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Die soziale Erzeugung moralischer Indifferenz

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Dr. Servatius, der Verteidiger Eichmanns in Jerusalem, faßte seine Verteidigungslinie so zusammen: Eichmann beging Taten, für die man als Sieger dekoriert, als Unterlegener aber an den Galgen kommt. Die Botschaft dieser Aussage – zynischere hat es in diesem an provozierenden Einsichten nicht gerade armen Jahrhundert kaum gegeben – ist banal: Wer die Macht hat, hat das Recht.

Die zweite Botschaft, versteckter, jedoch nicht weniger zynisch und viel alarmierender ist diese: Eichmann habe im Prinzip nichts getan, was nicht auch auf seiten der Sieger geschehen sei. Handeln an sich hat keine ethische Dimension und kann daher auch nicht unmoralisch sein. Die moralische Beurteilung wird der Handlung von außen aufgepfropft und ist grundsätzlich anderen Kriterien unterworfen, als jene es sind, die das Handeln selbst bestimmen.

Das Beunruhigende an der Botschaft des Dr. Servatius ist, daß sie – losgelöst von den Umständen, unter denen sie formuliert wurde, und reduziert auf ihren überindividuellen, universalen Kern – von den traditionellen Thesen der Soziologie nicht zu unterscheiden ist, mehr noch: nicht zu unterscheiden von dem, was das Selbstverständnis unserer – kaum je hinterfragten, geschweige denn umstrittenen – modernen rationalistischen Gesellschaft ist. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß die Aussage von Dr. Servatius so schockierend ist. Sie enthält eine »Wahrheit«, vor der wir lieber die Augen schließen: Legt man diese Überzeugung der Wahrheitsfindung zugrunde, dann kann auch der Fall Eichmann, soziologisch gesehen, von dieser Wahrheit nicht ausgenommen werden.

Der Holocaust kann mittlerweile nicht mehr, wie anfänglich, als Greueltat von geborenen Verbrechern, Sadisten, Psychopathen, Soziopathen oder moralisch defekten Individuen interpretiert werden. Die Fakten widerlegen diese Theorie, obwohl die historische Forschung zu diesem Komplex keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der Forschung sind Kren und Rappoport:

Legt man herkömmliche klinische Kriterien zugrunde, könnte man höchstens 10 Prozent der SS-Leute als ›anomal‹ bezeichnen. Diese Beobachtung läßt sich mit Aussagen von KZ-Überlebenden belegen, denen zufolge in den meisten Lagern nur einige wenige SS-Aufseher wegen besonders sadistischer Grausamkeiten berüchtigt waren. Galten die übrigen auch nicht unbedingt als anständig, so doch zumindest als berechenbar …

Wir sind der Überzeugung, daß die überwiegende Mehrheit der SS-Männer, Führer sowohl als Mannschaften, ohne Probleme die Anforderungen der psychologischen Standardtests für amerikanische Rekruten oder Polizisten erfüllt hätten.24

Daß die Mehrzahl der Vollstrecker des Genozids normale Menschen waren, die man selbst mit strengen herkömmlichen psychologischen Tests nicht hätte aussieben können, verletzt unser moralisches Empfinden. Aus wissenschaftlicher Sicht muß ferner zu denken geben, daß gleichzeitig auch die organisatorisch-administrativen Strukturen, die individuelles Handeln zu dem Gesamtprojekt Genozid zusammenfaßten, ganz »normal« waren. Wir haben bereits gesehen, daß die für den Holocaust verantwortlichen Institutionen zwar kriminelle, jedoch im eigentlichen soziologischen Sinn keine pathologischen oder anomalen Merkmale aufwiesen. Und nun erkennen wir, daß auch die handelnden Personen im wesentlichen nicht von der Norm abwichen. Dieses theoretische Dilemma zwingt uns, die vermeintlich unproblematischen, normalen Muster modernen, rationalen Handelns genauer zu durchleuchten, denn sie tragen in sich ein Potential, das im Holocaust so dramatisch ans Licht getreten ist.

Nach dem berühmt gewordenen Wort von Hannah Arendt bestand das größte (allerdings mit erstaunlichem Erfolg gemeisterte) Problem der Urheber der Endlösung* darin, »das animalische Mitleid auszuschalten, das jeder normale Mensch angesichts physischer Leiden empfindet«25. Die Personen, die den an der Massenvernichtung direkt involvierten Organisationen angehörten, waren weder anomal sadistisch veranlagt, noch ausgesprochene Fanatiker. Man darf annehmen, daß sie die instinktive menschliche Aversion gegen das Zufügen von Leid besaßen und höchstwahrscheinlich auch die universale Tötungshemmung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß übereifrige, emotionalisierte und ideologisch fanatisierte Personen aus den Reihen der Einsatzgruppen* und ähnlicher Einheiten, die direkt an Tötungsaktionen teilnahmen, ausgemustert wurden. Man wollte die individuelle Initiative bremsen und bemühte sich um eine betont sachliche, unpersönliche »Erledigung« der Aufgabe. Persönliche Bereicherung und persönliche Motive waren unter Strafandrohung verboten. Wurden »niedere Beweggründe« – und nicht die befohlene organisierte Aktion – als Motiv nachgewiesen, führte dies (zumindest auf dem Papier) zu einer Bestrafung wegen Mordes oder Totschlags. Himmler hat bei zahlreichen Anlässen eine aller Wahrscheinlichkeit nach echte Besorgnis geäußert, wie die geistige Gesundheit und Moral seiner tagtäglich mit dem inhumanen Geschäft befaßten Untergebenen aufrechtzuerhalten sei; bei anderer Gelegenheit zeigte er sich sichtlich stolz, daß Gesundheit und Moral seiner Männer unter dieser Belastungsprobe nicht gelitten hätten. Die SS distanzierte sich gerade wegen ihrer Sachlichkeit* von ›emotionalen‹ Typen wie Streicher, dem »unrealistischen Narren«, und auch von gewissen »Parteibonzen, die sich teutonisch-germanisch gebärdeten, als wären sie mit Hörnern und Fell bekleidet«.26 Die SS-Führung wußte, warum sie sich lieber auf organisatorische Routine verließ als auf individuellen Eifer; Disziplin war wichtiger als ideologisches Engagement. Die pflichtgetreue Durchführung des blutigen Geschäfts ließ sich in der Tat nur mit bedingungsloser Funktionalität im Rahmen der Organisation absichern.

Man konnte »animalisches Mitleid« nicht ausschalten, indem man andere primitive Instikte freisetzte; diese mußten sich eher störend auf organisatorische Handlungsfähigkeit auswirken. Blutrünstige, mordlüsterne Horden können sich mit der kalten Effizienz eines kleinen, disziplinierten und streng durchorganisierten bürokratischen Stabes nicht messen. Eine aktive Beteiligung am Töten hätten die Tausende von normalen Beamten und Fachleuten, ohne deren Mitwirken auf den verschiedensten Ebenen dieses gigantische Unternehmen undurchführbar gewesen wäre, weit von sich gewiesen. Hilberg schreibt dazu:

Die Täter wurden unter der deutschen Bevölkerung nicht eigens ausgewählt … Es lag in der Natur der administrativen Organisation, des juristischen Systems und der Finanzverwaltung, daß eine spezielle Auswahl und Schulung gar nicht nötig war. Jedes Mitglied der Ordnungspolizei konnte als Aufseher eines Ghettos oder Deportationszuges eingesetzt werden. Von jedem Juristen des Reichssicherheitshauptamtes wurde erwartet, eine Einsatzgruppe führen zu können. Und jeder Finanzfachmann des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes hatte die Vorausetzungen für den Dienst in einem Todeslager. Die gesamte Aufgabe ließ sich also mit dem bereits vorhandenen Personal bewältigen.27

Und wie wurden ganz normale Deutsche zu Massenmördern? Folgt man Herbert C. Kelman28, so werden moralische Hemmungen gegen Gewalt und Greueltaten abgebaut, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, ganz gleich ob diese einzeln oder in Kombination auftreten. Die Gewalt muß durch Befehl von oben autorisiert sein, die Handlungen müssen Routinesache sein (durch eine regelbestimme Praxis und exakte Aufgabenzuweisung) und die Opfer müssen einem Prozeß der Dehumanisierung unterliegen (durch ideologische Definition und Indoktrination). Mit der dritten Bedingung werden wir uns erst später befassen, doch die beiden ersten klingen vertraut. Wir kennen sie als Prinzipien rationalen Handelns, in denen die repräsentativsten Institutionen der Moderne universal verankert sind.

Das erste für unsere Fragestellung offensichtlich relevante Prinzip innerhalb bürokratischer Apparate ist das der Disziplin, konkret also der Anspruch, alle Handlungsantriebe dem Gehorsam gegenüber Vorgesetzten unterzuordnen und sich dem durch Anweisung des Vorgesetzten definierten Funktionieren des Apparates mit ausschließlicher Hingabe zu widmen. Unter den möglichen »externen« Störfaktoren gelten persönliche Ansichten und Vorlieben als besonders bedenklich, daher werden sie unterdrückt und möglichst beseitigt. Idealerweise strebt die Disziplin eine totale Identifikation mit dem Apparat an oder, anders ausgedrückt, die Bereitschaft, die eigene Identität und die eigenen Ziele zu opfern (sofern sie nicht sowieso schon in den Zielen des Apparates aufgehen). In der Ideologie von Apparaten wird die Bereitschaft zu dieser extremen Form der Selbstaufopferung als moralische Tugend bezeichnet, und zwar als Kardinaltugend, die jeden anderen moralischen Anspruch verdrängt. Die selbstlose Unterordnung unter diese Tugend wird mit Max Webers berühmtem Wort zur »Ehre des Beamten«: »Die Ebene des Beamten liegt begründet in seiner Fähigkeit, die Befehle seiner Vorgesetzten so auszuführen, als beruhten sie auf eigener Überzeugung. Das gilt auch dann, wenn der Befehl ihm falsch erscheint und der Vorgesetzte trotz der Einwände des Beamten daran festhält.« Diese Verhaltensweise erfordere vom Beamten »moralische Disziplin und hochgradige Selbstverleugnung«29. Im Begriff der Ehre wird moralische Verantwortung durch Disziplin ersetzt. Die Legitimierung allein durch Geist und Buchstaben der Regeln des Apparates und, verbunden damit, die Entmachtung der autoritativen Kraft des Gewissens gelten als höchste Tugend. Unbehagen bei der praktischen Umsetzung ist nicht grundsätzlich auszuschließen, kann aber durch die Zusicherung des Vorgesetzten im Lot gehalten werden, er allein trage die Verantwortung für das Handeln des Untergebenen (solange der Befehl genau ausgeführt wird). Max Weber hob in seiner umfassenden Darstellung der Beamtenehre die »ausschließliche persönliche Verantwortung« des Vorgesetzten hervor, die dieser »nicht verweigern oder übertragen kann und darf«. Als Ohlendorf während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gefragt wurde, warum er von seinem Posten als Leiter der Einsatzgruppe*, deren Aktionen er persönlich mißbilligte, nicht zurückgetreten sei, berief er sich auf dieses Verantwortungsprinzip: Um sich der verhaßten Verantwortung entziehen zu können, hätte er die Taten seiner Einheiten aufdecken und seine Männer »falschen Anschuldigungen« aussetzen müssen. Ohlendorf zählte andererseits auf die gleiche fürsorgliche Einstellung seitens seiner eigenen Vorgesetzten, so daß er sich entsprechend von moralischen Skrupeln entlastet fühlte – diese überließ er getrost den eigenen Befehlsgebern – »Ich glaube, ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, ob die mir befohlenen Maßnahmen … moralisch einwandfrei waren. Gewissensfragen konnte ich mir als Soldat mit niedrigem Dienstgrad und daher als Rad in einer großen Maschinerie nicht erlauben.«30

So wie alles, was Midas berührte, zu Gold wurde, so verwandelte die SS-Verwaltung alles, was in ihren Machtbereich geriet – einschließlich der Opfer – ihren hierarchischen Befehlsstrukturen an, in denen strenge Disziplin und moralisch gesehen ein Vakuum herrschte. Der Genozid war eine Kollektivproduktion; wie Hilberg gezeigt hat, gehörten dazu die von Deutschen begangenen Taten und die – auf deutschen Befehl, aber mit an Selbstaufgabe grenzendem Gehorsam geleistete – Mitwirkung der jüdischen Opfer. Besonders darin erweist sich die technische Überlegenheit einer zielgerichteten, rationell organisierten Massenvernichtung gegenüber ungeordnet gewalttätigen Ausschreitungen. Die Mitwirkung der Opfer eines Pogroms ist schlechterdings nicht vorstellbar. Die Unterstützung der SS-Bürokratie im Holocaust durch die Opfer war vorausgeplant und sogar eine entscheidende Voraussetzung für dessen Gelingen. »Der gesamte Prozeß hing in großem Maße von der jüdischen Mitwirkung ab – sowohl in individueller Form als auch organisiert seitens der Judenräte … die deutschen Behörden verlangten von den Judenräten Informationen, Geld, Arbeits- oder Ordnungskräfte, und diese wurden zur Verfügung gestellt.« Die Ausweitung der bürokratischen Regeln, bei der gleichzeitig jedes andere Loyalitätsverhältnis und jedes moralische Motiv zum Schaden der Opfer dieser Bürokratie kriminalisiert wurde, um sie schließlich mit deren eigener Intelligenz und Arbeitskraft zu vernichten, entsetzt. Entsprechende Mechanismen lassen sich aber in jeder Form von Bürokratie, ob nun bösartig oder mildtätig, entdecken. Im Fall des Holocaust gelang dies zum einen durch die Organisation der Ghettos, die die Judenräte und die Ghettobewohner in jeder Hinsicht den »funktionalen« Zwecken der Deutschen unterwarf. »Was die Lebensfähigkeit [des Ghettos] aufrechterhielt, diente automatisch deutschen Zielen… das jüdische Geschick bei der Zuteilung von Wohnraum oder der Verteilung der Lebensmittelrationen erhöhte die deutsche Effizienz. Jüdische Rigorosität in der Steuereintreibung oder bei der Arbeitseinteilung diente der Durchsetzung deutscher Härte, selbst die Unbestechlichkeit konnte der deutschen Verwaltung noch nützlich sein.« Zum zweiten wurde in jeder Etappe der Vernichtung Wert darauf gelegt, den Opfern eine Wahlmöglichkeit nach Maßgabe rationaler Kriterien zu bieten, wobei die rational sinnvolle Entscheidung automatisch dem »geplanten Ziel« diente. »Die phasenweise Deportation der Juden war raffiniert, weil diejenigen, die zunächst verschont geblieben waren, sich damit trösten konnten, manchmal müßten einige Wenige für die Gesamtheit geopfert werden.« Selbst den Deportierten ließ man bis zu ihrem Ende zum Schein die Möglichkeit rationaler Entscheidung. Die Gaskammern wurden als »Waschräume« bezeichnet – nach Tagen in überfüllten, verdreckten Viehwaggons eine willkommene Vorstellung. Und selbst diejenigen, die sich keiner Illusion mehr hingaben, konnten entscheiden zwischen dem »schnellen und schmerzlosen« Tod oder dem zusätzlichen unsäglichen Leiden, das die Widerspenstigen erwartete. Nicht nur die von den Opfern unbeeinflußte Einbindung der Ghettos in die Vernichtungsmaschinerie war bis ins Detail durchgeplant; man machte sich auch die rationalen Fähigkeiten der »Funktionsträger« zunutze, um Verhalten zu erzeugen, das von Pflichterfüllung und Kooperation im Sinne des bürokratisch definierten Zwecks erfüllt war.

Dialektik der Ordnung

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