Читать книгу Feuer in der Prärie! - Zachary Comeaux - Страница 10

Die Verabredung

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Die Morgensonne spiegelte sich auf dem handpolierten Knauf von John Freemans Gehstock, als er die Harrison Street in Kirksville, Missouri, entlanghumpelte. Die Stadt pulsierte voller Leben und der Kutschverkehr an diesem Morgen war beachtlich. Es war der 2. Mai 1899, ein Dienstag. Unruhig und voller Erwartung schob Freeman seinen Mantel zur Seite und zog eine Taschenuhr aus seiner Hosentasche. 9 : 18 Uhr. Auf dem Terminzettel, den er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte, stand 10 : 00 Uhr. Ganz oben auf dem Zettel war Krankenhaus der A. S. O. zu lesen. Endlich hatte er einen längst überfälligen Termin mit Andrew Still in dessen American School of Osteopathy.

Zu stolz, um die Farm im fernen Kansas aufzugeben, war Freeman nun sehr auf seine Familie angewiesen, die das Vieh fütterte und die Saat ausbrachte. Die Arbeit war für jeden schwer; es musste sich etwas ändern, und so war er gezwungen, seinen Stolz zu überwinden und hierherzukommen. Sein hinkender Gang sprach Bände über seine Rücken- und Hüftschmerzen.

Aufgewühlt von einem Wirbel aus Emotionen wartete er auf die Begegnung mit dem »Alten Doktor«, wie man Still nannte. Prophet, Wunderheiler, fanatischer Irrer – auch das waren Etiketten, die man ihm anhängte. Die Prediger zu Hause hatten, als sie von Freemans geplanter Reise hörten, versucht, ihm das Treffen mit dem »Diener des Teufels« auszureden.

Für John erschien die Lage hoffnungslos. Aber andere, die es müde waren, ihn die Schmerzen des lahmen Beines ertragen zu sehen, seine Verzweiflung, den Niedergang der Farm und das jahrelange vergebliche Herumdoktern mit Opium und »Fusel« hatten ihn ermutigt, Stills Hilfe zu suchen. John selbst hatte, was diesen Einfall betraf, so seine Bedenken, aber nun war er schließlich da. Ja, er war verzweifelt, aber – durfte er noch einmal hoffen? Wie tausend anderen schien auch ihm die Osteopathie diese letzte Hoffnung zu sein. Doch die alte Beinverletzung barg eine noch größere Belastung als nur die Schmerzen und das Hinken. Jene tiefere Wunde schwärte sogar noch nach all den Jahren. Würde Still diesen geheimen Teil bei seiner Befundaufnahme erkennen? Diese Frage und eine Art Scham nagten an Johns Gewissen.

Beklommen bewegte sich Freeman auf das Krankenhaus zu. Es schien beeindruckender als die meisten angrenzenden Gebäude. Als er näher kam, fühlte sich der eingefasste Schotter unter seinen Füßen ungewohnt an und seine ebenmäßige Oberfläche erleichterte das Gehen ungemein. Jemand wusste, was er tat, als er diesen Ort gestaltet hat, dachte Freeman. Zu Hause bestand seine Welt aus Wagenradfurchen in einer mit Erdhörnchenlöchern gespickten Prärie. Betrat er nun eine neue Welt?

Drinnen schufen die frisch geölten Holvertäfelungen und die großen Fenster eine Aura von Helligkeit und Frische – trotz der Anwesenheit von so viel Krankheit. Strom und fließend heißes und kaltes Wasser in allen Zimmern erschienen Freeman als ein Gipfel an Modernität. Seine Stimmung hob sich ein wenig, während er durch die Eingangshalle ging.

Familien auf Wartebänken, Patienten auf dem Weg zu ihren Zimmern oder in Rollstühlen sitzend – die Gründe für ihr Hiersein waren offensichtlich. Es ging sehr geschäftig zu, obwohl viele wie Freeman sowohl Zweifel als auch Hoffnung in sich trugen. Die etablierte Medizin war immer noch auf einem sehr primitiven Stand. Das Mikroskop wurde zwar allgemein genutzt, doch Diagnosen erstellte man anhand äußerlicher Symptome.

Herkömmliche Medikamente waren rar und nur wenig weiter entwickelt als die Kräuterheilkunde. Nach dem Bürgerkrieg gab es viele Verluste und Behinderungen. Morphium schien man dem Opium vorzuziehen. Es führte jedoch ebenfalls zu Abhängigkeit und versklavte viele, die die Versklavung ihrer Mitbrüder bekämpft hatten. Die Medizin machte reiche Versprechungen, brachte aber nur spärliche Tröstungen – und groß war die Zahl der Patienten, die unter dem Chirurgenmesser starben.

Doch hier wurde, so sagte man, eine andere Methode angewandt. Die Leute sprachen über »unblutige Operationen« und über »die Nutzung der Selbstheilungskräfte des Körpers«. Operationen mit dem Messer galten nur als letzter Ausweg, um Leben zu retten. Diese kühnen Behauptungen verflüchtigten sich angesichts der etablierten Medizin. Und doch brachte die Wabash-Eisenbahnlinie täglich Hunderte, die auf Besserung, wenn nicht gar auf Heilung hofften.

»John Freeman? Mr. John Freeman!?«

Freeman nickte der Dame an der Anmeldung zu.

»Bitte kommen Sie zu mir herüber«, bat Sally Taylor mit angenehmer Stimme.

»Das macht dann 9 Dollar Anzahlung für die ersten drei Anwendungen in der ersten Woche. Danach kostet die Behandlung 25 Dollar im Monat. Wenn Sie sich zum Bleiben entschließen, wird die Anzahlung von Ihren Gebühren für den ersten Monat abgezogen. Sie können im Poole Hotel einkehren, oder wenn Sie es wünschen, eine Privatpension aufsuchen, was recht geeignet wäre, sollte sich Ihr Aufenthalt doch als etwas länger erweisen, als Sie erwarten. Ma Scott’s ist recht gut, falls sie dort ein Zimmer frei haben. Das Hotel würde Sie 10 Dollar im Monat kosten. Ein Gästezimmer bei jemandem oder eine Privatpension kostet Sie 3 bis 5 Dollar. Also, Sie haben die Wahl. Sie haben noch Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, doch jetzt sollten wir uns um Ihre Angaben und die Anzahlung kümmern.«

Nachdem alles erledigt war, fuhr Sally fort:

»Vielen Dank, hier ist ihr Beleg; diese junge Dame wird Sie dahin bringen, wo Sie hinmüssen.«

»Guten Morgen, Mr. Freeman, bitte kommen Sie mit mir. Ich bin Ihre Schwester, Miss Shreve.«

Schwester Shreve, an die geschäftige Betriebsamkeit und den Tagesrhythmus dieses Ortes gewöhnt, führte den Gast den weiten Gang hinunter bis zu einem Untersuchungszimmer. Freeman nahm dort zunächst auf einem Stuhl Platz und beäugte gründlich den von einem großen Fenster beherrschten Raum, in dem noch ein zweiter Stuhl und ein Schreibtisch standen. Das Zimmer war erfüllt von Luft und Licht und lag, wenngleich es die Brise und etwas von der Geschäftigkeit der Stadt hereinließ, doch hoch genug über der Straße, um eine private Atmosphäre zu behalten.

Wozu der Behandlungstisch und der kleine Hocker dienten, schien klar. Doch es gab auch einen merkwürdigen neumodischen Apparat. Er wirkte auf Freeman, als sei er halb Stuhl, halb Mausefalle, mit einer Art von verstellbaren Polstern entlang der Rückseite. Die Schwester bemerkte seine Neugierde.

»Machen Sie sich keine Sorgen, er beißt nicht und wird auch nicht für irgendeine Folter genutzt. Es ist ein Spezialstuhl, den Dr. Still erfunden hat, um exakt dort anpassend einwirken zu können, wo es nötig ist. Der Doktor wird Ihnen während der Behandlung alles genau erklären. Nun müssen wir noch ein paar Formulare ausfüllen, bevor er kommt.«


ABB. 03: BEHANDLUNGSRAUM IM OSTEOPATHIE-KRANKENHAUS IN KIRKSVILLE, CA. 1905.

Die Schwester füllte ein Formular mit Standardfragen über akute Beschwerden, eventuelle andere Erkrankungen, Diäten und bisherige medikamentöse Behandlungen aus und fragte dann mit fester Stimme: »Gibt es noch irgendetwas anderes, das wir über Ihre Krankengeschichte wissen sollten?«

Freeman zögerte und geriet ins Schwitzen »Da gibt es noch etwas, was ich aber lieber mit Dr. Still besprechen möchte.«

»Bitte, Sir«, redete die Schwester ihm gut zu, »es ist für den Doktor sehr hilfreich, wenn er alle Informationen schon vorher erhält.«

Freeman murmelte: »Ich glaube, das bespreche ich besser mit Dr. Still.«

»Aber Sir …«, begann die Schwester eine Spur strenger.

Freeman vergaß seine guten Manieren und schlug seinen gewohnten Farmaufseher-Ton an, indem er mit erhobener Stimme beinah schon ein bisschen aggressiv klarstellte: »Ich weiß, was Sache ist, Miss. Und ich weiß, was ich will. Ich glaube, dass ich das besser mit Dr. Still direkt bespreche!!«

Ängstlich erwiderte die Schwester »Gut, ganz wie Sie wünschen.

« Sie wies den Patienten an, seine Straßenkleidung hinter einem Wandschirm gegen den dort bereitgelegten Untersuchungskittel zu tauschen. Dann drehte sie sich um, betätigte die Klingel und huschte hinaus.

Freeman saß allein in der spannungsgeladenen Stille. Nach ein paar Minuten – ihm erschienen sie wie eine Stunde – öffnete sich die Tür und Dr. Still, fast sechs Fuß groß, hager, gepflegtes Äußeres und wohl etwa so alt wie Freeman, trat ein.

»Guten Morgen, Sir. Mr. Freeman, wie ich höre.«

»Guten Morgen Doktor. Ja, Freeman, John Freeman.«

Still nahm am Schreibtisch Platz, strich sich über seinen rauen Bart und warf einen kurzen Blick auf die Notizen der Schwester.

»Nun, lassen Sie uns mal sehen. Hüfte und Rücken, hmmm …«

Der Doktor hielt inne und betrachtete seinen Patienten lange. Freeman war beeindruckt von der Intensität dieses Blicks, von der Kraft, die hinter den durchdringenden grauen Augen stand.

»Soviel ich sehe, begann das also vor ein paar Jahren mit Schmerzen in einem Bein. Aber Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen, Bruder. Was macht Ihnen noch zu schaffen?«

Jahre hatte Freeman auf diesen Moment gewartet hatte – und jetzt wusste er nicht, wo beginnen. Ja, da war dieser Schmerz, die Frustration, die mit dem Verlust an Jugend und Männlichkeit einherging. Aber die eigentliche Wunde saß noch tiefer. »Doktor, ich brauche Hilfe für mein Bein, aber da ist noch etwas anderes, über das wir vorher sprechen sollten. Eine andere Verletzung.«

»Ja, Bruder, was ist es?«

»Bevor Sie mich Bruder nennen, sollten Sie wissen, dass wir uns schon einmal begegnet sind, am Little Blue. Ich habe damals unter Price gekämpft.«

Für einen Moment stand die Zeit still und jeder der beiden Männer hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Zeit raste um 30 Jahre zurück. Zurück in ihre Jugend. Zum Little Blue, einem schmutzigen kleinen Fluss südwestlich von Westport, im Süden von Kansas auf der Missouri-Seite.

Still rief sich den Tag ins Gedächtnis. Seine Einheit, die 21. Kansas-Miliz, hatte den Befehl erhalten, die Union um General Totten zu unterstützen. Zusammen bildeten sie eine Armee von 35.000 Mann, die sich den Konföderierten unter General Price entgegenstellte. Davor waren Stills Mitkämpfer, Sklavereigegner wie er, lediglich ein lose organisierter Haufen unter dem Banner von James Lane gewesen und zumeist nur in Verteidigungsbereitschaft gestanden gegen die Übermacht derer, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften. Immerhin hatten sie aber auf die Guerilla-Methoden von Quantrells Armee reagiert, die erst kürzlich die Gemeinde Lawrence, eine in der Nähe gelegene Hochburg der Sklavereigegner, niedergebrannt hatte.

Obwohl der 36. Breitengrad (die südliche Grenze Missouris) als nördlichste Grenze des Sklaven-Südens galt, wurde Missouri im Jahre 1820 der Union der Sklavenstaaten zugerechnet – ein Kompromiss, um die Aufnahme von Maine in den Bund der sklavenfreien Staaten auszugleichen. 1855 hob das Kansas-Nebraska-Gesetz die Unantastbarkeit der Grenze am 36. Breitengrad auf und öffnete damit auch die nördlichen Territorien für die Sklaverei. Doch noch 1862 wurde die Angelegenheit heiß debattiert.

Siedler beider Lager, Befürworter und Gegner der Sklaverei, hatten ihr Leben in der Erwartung und Hoffnung aufs Spiel gesetzt, dass die Politik sich zu ihren Gunsten drehen werde. Die Anspannung wuchs. Scharmützel unter Nachbarn entlang der Grenze zwischen Missouri und Kansas waren häufig und die täglichen Routinearbeiten erforderten erhöhte Wachsamkeit. Still erinnerte sich an unschöne Momente, als seine Truppe während eines Manövers in den Wäldern auf Konföderierte traf.

Religiöser Eifer ließ den Wirbelsturm an weltanschaulichen Ideologien und politischen Überzeugungen noch stärker aufbrausen. Prediger wie John Brown und Henry Ward Beecher stachelten die Minderheit der Sklavereigegner zu einem wahren Kreuzzug an. Beecher predigte sogar das Anlegen von Waffenlagern, die man Beecher-Bibeln nannte. Brown brachte Verwandte und Nachbarn ins Spiel, die wie Kämpfer bewaffnet waren.

Mit seinem Streben nach höheren Werten, zu denen auch Freiheit für alle Geschöpfe Gottes gehörte, trat Still in die Fußstapfen seines Vaters Abraham Still, eines umherziehenden Methodistenpredigers, der sich mit seinen Überzeugungen bei den meisten Methodisten nicht gerade beliebt gemacht hatte. Die Familie war daher sicherheitshalber nach Baldwin, Kansas, eine Gemeinde Gleichgesinnter, umgezogen. Allerdings war die Sicherheit auch dort nur relativ. Missouri und Kansas wurden zu einem Schachbrett nationalpolitischer Interessen.

Leidenschaften und Fanatismus brodelten auf beiden Seiten, denn alle Grenzland-Siedler waren Menschen von starkem Charakter, ausdauernd und voller Visionen. William Clarke Quantrell, der die Meinung der Mehrheit in Kansas vertrat, startete einen Feldzug und brandschatzte und plünderte im August 1855 die Freistaatengemeinde von Lawrence, nördlich und östlich von Baldwin. Brown organisierte einen Gegenschlag durch seine Gefolgsleute und metzelte Familien der Sklavereibefürworter am Pottawatomie Creek nieder, schleppte die unbewaffneten Bewohner in die Nacht hinaus und quälte sie brutal mit Kavallerieschwertern.

So waren die Zeiten damals. Die Wunden verheilten nur langsam und nicht Wenige verbrachten jahrelang ihre Nächte in Höllenqual, unfähig, die entsetzlichen Bilder der Vergangenheit mit denen zu teilen, die neben ihnen lagen.

Noch immer durchforschten beide, Still und Freeman, das Gesicht des jeweils anderen und stießen dort auf die disziplinierte Kälte unterdrückter Erinnerung.

Still war Hauptmann und Wundarztassistent. Seine Einheit aus Freiwilligen, wenngleich nur Begegnungen mit ähnlich kleinen Truppen gewohnt, bedrängte erfolgreich die Übermacht des unmittelbar vor ihr stehenden Feindes, fand sich jedoch im Eifer des Gefechts plötzlich jenseits der Frontlinien der sich zurückziehenden Konföderierten wieder – abgeschnitten von der Union Force.

Der Kampf tobte heftig, aber Drew – so hieß Still zu Hause – und sein Maultier tricksten die Kugeln aus. Einige Patronen durchlöcherten zwar Stills Mantel, er selbst blieb jedoch unverletzt. Doch dann, war es nun Rücksichtnahme, Zufall oder Ungeschick, erschoss der Gegner statt Drew dessen Maultier, das im Niederfallen aber seinen Besitzer unter sich begrub. Verkrampft und benommen vor Schmerz lag Drew eine Weile reglos. Im wurde klar, dass er sich nicht mehr verteidigen konnte. Die Kameraden hatten ihn als vermeintlich Toten zurückgelassen – und nun erwartete ihn wohl der Tod. Nur nicht bewegen jetzt! Das war seine einzige Chance, Klinge oder Kugel des Feindes zu entgehen. Langsam glitt sein Geist aus diesem Zustand von Schock und verzweifeltem Zaudern in zeitlose Bewusstlosigkeit hinüber.

»Alles wird gut, komm einfach nur nach Hause …«, flüsterte eine sanfte Stimme in die Stille seiner Seele.

»Mary?«

Der Geist seiner verstorbenen Frau schien ihn zu trösten.

Drew, immer noch betäubt und reglos in der hereinbrechenden Dämmerung liegend, fragte sich, warum. Die knatternden Schüsse und der Gestank von Schießpulver, Dreck, Schweiß und Blut durchdrangen seine Sinne in einem Wirbel eingetrübten Bewusstseins. Das enorme Gewicht des Maultiers drückte ihn zu Boden, während ein heißes Brennen wie Feuer sein rechtes Bein hinunterkroch. Als der Kugelhagel ein wenig nachließ, begann er, sich zu sammeln.

»Bin ich erschossen worden? Wer hat gesiegt?«, fragte er sich. Doch es wurde ihm klar, dass es, solange er lag, keine sicheren Antworten gab.

Drückende Stille hatte sich über die Lichtung gebreitet. »Drew, steh auf, rette dich! Du hast noch einiges zu vollbringen.« Wieder weckte eine vertraute Stimme den todesmüden Mann, doch als er sich umschaute, sah er niemanden. War es wirklich seine Frau, die da sprach? Seine liebe, verstorbene? War es Mary? Aber nein, natürlich nicht! Hatte ihn die Todesangst verrückt werden lassen? Und doch: Die Stimme schien so klar, so nah. Während Drew weiter lauschte, öffnete sich sein Blick und ließ das grauenvolle Bild ein, das sich ihm ringsum bot. Sterbende, wohin man auch sah. Ihr Ächzen und Stöhnen ersetzte nun das Pfeifen und Knattern der Gewehrsalven. Allmählich wich der Schlachtenrauch dem milden Dunst der Dämmerung. Die Nacht zog herauf. Ihr Atem machte Drew seine missliche Lage bewusst und weckte seinen Überlebenswillen. Höchste Zeit, zu handeln! Er vernahm die Stimme seines Vaters: »Du musst dich jetzt um dich selbst kümmern, mein Junge.« Zum Glück war Drew auf dem schlammigen Feld unter der weichen Flanke des Maultiers eingeklemmt und konnte so nach langem Bemühen erst seine Schultern und dann Brust, Becken und Beine unter dem erschlafften Tier hervorziehen.

Als er sich mühsam hochrappelte, wurde er seiner Verletzungen gewahr. Glücklicherweise hatte er nur Prellungen und keine Knochenbrüche oder Schusswunden erlitten. Ein dumpfer Schmerz in der Leistengegend sollte sich allerdings später als schwerer Leistenbruch herausstellen, der ihn für den Rest seines Lebens quälen würde. Zwar hatte seine Truppe Price zum Rückzug gebracht, doch hüben und drüben hatten viele ihren Einsatz mit einem hohen Preis bezahlen müssen und waren nicht wie er glücklich mit einem zerschossenen Mantel davongekommen. Unter den Nachbarn, die Drew auf beiden Seiten der Front wiedererkannte, war jedenfalls keiner, dem seine Hilfe noch etwas genützt hätte.

Es war weniger Zeit verstrichen, als er gedachte hatte. Seine Männer erwarteten einen Befehl. Er rief nach dem Trompeter, um die Truppen in geschlossene Reihen zu sammeln, bestieg eines der erbeuteten Pferde und folgte mit seinen Leuten der zurückweichenden feindlichen Armee, ohne jedoch einen erneuten Angriff zu forcieren. Am folgenden Morgen setzten sie die Verfolgung fort und es kam über den Tag hinweg zu kleineren Scharmützeln. Schließlich ließ man den Feind entkommen.

Als Freeman nun auf dem Untersuchungstisch des Krankenhauses saß, musste auch er an diesen Tag denken. Er und seine Nachbarn hatten mit Quantrell und den Konföderierten sympathisiert. Die meisten waren gen Westen in Richtung Freiheit gezogen, eine Freiheit, die ihnen von den Gründervätern des Landes versprochen worden war. Doch die Regierung im Osten schien gespalten zu sein. Teilweise traten die Argumente für eine Unterdrückung der Schwarzen vor staatsrechtlichen Belangen in den Hintergrund. In Illinois rief Stephen Douglas: »Lasst das Volk entscheiden!« Und nirgends war die Spannungen in Bezug auf das Thema Sklaverei stärker zu spüren als in Kansas. Sklavereigegner wurden als Fanatiker betrachtet, als eine Bedrohung etablierter Zustände, die es zu verteidigen galt, und ihr Feuer ließ sich durch nichts anderes löschen als durch Pulver und Blei.

John Freeman spann seinen Gedankenfaden weiter, während Stills Blick und der seine nach wie vor ineinanderruhten. An jenem Tag im Mai hatten Freeman und zwei seiner Brüder unter Quantrell in einer Division der Armee von General Shelby und Price in Westport auf der Missouri-Seite gekämpft und waren auf beachtlichen Widerstand seitens der Union und der gemischten Bürgerwehr gestoßen. Am Nachmittag hatten sie beschlossen, dem Feind zunächst auszuweichen und ihn dann an der Kampflinie zwischen Westport und Little Blue Creek aus einem Erlendickicht heraus zu attackieren.

Zeitweise hatte er in den feindlichen Reihen sogar Nachbarn erkennen können, die im Grunde ebenso für Freiheit fochten wie sie selbst. Alle kämpften sie gleichermaßen um ihr Leben und feuerten im Eifer des Gefechts einfach drauflos. Dann, plötzlich, hatte er die berittene Gestalt von Drew Still, dem anerkannten Arzt aus Baldwin, im Visier. Der überraschende Anblick bracht in ins Schwanken. Schießen oder nicht? Verwirrt zögerte er mit dem Finger am Abzug, ohne wirklich zu zielen. Dann hörte er doch seinen Schuss krachen und sah Maultier und Reiter fallen. Alles geschah blitzschnell. Durch den Gewehrrauch blies irgendwann die Trompete zum Rückzug und sie zogen mit der Armee von General Price weiter Richtung Osten. Noch lange nach Kriegsende quälten ihn Gedanken über die Folgen jenes Schusses. Irgendwie brachte ihm dieser Vorfall immer wieder das ganze Grauen des Krieges zu Bewusstsein und störte seinen Schlaf.

Freeman brach als Erster die Stille im Untersuchungsraum.

»Doktor, Major, Sir, ich war an jenem Tag ein schlechter Schütze. Ich zielte auf einen Mann und erlegte ein Maultier.«

»Ich verstehe«, entgegnete Still, der jetzt zu Boden sah, mit tief tönender, ernster Stimme. Nun wurde klar, weshalb der Patient so zurückhaltend gewesen war. Nach einer langen Pause hob der Doktor erneut den Blick. »Das waren schlimme Zeiten. Bruder gegen Bruder, Nachbar gegen Nachbar. Aber aus irgendwelchen höheren Gründen hat es wohl so sein müssen. Wir alle haben getan, was wir tun mussten. Hinter Ihrer mangelnden Zielgenauigkeit in jenem Moment steckte vermutlich eine höhere Absicht, meinen Sie nicht auch? Lassen Sie uns nun Ihr Bein ansehen.«

Still begann, Oberschenkel und Bein seines Patienten zu betrachten, dann piekte er, befühlte die Oberfläche, und bewegte das Glied hin und her. Während er arbeitete sagte er »Ich glaube, ich kann mich an ein paar Freemans in der Gegend um Brycyrus erinnern. Gehören die zu Ihrer Familie?«

»Ja Sir, das sind wir.«

»Sagen Sie, was macht Ihr Bruder, Charles?«

»Meine beiden Brüder wurden im Krieg getötet.«

»Und wie geht es Ihrer Frau?«

»Sie ist auch gestorben. An Meningitis.«

Still nahm nachdenklich Anteil »Ja, ich verlor 1859 meine Frau – zwei Monate nach der Geburt unseres letzten Kindes. Die Meningitis nahm uns damals alle Kinder bis auf eines. Das Leben in der Prärie kann sehr hart sein, nicht wahr? Aber wir müssen weitermachen.«

Ein wissendes, mitfühlendes Schweigen erfüllte den Raum.

»Nun gehen Sie bitte ein wenig umher; ich glaube, ich kann sehen, womit wir bei Ihnen anfangen. Sie wissen, dass das schon viele Jahre da ist; dennoch sehe ich etwas, woran wir arbeiten können.«

Während der Doktor das Bein und die Hüfte des Patienten in verschiedene Positionen bewegte, fuhr er fort »Wo wohnen Sie denn? Ich sage, dass es gewöhnlich eine Woche Behandlung braucht, um ein Jahr der Erkrankung aufzuholen. In Ihrem Falle können wir aber sicher schneller Erfolge erzielen, weil Sie in ziemlich guter Verfassung sind. Sie werden dreimal wöchentlich behandelt, entweder von einem Mitarbeiter oder von mir selbst. Alle sind Absolventen meiner Schule und hervorragende Behandler.

Sie können in die Schule hinübergehen, wenn sie möchten. In den Pensionen gibt es Badezimmer, natürlich mit heißem Wasser und gutem Essen. Wenn Sie über die Konditionen reden möchten, sprechen Sie mit meinem Sohn Charles. Die Schwester, die Sie begleitet hat, gibt Ihnen eine Übersicht der Bestimmungen dieses Krankenhauses. Doch das Wichtigste ist: Versuchen Sie, Ihre Fragen im Sprechzimmer zu klären. Sollten wir uns in der Stadt über den Weg laufen, kennen wir uns nicht. Da jeder anders ist, sprechen Sie bitte nicht mit anderen Patienten über Ihre Behandlung. Jeder Mann und jede Frau befindet sich auf einem eigenen Weg. Verstehen Sie? Haben Sie noch Fragen?«

»Nein, Major, Doktor, die ›Sprech‹-Stunde hat mir sehr geholfen; die Wunde beginnt bereits zu verheilen.«

Die beiden Männer sahen sich in die Augen und umarmten sich.

»Denken Sie daran, John«, sagte Still in seinem leisen, sanften, ernsten Tonfall, »die Vergangenheit ist das eine; im Hier und Jetzt und im Jenseits werden wir immer Brüder sein. Nur der Allmächtige weiß, warum diese Dinge auf der Erde geschehen. Ich hege keinerlei Groll.«

Dr. Still ging zur Tür, Freeman wandte sich um, um sich anzuziehen, doch als er Still nachschaute, bemerkte er dessen Gehstock.

Der »Alte Doktor« fuhr damit fort, eine Reihe von Patienten zu untersuchen, die ihm wahlweise von seinen Mitarbeitern in der Schule gesandt worden waren. Schließlich, nach getaner Arbeit, ging Still über die Veranda hinaus in die späte Morgensonne. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe und rief sich – immer noch in Gedanken an die Konversation mit John Freeman – den Ausgang der Schlacht am Little Blue ins Gedächtnis.

Nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, ritt die von ihm aufgestellte Kompanie der sich zurückziehenden feindlichen Armee hinterher. Doch sie griffen nicht an. Am nächsten Tag setzten sie die Verfolgungsjagd fort, um Land zurückzugewinnen und Abstand zwischen die Streitmacht der Konföderierten und die Siedlungen in Kansas zu bringen. Dann brachen sie die Verfolgung ab. Den Nachzüglern der Konföderierten wurde erlaubt, ihre Toten zu begraben. Dabei kamen 140 Konföderierte unter die Friedensfahne.

»Hunger?«, witzelte Still, als die Männer mit vorgehaltener Waffe zu ihm gebracht wurden.

»Fast nichts mehr da, Major«, antwortete ein Sprecher der rauen Truppe.

»Hört zu«, sagte Still ernst vom Rücken eines Pferdes herunter, »und unterbrecht mich nicht. Der Krieg ist etwas Schreckliches. Was uns treibt, ist teils die Loyalität unserer Familie gegenüber und die Vorstellung, dass die Dinge schon seit wir denken können so waren, und teils der Hunger und das Bestreben, denen zu folgen, die unser politisches Geschehen lenken. In jedem Falle ist es nicht unser innigstes Ziel, unseren Bruder zu töten oder unseren Nachbarn. Und doch tun wir es, verblendet von diesen anderen Gegebenheiten. Ich weiß, dass ihr Konföderierten eine Menge Brüder unserer Union umgebracht habt, obgleich sie die weiße Flagge gehisst hatten. Macht es Spaß, auf diese Weise zu töten?

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf wollte ich euch heute erschießen, als ich euch kommen sah, und vielleicht sollte ich es auch tun … euch mit Kaffee und warmem Essen erschießen, um euren Kummer in Freude zu wandeln. Nun verschwindet und schleppt eure schmutzigen Gerippe zum Versorgungslager und langt tüchtig zu.«

Zusammengezogene Augenbrauen machten in den Gesichtern der verzweifelten Männer erleichtertem Lächeln Platz.

Am nächsten Tag folgten sie den Truppen von Price und sahen die Staubwolke ostwärts ziehen. Sie verfolgten sie etwa 90 Meilen bis über die Grenze zwischen Missouri und Kansas.

Bald erhielt Still den Befehl, die auf Zeit verpflichteten Freiwilligen unabhängig von ihrem Zustand aus seiner Kompanie zu entlassen und sie zu ihrer wohlverdienten Pause nach Hause zu schicken, damit sie wieder zu ihren Familien kämen. An der Grenze tobte der Krieg und die Verhältnisse waren schrecklich. Die Belastung für die Familien war auch ohne Krieg schon enorm. Vorwärtsgetrieben ohne Atempause, mit der Gefahr von Desertion und Demoralisierung im Nacken, wurden die Soldaten zu jener harten Bande geschmiedet, die sie nun eben waren. Mochte auch die eine Seite für die Union kämpfen: Beide Seiten fochten doch für das gleiche Ziel – Freiheit!

Drew setzte den Entlassungsbefehl um – allerdings in seiner ganz typischen Art. Er versammelte die Kompanie und forderte sie heraus:

»Ich möchte wie gesagt nicht, dass irgendeiner von euch den anstrengenden Marsch, der vor uns liegt, auf sich nimmt und sich weiter in diesen schrecklichen Konflikt begibt, wenn er dem nicht gewachsen ist. Sollte irgendjemand zu krank, zu zaghaft oder zu schwach sein, sich uns anzuschließen oder sich aus irgendeinem anderen Grunde nicht in der Lage fühlen, die Härte und die Gefahr zu ertragen, muss er nicht mitkommen. Aber all jene, die sich bereit erklären, mit mir durch jede Strapaze oder Gefahr zu gehen, treten sechs Schritte vor.

Na, wie viele von euch folgen mir? Wie viele haben den Ehrgeiz, die Entschlossenheit, die Sache durchzuziehen?«

Darauf folgte ein Moment der Stille und der Besinnung. Viele neigten ihre Köpfe und durchforschten ihre Seelen. Bilder von ihren Familien stiegen in ihnen auf, die Angst vor erneuter Verwundung und Erschöpfung, Hunger – das Grausen vor weiterem Töten – viele schreckten davor zurück.

»Wie viele? Sechs Schritte vortreten!«

Stille, Zögern, dann trat der Erste vor, weitere folgten. Alles in allem trat ein Drittel der Männer vor.

ABB. 04: MARY VAUGHN, CA. 1855

»Sehr gut, Jungs. Doch wir haben andere Befehle. Wir alle gehen nach Hause!« Still brach in ein schallendes Gelächter aus, das sich schnell durch die Truppe fortsetzte. Freudige Gewehrsalven wurden abgegeben, Hüte in die Luft geschleudert, Pferde wieherten.

Hauptmann Brandon an Stills Seite bemerkte: »Gut gemacht, Major!«, und ritt davon. Still zügelte sein unruhiges Reittier und schaute einen Moment den wegziehenden Männern gedankenverloren hinterher. Dann lenkte er sein Ross durch ein sanftes Ziehen westwärts.

Derlei Erinnerungen strömten auf Still ein, während er nun hier in Kirksville saß und die frühe Maisonne genoss. Dankbar dachte er an die Stimme, die ihn damals zurück ins Bewusstsein gebracht hatte. »Danke, Mary, dass du an jenem Tag für mich da gewesen bist. Danke, dass du heute für mich da bist.« Das Leben ist so vollkommen und so eigenartig, dachte Still. Nach all der Zeit – man schrieb mittlerweile das Jahr 1899 – und trotz seiner glücklichen zweiten Ehe mit Mary Turner schien seine erste Frau Mary Vaughn immer noch eine Seelenverwandte und tägliche Begleiterin für ihn zu sein. Er sprach oft mit ihr und es schien ihm ganz natürlich.

Feuer in der Prärie!

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