Ina wandte sich kochend vor Wut sofort wieder Sebiha zu: „Noch nicht ganz ausgereift?!“ Sie ging die Treppe hinauf in das Wohnzimmer, durchquerte den Raum und den nächsten, dann kam sie zu dem Ausgang und ging hinaus, durch das Tor auf die Strasse. Ging in irgendeine Richtung. Ohne die kleinste Ahnung welcher Weg sie zur nächsten U-Bahn führte, ging sie der Strasse entlang, passierte bewachte Tore, Häuser, Bäume, Kreuzungen, noch mehr Häuser und wieder eine Kreuzung. Ging lange dem Verlauf der Strasse entlang. Aber offenbar hatte sie sich für die falsche Richtung entschieden. Eine Bank auf die sie sich setzen konnte. Später würde sie jemanden nach dem Weg fragen. Sebiha’s selbstgefällige Art ärgerte sie. Er hätte sie fragen können ob sie Interesse hat. Er hätte ihr das Angebot machen müssen. Aber er besprach es mit Nilia. Wieder einmal wurde ihr deutlich, dass alle anderen für sie Entscheidungen trafen, dass sie sich allem und jedem zu fügen hatte. Man handelte mit ihr, wie mit einer Ware. Was sie wollte war egal, es interessierte niemanden! Sie versuchte sich zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn sich über diese Tatsache zu ärgern. Sie konnte ohnehin nichts daran ändern. Sie hatte sich zu fügen. Sie spielte mit ihren Fingern, bog ihre Fingernägel hinunter und liess sie wieder los, sodass ein klackendes Geräusch entstand während sie nach Atem rang und sich zu beruhigen versuchte.

Schritte näherten sich. Ina musste ihren Kopf nicht heben, um zu erkennen, dass es Kadir war. Er setzte sich neben sie: „Falsche Richtung?“ Er holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Realität. Ina biss sich auf die Oberlippe: „Nicht ganz Sir. – Ich bin nicht mehr in Sebiha’s Nähe“, sie beherrschte sich, versuchte ihre Stimme in angemessenem Ton zu halten und liess ihren Blick auf dem Baum auf der anderen Strassenseite ruhen: „Sind sie gekommen um ihn zu verteidigen?“ Ein entschiedenes: „Nein“, kam von Kadir zurück. Er betrachtete sie von der Seite und fuhr nach einer Weile fort: „Willst du darüber reden?“

„Nein“, ihre Antwort war ebenso entschieden, dass es keinen Diskussionsspielraum gab. Er blieb neben ihr sitzen und wartete. Minuten vergingen. Wieso war er ihr gefolgt? Nach einigen Minuten holte er Luft, um etwas zu sagen. „Nicht! Lassen sie es!“ Also atmete er wieder langsam aus, ohne etwas zu sagen. Das erste Mal hatte sie das Gefühl, dass er sich beherrschen musste, um nichts zu sagen. Er respektierte ihren Wunsch nicht zu sprechen. Als sie sich eine Träne wegwischte, betrachtete er sie von der Seite, presste den Kiefer zusammen und blickte dann weg. Wer sonst, ausser ihren wenigen Freunden, respektierte jemals ihre Wünsche? „Das stand ihm nicht zu! – Nilia ein Angebot für mich zu machen als wäre ich eine Katoffel!“ Und wieso fauchte sie jetzt ihn an? „Und ihnen stand es nicht zu, mich in sein Haus zu bringen!“

„Miss Ina. Erlauben sie mir ein Gespräch?“ Ina sah auf, es war Dea Sebiha. „Natürlich Madam. Er ist ihr Bruder“, wozu bat Dea überhaupt darum? Dea lächelte: „Ich möchte mit ihnen sprechen Miss Ina.“ Ina war verwirrt, weshalb wollte sie mit ihr sprechen? Sie blickte ihr fragend entgegen. Dea warf ihrem Bruder einen langen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, dass er gehen musste. Er stand auf und ging die Strasse zurück. Ina sah ihm nach, liess ihren Blick etwas weiter schweifen und erkannte Botschafter Sebiha am Ende der Strasse einsam auf einer Bank sitzen. Dea Sebiha setzte sich neben sie und wandte sich ihr zu: „Mein Mann hat mich gebeten mit ihnen zu sprechen.“

„Hat er nicht den Mut es selber zu tun?“ Dea schlug ihre Augen auf: „Würden sie ihm denn zuhören? – Aus Erfahrung weiss er, dass ein Bote manchmal besser ist, um ein Missverständnis zu beseitigen. – Darf ich sprechen Ina?“ Ihre Stimme hatte etwas Anmutiges, etwas Vertrauenerweckendes und Einfühlsames. Sie war sympathisch. „Dazu benötigen sie nicht meine Erlaubnis, Madam.“

„Aber ihre Aufmerksamkeit Ina.“ Sie sahen einander an. Wie Recht Dea doch hatte. Alle Worte waren sinnlos, wenn sie keinen Zuhörer fanden. „Bitte Madam Sebiha. Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.”

„Mein Gatte hat mir alles erklärt. – Es war nicht seine Absicht, ihnen etwas aufzuzwingen und er bedauert zutiefst, dass sie seinetwegen Gewalt von General Nilia....“ Ina hob ihre Hand und fiel ihr ins Wort: „Darüber werden wir nicht sprechen! Das geht weder sie, noch ihren Mann, noch Kapitän Kadir etwas an.“ Es schien, als hätte Ina sie aus dem Konzept gebracht. Dea richtete ihren Blick auf den Boden und dachte nach. „Aber, worum geht es dann Miss Ina?“ Ina hatte sich mittlerweile wieder unter Kontrolle, sie sprach in angemessenem Ton: „Es geht um mich Madam. Um meine Interessen.“ Dea liess diese Worte einen Augenblick auf sich wirken: „Ich denke, mein Mann ging davon aus, dass sie kein Interesse am Militär haben. Ich glaube, er wollte ihnen eine Alternative bieten.“ Ina schluckte leer, ehe sie antwortete: „Er kennt mich nicht und noch weniger kennt er meine Interessen, Madam. Er hat mir auch keine Alternative geboten. Er hat eine Tatsache geändert, mit der ich mich bereits abgefunden hatte.“ Eine, für die sie die letzten drei Jahre auf die Rekrutenschule gegangen war. Eine, für die sie die letzten drei Jahre benötigt hatte, um sich damit abzufinden. Dea's zartes Gesicht wirkte aufgeschlossen und verständnisvoll: „Er hätte es mit ihnen besprechen sollen. – Geht es darum Ina?“ Darum und um viel mehr. Konnte Dea es verstehen? Würde Sebiha es verstehen können? „Ihr Gatte, Madam, hat etwas getan, das bisher General Nilia vorbehalten war. – Er gab mir zu verstehen, dass nichts meine Entscheidung ist und er keinen Wert auf meine Wünsche legt!“, Ina rieb ihre Finger aneinander. Weshalb war sie so nervös? Die Frau neben ihr dachte lange nach: „Mein Mann ging mit Sicherheit davon aus, dass Nilia es mit ihnen besprechen würde.“

„Weshalb tat er es nicht selbst?“ Auf diese Frage hatte Déa Sebiha keine Antwort. „Ich habe keine Lust die vorübergehende Lösung für seine Langeweile zu sein!“ Nun erhielt sie einen verständnislosen Blick. „Aus einer Laune heraus kam er darauf, dass er sich eine neue Gehilfin nehmen könnte. Bei Quendresa! Wie kam er auf die Idee, dass ich das seien könnte?! Dass ich das geringste Interesse daran haben könnte?! Was habe ich getan, dass er mir das zumutet?!“ Sebiha’s Gemahlin schwieg lange. „Mein Mann glaubt, dass sie Talent haben, das beim Militär verschwendet wäre.“

„Wieso?! Weil ich den Fehler machte und bei der Abschlussfeier mit ihm gesprochen habe?! – Ja, es ist äusserst Interessant, sich einen Abend lang mit mir zu unterhalten! Die Tuma die von einem Verräter aufgezogen wurde. Es ist spannend zu sehen, was für eine Person das ist! Ich kenne diese Art von Seranern! Aber nach wenigen Wochen ist jegliches Interesse verloren! Und dann?!“

„Jetzt werfen sie meinen Gatten in eine Kiste. Eine falsche Kiste möchte ich anmerken Miss Ina. – Nicht aus einer Laune heraus entschied er sich einen neuen Gehilfen zu nehmen. Sie wären seine erste Gehilfin.“ Eine Kiste. Das waren ihre Worte, die sie Seibha gegenüber verwendet hatte. „Er überlegte es sich sehr intensiv. Vielleicht kommt es ihnen so vor, als sei es eine Laune, weil es so schnell ging. Doch er fürchtete, dass sie umgehend in den Militärdienst eintreten würden. Daher verschwendete er nicht unnötig Zeit. – Aber es ist nicht in seinem Willen, ihnen einen Posten aufzuzwängen den sie nicht wollen. Es ist ihre Entscheidung Ina.“ Ein Windstoss brachte die Kronen der Bäume in Bewegung. Einige Blätter fielen in kreisenden Bewegungen zu Boden. „Nein Madam. Es ist Nilia’s Entscheidung. Und er hat sie bereits getroffen“, Ina nahm das dunkelrote Blatt, das neben sie auf die Bank gefallen war zwischen ihre Finger. Es war grösser als ihre flache Hand, teilweise von Würmern zerfressen. Löchrig. Genau so fühlte sie sich im Augenblick. Zerfressen und löchrig. „Er wird sein Angebot zurückziehen, wenn das ihr Wunsch ist. – Er würde es sehr bedauern. Aber er würde es tun.“ Ina drehte das Blatt zwischen ihren Fingern. „Ist es ihr Wunsch, in den Militärdienst einzutreten Ina?” Ina liess ihren Blick an Dea vorbei der Strasse entlang gleiten. Liess ihn am Strassenende bei Sebiha und Kadir ruhen. Es war nicht ihr Wunsch in den Militärdienst zu gehen. Aber der Posten bei Sebiha entsprach auch nicht dem was sie wollte. Was war das kleinere Übel? „Was ist ihr Wunsch Ina?“ Sie schloss ihre Augen: „Ich denke nach, Madam“, nahm dabei das Blatt an dem kurzen Stiel und drehte es daran. Wenn Sebiha sein Angebot jetzt zurückzog, dann konnte sich Nilia denken weshalb. Und selbst wenn er es sich nicht denken konnte, würde er einen neuerlichen Wutausbruch haben und sie würde es abbekommen.

„Wird sie Dea anhören?“ Sebiha klang skeptisch, was seinen wirklichen Gefühlen nur teilweise Ausdruck verlieh. Kadir richtete seinen Blick zu ihm: „Dea wäre nicht mehr dort, wenn sie nicht zuhören wollte.“ Sebiha nickte. Immerhin hörte sie zu. „Wie schlimm ist ihre Situation – Nilia?“ Kadir streckte seine Beine aus und lehnte seinen Rücken an die unbequeme Lehne der Steinbank: „Woher sollte ich das wissen Sebiha?“

„Sie war die letzten drei Jahre deine Kadettin.“ Kadir lachte etwas getrübt: „Und sie hat mich täglich verflucht.“ Sebiha war erstaunt: „Aber ihr habt bei der Feier Stunden zusammen verbracht. Und gestern“, und heute brachte er sie sogar zu ihnen nachhause. Doch Sebiha vermied es, das auch noch zu erwähnen. „Wir haben uns nicht unterhalten“, diese Worte verliessen Kadir's Mund wie eine Art Seufzer. „Du willst mir wirklich sagen, dass ihr nicht zusammen gesprochen habt?“

„Ja.“ Sebiha richtete seine Augen zu seiner Frau und Ina, führte seine Hand an seine Lippen: „Ich verstehe. – Sie schweigt also genauso gern wie du mein Freund – verblüffend.“ Kadir entgegnete ihm mit nichts auf diese Feststellung. Wieder einmal war Kadir äusserst wortkarg. Wie sehr Sebiha diesen Wesenszug von ihm manchmal verfluchte. Ebenso sehr wie er ihn sonst schätzte. „Was ich noch nicht verstehe, wieso kam sie in mein Haus, wenn sie nicht mit mir sprechen wollte?“ Sebiha wurde von einem vielsagenden Seitenblick gestreift. „Sie wusste es nicht“, in seiner Stimme glaubte Sebiha eine Art von Bedauern zu hören. Kadir vermied es in die Richtung von Dea und Ina zu sehen. Er liess seine Augen einfach auf dem Boden vor seinen Füssen ruhen. Interessierte es ihn nicht, was sich bei den beiden abspielte? Oder wollte er nicht zu interessiert wirken? „Sie hat also dich aufgesucht“, es gestaltete sich für Sebiha immer äusserst schwer, ein Gespräch mit Kadir aufrecht zu erhalten, wenn er sich so desinteressiert verhielt. „Nein“, war wieder eine dieser Antworten mit der Sebiha nicht viel anfangen konnte und ausserdem verstand er jetzt gar nichts mehr. Wie kam sie dann in sein Haus? Aber er beliess es dabei, entschied sich das Gespräch in einer anderen Richtung fortzusetzen: „Wie schlimm sind ihre Verletzungen?“ Kadir warf ihm einen kurzen Blick zu: „Wenn sie der Meinung ist, dass es dich etwas angeht, wird sie es dir sagen.“

„Das wird sie nicht Kadir und das weißt du. – Also, hat sie noch andere Verletzungen?“ An diesem sonnigen Tag war es alles andere als einfach für Sebiha, irgendwelche Informationen von seinem Schwager zu erhalten. „Das spielt keine Rolle“, erwiderte er gleichgültig. „Doch“, für Sebiha spielte es eine wesentliche Rolle. „Nein Sebiha. Es geht nicht um ihre Verletzungen. – Auf der Rekrutenschule hatte sie schlimmere Blessuren“, seine Stimme war ruhig und gelassen, als ob sie über eine unbedeutende Schramme sprechen würden. „Du hast dich über sie hinweggesetzt. Hast Nilia ein Angebot gemacht, das du ihr hättest machen müssen.“

„Nun, ich bin dabei es zu korrigieren. Es ist jetzt ihre Entscheidung“, er konnte ja nicht wissen was Nilia tun würde. Kadir schüttelte seinen Kopf. Das war immerhin mehr, als er bisher getan hatte. Aber es war auch etwas, das bei ihm nie ein gutes Zeichen war: „Du hast ihren Stolz verletzt. Ob sie an diesem Posten interessiert ist oder nicht, ist im Moment zweitrangig. – Über ihren Stolz wird sie sich nicht so leicht hinwegsetzen – Sie ist mehr Tuma als du glaubst.“

„Mir ist ihre tumanische Art aufgefallen Kadir. Wie löse ich das Problem?“ Langsam kamen sie zu dem Punkt der Sebiha wirklich interessierte. „Du bist der Botschafter von uns beiden und es ist dein Problem.“ Sebiha neigte sich vor und suchte Kadir's Blickkontakt: „Du willst mir also nicht helfen?“

„Es reicht, dass sie auf Dich wütend ist. Ich habe selbst noch genug Hindernisse zu beseitigen.“

Nach einigen Minuten des Schweigens fragte Dea Sebiha vorsichtig: „Ina, haben sie eine Frage die ich ihnen beantworten kann.“ Ina hatte ihre innere Ruhe gefunden: „Ja. – Wo ist die nächste U-Bahn?“ Dea war über Ina’s Frage erstaunt aber beantwortete sie mit derselben sanften Stimme, mit der sie bereits das ganze Gespräch geführt hatte: „Die Strasse hinunter und dann links. Bis ans Ende der Strasse. Es ist nicht weit.“ Ina stand auf: „Danke Madam.“

„Haben sie eine Antwort für meinen Mann?“ Fragte Dea nun sichtlich irritiert. Sie wollte Ina scheinbar nicht ohne eine Antwort gehen lassen.

Ina drehte sich zu ihr, blickte sie an, richtete ihren Blick auf den Boden und sagte: „Keine Antwort Madam. Aber sie können ihm folgendes von mir Ausrichten.“

„Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“ Sebiha deutete mit seinem Kopf zu seiner Frau, die alleine den Weg entlang auf sie zukam. Dea presste ihre Lippen zusammen, als sie bei Sebiha und Kadir ankam. „Und?“ Sebiha's Neugier war offensichtlich, da er seine Frau nicht einmal Platz nehmen liess, ehe er die Frage stellte. Trotzdem setzte sich Dea zwischen die beiden und sah auf die andere Strassenseite: „Sie hat eine besondere Art an sich.“ Im Augenblick war Sebiha ziemlich egal, wie besonders Ina's Art war: „Was hat sie gesagt Déa?“

„Ein Bote kann helfen aber er kann das Problem nicht beseitigen. – Egal wie gut die Wahl des Boten ist, es bleibt ein Bote“, Dea zitierte Ina genau Wort für Wort. Es schien ihr wichtig das zu tun. Vielleicht würde ihr Gatte darin noch etwas erkennen, das sie nicht erkannt hatte. Sebiha schmunzelte bei diesen Worten. Er sah die Strasse hinauf und suchte nach Ina: „Wo ist sie?“

„Lass sie. Heute wird sie dich nicht anhören.“ Sebiha beäugte Kadir skeptisch und gab ihm schliesslich mit einem Kopfnicken Recht. „Ist sie so wie sie scheint?“ Fragte Dea ihren Bruder mit einem mehr als interessierten Gesichtsausdruck. „Ich weiss es nicht“, gab ihr Kadir kurz als Antwort zurück. Also richtete sie ihren Blick von Kadir zu Sebiha, der sich mit den Fingern über die Lippen strich: „Rätselhaft. Nicht wahr?“

Ina

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