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Die moralischen Konsequenzen des Zivilisationsprozesses

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Es gibt in der Soziologie verschiedene Konzepte für den Zivilisationsprozeß, doch das geläufigste nennt zwei Kernpunkte: Der Zivilisationsprozeß unterdrückt irrationale und im wesentliche antisoziale Triebe und drängt die Gewalt unwiderruflich, wenn auch nur allmählich aus dem sozialen Leben (genauer: der Zivilisationsprozeß konzentriert die Gewalt unter der Kontrolle des Staates, der das Machtmonopol zur Sicherung der Außengrenzen der nationalen Gemeinschaft und der sozialen Ordnung nutzt). Die beiden Kernpunkte werden in einer zivilisierten Gesellschaft – zumindest nach westlich-moderner Auffassung – durch eine moralische Kraft zusammengehalten. Institutionen kooperieren und ergänzen einander bei der Durchsetzung einer normativen und durch Gesetze geregelten Ordnung, die ein in vor-zivilisierten Gesellschaften unbekanntes Maß an sozialem Frieden und Sicherheit des einzelnen garantieren.

Diese Vorstellung ist nicht grundsätzlich falsch, wirkt in Kenntnis des Holocaust jedoch naiv und einseitig. Zwar sind in diesem Zusammenhang wichtige historische Entwicklungslinien offenbar geworden, die Untersuchung nicht minder folgenreicher Tendenzen wurde aber vernachlässigt. Man konzentrierte sich auf einen einzigen Aspekt des historischen Zivilisationsprozesses und zog eine willkürliche Trennungslinie zwischen Normalität und Anomalie. Verstörende Aspekte der Zivilisation wurden kriminalisiert und mit ihrem zufälligen, vorübergehenden Charakter erklärt; gleichzeitig überging man die auffallende Kongruenz zwischen einigen konstitutiven Merkmalen dieser ausgegrenzten Phänomene und den normativen Annahmen der Moderne. Die Kontinuität des alternativen, destruktiven Potentials des Zivilisationsprozesses blieb weitgehend unbeachtet, Theoretiker, die auf die Doppelgesichtigkeit moderner sozialer Ordnungen hinwiesen, wurden ignoriert und ins Abseits gerückt.

Die wichtigste Lehre aus dem Holocaust muß sein, diese Kritik ernst zu nehmen und das Modell des Zivilisationsprozesses derart zu erweitern, daß dessen Tendenz zur Entkräftung ethischer Motive für soziales Handeln deutlich wird. Man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der Zivilisationsprozeß unter anderem den Einsatz von Gewalt aus dem Bereich moralischen Entscheidens herausgelöst und die Anforderungen der Rationalität von ethischen Normen und moralischen Skrupeln befreit hat. Das Vordringen der Rationalität auf Kosten anderer möglicher Handlungskriterien und insbesondere die Tendenz, rational begründbare Gewaltanwendung zuzulassen, ist schon früh als konstitutives Merkmal der modernen Zivilisation erkannt worden. Phänomene von der Dimension eines Holocaust sind daher als gesetzmäßige Folgen des Zivilisationsprozesses und als dessen latentes Potential zu betrachten.

Max Webers erhellende Darstellung der Bedingungen und Mechanismen des Rationalismus enthüllt, mit nachträglicher Einsicht gelesen, wichtige und doch bisher weitgehend unterschätzte Zusammenhänge. Die Bedingungen rationaler Geschäftsführung – wie etwa die bekannte Trennung zwischen privatem Haushalt und Wirtschaft, Privateinkommen und öffentlichen Ausgaben – bergen zugleich bedrohliche Tendenzen, da sie zweckorientiertes, rationales Handeln von der Berührung mit anders (das heißt irrational) gesteuerten Prozessen isolieren und so eine Immunisierung vor potentiell hemmenden Faktoren wie Hilfsbereitschaft (gegenseitiger Unterstützung), Solidarität, gegenseitigem Respekt bewirken können, die den Bereich nichtwirtschaftlicher Gebilde bestimmen. Diese Tendenz zur Rationalisierung tritt uns in der modernen Bürokratie idealtypisch systematisiert und institutionalisiert entgegen. Liest man Max Weber aus heutiger Sicht, so ist die Ausschaltung moralischer Aspekte eines der Hauptanliegen der Bürokratie, ja sogar die Grundvoraussetzung für deren Erfolg als Koordinationsinstanz rationalen Handelns. Und das schließt die Kapazität zur Erzeugung Holocaust-ähnlicher Lösungen ein, die im Rahmen der alltäglichen Problembewältigung vollzogen werden.

Jede Neuformulierung der Theorie des Zivilisationsprozesses in diese Richtung erfordert notwendig eine Neubesinnung der Soziologie selbst. Art und Stil der Soziologie haben sich der modernen Gesellschaft analysierend angepaßt. Seit ihrer Entstehung unterhält die Soziologie eine mimetische Beziehung mit ihrem Gegenstand – oder, zutreffender vielleicht, mit der Vorstellung von diesem Gegenstand, als Bezugspunkt für den eigenen Diskurs konstruiert und akzeptiert. Derart bekennt sich die Soziologie zu eben den Prinzipien rationalen Handelns, die sie für ihren Gegenstand’ als konstitutiv ansieht. Die Unzulässigkeit ethischer Problemstellungen ist verbindlich für den eigenen Diskurs, da diese begrenzt gültigen Ideologien zugeschrieben werden und soziologischer, d. h. rationalwissenschaftlicher Beschäftigung nicht angemessen scheinen. Begriffe wie die »Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens« oder »moralische Pflicht« klingen daher in einem Soziologieseminar ähnlich fremdartig wie in den desinfizierten sterilen Büros des Verwaltungsapparates.

Wenn die Soziologie diese Prinzipien in der fachlichen Praxis beachtete, so hielt sie sich damit durchaus an die Gepflogenheiten der Wissenschaftskultur allgemein. Auch diese hat als Teil des Rationalisierungsprozesses eine genaue Analyse bitter nötig. Die Verdrängung moralischer Fragestellungen in der Wissenschaft kann böse Folgen haben: Man erinnere sich, daß der Massenmord und die Beseitigung der Leichen in Auschwitz als »medizinisches Problem« angegangen wurden. Franklin M. Littells Warnung vor einer Glaubwürdigkeitskrise der modernen Universität ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen: »Welche medizinische Fakultät brachte Mengele und seine Komplizen hervor? Welche anthropologische Abteilung lieferte die Mitarbeiter für das ›Institut für Erbforschung‹ an der Straßburger Universität?«37 Um Mißverständnissen darüber vorzubeugen, wer sich durch solche Fragen angesprochen fühlen sollte – sie sind keineswegs von nur zeitgeschichtlicher Bedeutung, wie Colin Grays Untersuchung über die Motive des Wettrüstens zeigt: »Wissenschaftler und Technologen auf beiden Seiten treten in erster Linie an, um eigenes Wissen zu vermehren (der Gegner ist weniger die sowjetische Technologie, vielmehr das Unbekannte, das die wissenschaftliche Neugier anzieht) … Wen wundert es da, daß motivierte, fachlich hochqualifizierte und finanziell gut ausgestattete Forscherteams am laufenden Band neue, raffinierte Waffenkonzepte produzierten?«38

Eine erste Fassung dieses Kapitels erschien im Dezember 1988 im British Journal of Sociology.

* im Original deutsch

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Dialektik der Ordnung

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