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Vorwort

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Nachdem Janina ihre Erinnerungen an die Zeit im Ghetto und im Untergrund niedergeschrieben hatte, dankte sie mir, ihrem Ehemann, für das Verständnis während ihrer langen Abwesenheit in den zwei Jahren, in denen sie an ihrem Buch schrieb und die sie in eine Welt zurückführte, die »nicht die seine« war. Mir war es gelungen, dem Schrecken und der Unmenschlichkeit zu entkommen, als sie in die fernsten Winkel Europas vordrangen. Und wie viele meiner Zeitgenossen unternahm ich später niemals den Versuch, das Geschehene zu ergründen, sondern überließ es den Alpträumen und den niemals heilenden Wunden jener, die ihre Angehörigen verloren hatten oder ihrer Persönlichkeit beraubt worden waren.

Natürlich wußte ich genug über den Holocaust. Das Bild, das ich davon hatte, entsprach dem vieler anderer aus meiner Generation oder dem der Jüngeren: ein entsetzliches Verbrechen, das die Bösen an den Unschuldigen verübt hatten. Die Welt des Holocaust zerfiel in anomale Mörder und hilflose Opfer und jene, die versucht hatten, den Opfern zu helfen, soweit es eben ging. Nach dieser Vorstellung begingen die Mörder ihre Verbrechen, weil sie Psychopathen waren oder von einer wahnwitzigen Idee besessen; die Opfer wurden hingeschlachtet, weil sie dem übermächtigen, schwer bewaffneten Gegner nichts entgegenzusetzen hatten; und die übrige Welt hatte erschüttert zusehen müssen, bis der Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten dem unsäglichen Leiden ein Ende bereitete. Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun hat.

Nach der Lektüre von Janinas Buch wurde mir bewußt, wie gering mein Wissen war – oder besser, wie wenig ich nachgedacht hatte. Mir dämmerte, daß ich überhaupt keine Vorstellung hatte von jener Welt, die »nicht die meine war«. Was dort geschehen war, entzog sich allen einfachen und gedanklich befriedigenden Erklärungsversuchen, die ich bis dahin für ausreichend gehalten hatte. Der Holocaust war nicht nur ein finsteres, schreckliches Geschehnis, sondern ließ sich mit gewohnten, »normalen« Kategorien nicht erfassen. Der Holocaust besaß seinen eigenen Code, den es zu entschlüsseln galt.

Ich begann mich dafür zu interessieren, was Historiker, Sozialwissenschaftler und Psychologen über den Holocaust herausgefunden hatten. Ich stöberte in Bibliotheksregalen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Der Faktenreichtum der vielen historischen Studien und die Seriosität der theologischen Traktate, auf die ich stieß, war außerordentlich. Es gab sogar einige wenige sorgfältig recherchierte und gut beschriebene soziologische Untersuchungen. Die Analyse der von den Historikern zusammengetragenen Fakten ließ nur eine Schlußfolgerung zu: Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, daß es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht zu tun.

Anfangs war der Blick durch dieses Fenster für mich fremd, und darin glich ich vielen meiner Fachkollegen. Wie die meisten Soziologen nahm ich an, der Holocaust sei bestenfalls ein Untersuchungsgegenstand für die Sozialwissenschaften; daß der Holocaust seinerseits unseren Untersuchungsgegenstand erhellen könnte, ahnte ich nicht. Der Holocaust schien mir (weil ich es nicht besser wußte) eine Unterbrechung des normalen Ganges der Geschichte, ein Krebsgeschwür am Körper der zivilisierten Gesellschaften, ein Fall von Wahnsinn inmitten gesunder Verhältnisse. Nur deshalb konnte ich meinen Studenten ein Bild von der normalen, gesunden Gesellschaft zeichnen, denn ich glaubte, den Holocaust den Spezialisten für Pathologisches überlassen zu können.

Meine Selbstzufriedenheit und die meiner Kollegen wurde gefördert (auch wenn dies keine Entschuldigung sein darf) durch die Art und Weise, in der das Vermächtnis des Holocaust vereinnahmt und behandelt wurde. Im kollektiven Bewußtsein gilt der Holocaust als Tragödie der Juden und der Juden allein; von den anderen wird nicht viel mehr als Bedauern, Mitleid, vielleicht auch Rechtfertigung verlangt. Wieder und wieder von Juden und Nichtjuden wurde der Holocaust als kollektives Schicksal und Privatangelegenheit der Juden dargestellt, argwöhnisch bewacht von denen, die den Erschießungen und Gaskammern entkommen waren, oder von den Kindern der Ermordeten. Unter dem Strich ergänzten sich die »Innen«- und die »Außenperspektive«. Selbsternannte Sprecher der Opfer warnten vor einer Verschwörung derer, die den Juden den Holocaust entreißen und »christianisieren« oder sein spezifisch jüdisches Gepräge zu einer Frage der »Humanität« machen wollten. Der Staat Israel versuchte, die tragische Erinnerung in ein Zertifikat seiner politischen Legitimität, in einen Freibrief für die frühere und zukünftige Politik und sozusagen als Vorschuß auf das von ihm selbst begangene Unrecht umzumünzen. Alle diese Gründe trugen dazu bei, daß sich der Holocaust in das öffentliche Bewußtsein als rein jüdische Angelegenheit eingrub, die von nur geringer Bedeutung für die heutige Gesellschaft und die in ihr Lebenden (seien sie nun Juden oder nicht) ist. Wie sehr die Bedeutung des Holocaust fatalerweise auf die des privaten Traumas einer einzigen Nation reduziert worden ist, erlebte ich an einem gelehrten, klugen Freund. Als ich mich darüber beklagte, wie wenig allgemeingültige Schlußfolgerungen aus dem Holocaust in der soziologischen Literatur zu finden seien, war seine Reaktion: »Das finde ich auch erstaunlich, wenn man bedenkt, wieviel jüdische Soziologen es doch gibt.«

Der Holocaust wird zu Jahrestagen und besonderen Anlässen thematisiert, normalerweise in jüdischen Gemeinden oder vor einer jüdischen Zuhörerschaft. Universitäten bieten Kurse über die Geschichte des Holocaust an, wenn auch außerhalb der normalen Lehrveranstaltungen. Der Holocaust gilt als Spezialthema der jüdischen Geschichte, es gibt Fachleute, die einander auf Tagungen und Symposien immer wieder begegnen. Doch ihre produktive und äußerst interessante Forschungsarbeit findet nur selten Eingang in die allgemeine Fachwissenschaft oder das kulturelle Leben – was natürlich auf viele Spezialgebiete in unserer Welt der Spezialisten und des Spezialistentums zutrifft.

Wenn Erkenntnisse diesen Weg schließlich doch einmal finden, dann betritt der Holocaust die öffentliche Bühne in der Regel in gereinigter, demobilisierender und abgemilderter Form. Im Einvernehmen mit den gängigen Mythen rüttelt der Holocaust das Publikum als menschliche Tragödie auf, ohne jedoch die Selbstzufriedenheit zu tangieren. Ein Beispiel ist die amerikanische Fernsehserie Holocaust: Sie zeigte, wie gebildete, kultivierte Arztfamilien aufrecht, würdevoll und moralisch unversehrt in die Gaskammer gingen, geführt von widerlichen, degenerierten Nazischergen und ihren ungeschlachten, blutrünstigen slawischen Gehilfen. David G. Roskies, ein scharfsinniger und einfühlsamer Beobachter der jüdischen Reaktionen auf die Apokalypse, hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Beobachtung gemacht: Sei die Ghetto-Dichtung zunächst durch Nachdenklichkeit gekennzeichnet gewesen, so habe sich in den späteren Versionen – wie durch schleichende Selbstzensur – jüdisches Selbstbewußtsein durchgesetzt. »Je mehr die Zwischentöne verdrängt wurden«, so Roskies, »desto mehr bildeten sich die bekannten archetypischen Konturen des Holocaust heraus: Die jüdischen Opfer waren absolut gut, die Nazis und ihre Kollaborateure absolut böse.«1 Hannah Arendt löste einen Sturm der Empörung aus, als sie die These wagte, die Opfer eines unmenschlichen Regimes hätten auf dem Weg in die Vernichtung notgedrungen einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren. Der Holocaust war ohne Zweifel eine jüdische Tragödie. Zwar waren die Juden nicht die einzigen, die dem Naziregime zum Opfer fielen (auf Geheiß Hitlers starben 20 Millionen Menschen, davon 6 Millionen Juden), doch nur für die Juden war die vollständige Vernichtung geplant, da sie in der Neuen Ordnung der Nationalsozialisten keinen Platz hatten. Dennoch: Der Holocaust ist nicht einfach ein jüdisches Problem und nicht ausschließlich ein Element jüdischer Geschichte. Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden. Die Verdrängungsprozesse im historischen Gedächtnis unserer modernen Gesellschaft sind aus diesem Grunde mehr als nur Ignoranz, die die Opfer der Genozids verletzen muß; sie sind auch ein Indiz für eine gefährliche, potentiell suizidale Blindheit.

Wenn hier von einem Verdrängungsprozeß die Rede ist, bedeutet das nicht, daß der Holocaust aus dem Gedächtnis schwindet. Im Gegenteil. Abgesehen von einigen revisionistischen Kreisen, die die historischen Fakten abstreiten (und so durch die Schlagzeilen, die sie machen, ungewollt für mehr Aufsehen sorgen), nimmt das öffentliche Interesse an den grausamen Fakten des Holocaust eher noch zu. Das gesamte Thema hat – zumindest als Rahmenthema – einen festen Platz in Filmen, im Fernsehen und in der Literatur gefunden. Dennoch findet der Verdrängungsprozeß statt, denn zwei Vorgänge wirken zusammen.

Zum einen wird die Geschichte des Holocaust zunehmend in ein Spezialgebiet mit eigenen wissenschaftlichen Instituten, Stiftungen und Symposien abgedrängt. Ein bekannter Effekt dieser Verzweigung in Fachdisziplinen ist, daß das Spezialgebiet eine nur sehr lockere Verbindung mit der allgemeinen Forschung hält; die allgemeine Forschung bezieht nur wenige Impulse aus den Erkenntnissen der Spezialisten, insbesondere dann, wenn diese ihre eigene Sprache und Begrifflichkeit entwickeln. Das wissenschaftliche Spezialgebiet wird gewissermaßen partikularisiert und marginalisiert, das heißt, es verliert an Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis. Die Folge ist, daß der Umfang und die wissenschaftliche Qualität der Spezialuntersuchungen zum Holocaust zwar in beeindruckender Weise zunehmen, daß die Beschäftigung mit diesem Thema aber kaum noch Eingang in allgemeinhistorische Darstellungen findet.

Ein weiterer Vorgang ist die bereits erwähnte Einfriedung des Holocaust im öffentlichen Bewußtsein. Der Holocaust ist an Gedenkfeiern und die damit verbundenen Reden geknüpft. Veranstaltungen dieser Art haben ihren Sinn, doch sie tragen nur wenig zur Analyse des Phänomens Holocaust und seiner beunruhigenden, unbequemen Aspekte bei. Eine weitere Tatsache ist, daß die Informationsmedien noch hinter diesem ohnehin beschränkten Diskussionsstand zurückbleiben.

Wenn die Öffentlichkeit mit der schrecklichsten Frage konfrontiert wird, nämlich »Wie war das Entsetzliche im Herzen des zivilisierten Teils der Welt möglich?«, geraten nur wenige darüber aus dem seelischen Gleichgewicht. Untersuchung der Schuld wird verwechselt mit der Forschung nach den Ursachen. Die Wurzeln des Bösen, so hören wir, seien im Wahn Hitlers, in der Unterwürfigkeit seiner Henker, der Brutalität seiner Anhänger und in der von seinen Ideen gesäten Morbidität zu suchen. Außerdem wird darauf verwiesen, die Windungen der deutschen Geschichte, die moralische Abstumpfung der Deutschen als Folge offenen oder latenten Antisemitismus hätten eine wichtige Rolle gespielt. Als Antwort auf die Frage, »wie so etwas möglich gewesen« ist, folgt in der Regel eine Litanei von Fakten über den SS-Horrorstaat, die Bestialität der Nazis oder andere Aspekte der »deutschen Krankheit«, die, wie man uns versichert, »der Entwicklung der Welt zuwiderlaufen«2. Nur wenn die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten und die Ursachen in unserer aller Bewußtsein kämen, sei es möglich »die Wunden, die der Nationalsozialismus der westlichen Zivilisation beigebracht habe, wenn sie schon nicht heilbar sind, wenigstens zu lindern«3. Das könnte heißen, daß die Ursachenforschung abgeschlossen wäre, wenn Deutschland, den Deutschen und den Nationalsozialisten ihre Schuld moralisch und materiell nachgewiesen sei.

Aber die Betonung und Erklärung des Holocaust als deutsches Verbrechen ist verhängnisvoll, denn sie führt dazu, daß alle anderen und insbesondere alles andere entlastet sind. Die Annahme, daß die Vollstrecker des Holocaust eine Wunde oder eine Krankheit unserer Zivilisation und nicht ihr schreckliches, doch legitimes Produkt waren, führt nicht nur zu ungerechtfertigter moralischer Selbstzufriedenheit, sondern kommt einer bedrohlichen moralischen und politischen Kapitulation gleich: Geschah das alles nicht »damals«, in einem anderen Land und einer anderen Zeit? Je mehr Schuld wir »den anderen« zuweisen können, desto mehr wiegen »wir« uns in Sicherheit. Wer die Schuldzuweisung mit Ursachenforschung verwechselt, verschließt die Augen vor dem labilen Zustand der Schuldlosigkeit und Gesundheit unserer Lebensverhältnisse.

Insgesamt gesehen verliert der Holocaust so paradoxerweise viel von seiner Bedrohlichkeit. Seine Botschaft für die Gegenwart und die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, das heißt ihre Institutionen, denen wir vertrauen, oder ihre Wertmaßstäbe, von denen wir unser Handeln und unsere Interaktionsformen leiten lassen, verhallt weitgehend ungehört. Sofern sich Fachleute damit auseinandersetzen, bleiben ihre Erkenntnisse auf den kleinen Kreis der Eingeweihten beschränkt. Es ist an der Zeit, diese Erkenntnisse in das allgemeine Bewußtsein, und wichtiger noch, in die moderne Praxis zu übersetzen.

Die vorliegende Studie ist ein Beitrag zu einer längst überfälligen Aufgabe von großer kultureller und politischer Bedeutung: Diese Aufgabe besteht darin, die soziologischen, psychologischen und politischen Implikationen des Phänomens Holocaust für das Selbstverständnis und die Praxis der Institutionen wie auch der Mitglieder der Gesellschaft zu verdeutlichen. Ich habe mit diesem Buch nicht den Versuch einer neuen historischen Deutung des Holocaust unternommen, sondern mich vielmehr auf die hervorragenden vorliegenden Forschungsarbeiten gestützt. Ziel meiner Studie ist die Kritik zentraler Bereiche der Sozialwissenschaften (möglicherweise auch der Sozialpolitik), die sich aus den Fakten, Dimensionen und dem verborgenen Potential des Holocaust herleitet. Der Zweck der in dieser Untersuchung vollzogenen Analyse ist nicht, einen weiteren Beitrag für eines der Spezialgebiete der Sozialwissenschaften zu liefern, sondern die Ergebnisse von Spezialuntersuchungen für die Sozialwissenschaften allgemein zugänglich und ihre Relevanz für deren Untersuchungen deutlich zu machen und sie somit in den Fokus der sozialen Theorie und Praxis zurückzuführen.

Kapitel 1 referiert die spärlichen Antworten der Soziologie auf theoretisch problematische und praktisch relevante Fragen aus dem Umkreis der Studien zum Holocaust. Einige der Aspekte werden in den folgenden Kapitel aufgegriffen und weiterverfolgt. In den Kapiteln 2 und 3 geht es um die Spannungen, die aus den grenzziehenden Tendenzen unter den Bedingungen der Modernisierung, des Zusammenbruchs der traditionellen Ordnung und der Konsolidierung der modernen Nationalstaaten hervorgegangen sind; ferner werden die Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalen der modernen Zivilisation (besonders ist hier die auf zunehmender Verwissenschaftlichung beruhende Legitimation der sozialplanerischen Ambitionen zu nennen), das Aufkommen rassistischer Umdeutungen kommunaler Antagonismen und der Zusammenhang zwischen Rassismus und dem Genozid untersucht. Ausgehend von meiner These, daß der Holocaust als charakteristisches modernes Phänomen zu sehen ist, dessen Erklärung innerhalb des Kontextes moderner kultureller Tendenzen und technischer Entwicklungen zu suchen ist, behandelt Kapitel 4 das Problem der wahrhaft dialektischen Beziehung von Einzigartigkeit und Normalität des Holocaust (die seinen Status als modernes Phänomen ausmachen); meine Schlußfolgerung: Der Holocaust war das Resultat eines einzigartigen Zusammentreffens im Grunde normaler und gewöhnlicher Faktoren; die Möglichkeit dieses Zusammentreffens entstand in erster Linie durch die Entlassung des politischen Staates aus der sozialen Kontrolle, wodurch wichtige nichtpolitische Machtzentren und die Institutionen sozialer Selbststeuerung zerstört wurden. Das Ergebnis: Aus der Konzentration des staatlichen Gewaltmonopols erwuchs der Spielraum für sozialpolitische Ambitionen. Kapitel 5 geht die undankbare und schmerzvolle Aufgabe an, sich mit dem auseinanderzusetzen, »was wir lieber unausgesprochen ließen«4: nämlich mit den modernen Mechanismen, die die Kooperation der Opfer herbeiführen und den entmenschlichenden Effekt einer auf Zwang beruhenden Autorität verstärken – im Widerspruch zur Vorstellung von der veredelnden und moralisierenden Wirkung des Zivilisationsprozesses. Der »moderne Bezug« des Holocaust, sein Zusammenhang mit der von der modernen Bürokratie bis zur Perfektion entwickelten Form von Autorität, ist Gegenstand des Kapitels 6. Darin werden die hochinteressanten soziopsychologischen Experimente von Milgram und Zimbardo behandelt. Kapitel 7 liefert die theoretische Synthese und Konklusion, erörtert den gegenwärtigen Status der Moral in den vorherrschenden sozialen Theorien und schlägt eine grundlegende Revision vor – ein neues Konzept müßte die gefährliche soziale Manipulation durch physische wie geistige Distanzierung berücksichtigen.

Trotz der Vielfältigkeit der in diesem Buch behandelten Aspekte hoffe ich, daß alle Kapitel inhaltlich in eine Richtung weisen: Ich plädiere dafür, die Lehren aus dem Holocaust in die vorherrschenden Theorien der Moderne und des Zivilisationsprozesses aufzunehmen. Meiner Überzeugung nach sollte die Untersuchung des Phänomens Holocaust für die Diagnose der Gesellschaftsform, in der wir leben, genutzt werden.

Der Holocaust entstand aus dem Zusammentreffen alter, von der Moderne ignorierter, unterschätzter oder ungelöster Spannungen mit den mächtigen Instrumenten rationalen, zielgerichteten Handelns, die ein Ergebnis der Moderne selbst waren. Obwohl dieses Zusammentreffen einzigartig war und eine seltene Kombination von Umständen voraussetzte, sind die einzelnen Faktoren allgegenwärtig und »normal«. Es ist bisher versäumt worden, das furchtbare Potential dieser Faktoren weit genug zu ergründen und, vor allen Dingen, ihre grauenhafte Wirksamkeit zu verhindern.

In der Arbeit an diesem Buch habe ich besonders profitiert von der Kritik und dem Rat von Bryan Cheyette, Shmuel Eisenstadt, Ferenc Fehèr, Agnes Heller, Lukasz Hirszowicz und Victor Zaslavsky. Ich hoffe, die Genannten finden auf den folgenden Seiten mehr als nur flüchtige Spuren ihrer Gedanken und Anregungen. Mein besonderer Dank gilt Anthony Giddens für die aufmerksame Lektüre der verschiedenen Fassungen des Buches, für kluge Kritik und viele wertvolle Ratschläge. Meinem Herausgeber David Roberts danke ich für die Unterstützung und Geduld.

Dialektik der Ordnung

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