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Soziale Erzeugung moralischer Unsichtbarkeit

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Bisher haben wir uns um die Rekonstruktion jener sozialen Mechanismen bemüht, die »animalisches Mitleid ausschalten«; um die soziale Erzeugung seines Verhaltens, das angeborenen moralischen Hemmungen entgegenwirkt und das Individuen, die im Sinne der »Normalität« keineswegs »moralisch degeneriert« sind, in Mörder oder vorsätzlich handelnde Komplizen zu verwandeln vermag. Die Erfahrung des Holocaust deckt nun noch einen weiteren sozialen Mechanismus auf; dieser ist in seinen Möglichkeiten noch weit gefährlicher, da er eine viel größere Anzahl von Menschen als Täter in den Genozid einbezieht, ohne daß diese dabei bewußt mit schwierigen moralischen Entscheidungen oder quälenden Gewissensfragen konfrontiert würden. An moralischen Fragen entzünden sich immer dann keine Kontroversen, wenn die moralische Dimension des Handelns nicht erkennbar ist oder deren Aufdeckung oder Diskussion bewußt vermieden wird. Anders formuliert: Die moralische Dimension des Handelns kann unsichtbar sein oder bewußt verschleiert werden.

In diesem Zusammenhang ein weiteres Zitat von Hilberg: »Man muß sich bewußt machen, daß die meisten Mittäter [des Holocaust] keine Gewehre auf jüdische Kinder abfeuerten oder Gas in die Gaskammern leiteten … es waren Bürokraten, die Schriftsätze formulierten, Zeichnungen anfertigen, die telefonierten und an Besprechungen teilnahmen. Sie betrieben die Vernichtung eines ganzen Volkes von ihren Schreibtischen aus.«32 Das wenige, was man von den Konsequenzen oder vermeintlich harmlosen Geschäftigkeit wußte, war schnell verdrängt. Kausale Zusammenhänge zwischen bürokratischem Handeln und dem Massenmord ließen sich nur schwer entdecken. Es galt moralisch nicht als verwerflich, einer vermeintlich natürlichen Neigung nachzugeben und sich nicht über Gebühr Gedanken zu machen, die Konsequenzen des eigenen Tuns nicht bis zum Ende weiterzudenken. Wer nicht verstehen kann, wie derartige moralische Blindheit überhaupt möglich ist, denke nur an unsere Zeit: Die Beschäftigten einer Waffenfabrik feiern einen »arbeitsplatzsichernden« Rüstungsauftrag, um abends vor dem Fernsehschirm ehrlich erschüttert über die Massaker zwischen Äthiopiern und Eriträern zu sein; oder man denke daran, daß »fallende Rohstoffpreise« als gute Nachricht begrüßt werden, während man über »hungernde Kinder in Afrika« tief bestürzt ist.

Vor einigen Jahren prägte John Lachs den Begriff der Mediatisierung, der Vermittlung des Handelns, für eines der herausragendsten und folgenreichsten Merkmale der modernen Gesellschaft: Handlungen werden von einem Dritten ausgeführt, der »zwischen mir und den Folgen meines Tuns steht, so daß diese mir verborgen bleiben«. Zwischen Plan und Ausführung entsteht eine Distanz, die mit einer Unzahl minutiöser Handlungen von Befehlsempfängern ausgefüllt ist, die jeder Verantwortung enthoben sind. Die »Mittelsmänner« schirmen die Folgen der Handlungen vor den Handelnden selbst ab.

Das Resultat ist, daß es viele Handlungen gibt, für die niemand mit vollem Bewußtsein Verantwortung übernimmt. Für den Auftraggeber existieren sie nur als Wort oder in der Vorstellung; er betrachtet sie nicht als die eigenen, weil er ihre Ausführung nicht miterlebt. Der Mann, der sie tatsächlich ausführt, identifiziert sich andererseits nicht damit, weil er glaubt, selbst nur das schuldlose Instrument fremden Willens zu sein…

Ohne die unmittelbare Erfahrung der Konsequenzen eigenen Handelns agiert auch der Untadeligste in einem moralischen Vakuum: die abstrakte Kenntnis des Bösen ist weder ein zuverlässiger Leitfaden noch ein hinreichendes Motiv … wir sollten über das Ausmaß der weitgehend nicht vorsätzlichen Grausamkeit an sich unbescholtener Menschen nicht überrascht sein…

Bemerkenswert ist, daß wir durchaus in der Lage sind, falsches Handeln und schreiende Ungerechtigkeit als solche zu erkennen. Was bestürzt, ist, wie es dazu kommen konnte, wenn jeder einzelne eigentlich nur harmlose Dinge tat … Es fällt schwer zu akzeptieren, daß es häufig weder einen einzelnen noch eine Gruppe gibt, die verantwortlich sind. Noch schwerer fällt es zu akzeptieren, daß das eigene Handeln an anderer Stelle Leiden verursacht hat.33

Die wachsende physische und psychische Distanz zwischen dem eigenen Handeln und dessen Folgen bewirkt nicht nur, daß moralische Hemmungen wegfallen, sondern verschleiert auch die moralische Tragweite des Handelns und verhindert auf diese Weise das Auseinanderbrechen von individuellen ethischen Grundsätzen und den sozialen Konsequenzen der Handlung. Indem die meisten sozial signifikanten Handlungen durch eine lange Kette komplexer Kausal- und Funktionszusammenhänge vermittelt sind, rücken moralische Probleme aus dem Blickfeld, denn es bietet sich nur selten die Gelegenheit zu Überprüfung und bewußter moralischer Entscheidung.

Ein psychologischer Effekt von noch größerer Tragweite wird dadurch erzielt, daß die Opfer selbst unsichtbar sind. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Faktoren für die Eskalation menschlichen Leidens in der modernen Kriegsführung. Nach Ansicht von Philip Caputo entwickelt sich das Ethos des Krieges »mit zunehmender Distanz und Technologie. Wer andere mit hochentwickelten Waffen über große Entfernung tötet, macht sich nicht schuldig«34. Töten »auf Distanz« beläßt den Zusammenhang zwischen Blutvergießen und den dafür nötigen harmlosen Handgriffen – wie etwa das Bestätigen eines Auslösers, eines Stromschalters oder einer Computertastatur – auf einer rein theoretischen Ebene, nicht zuletzt weil die Diskrepanz von Resultat und direkter Ursache schon von der Größenordnung her das normale Vorstellungsvermögen übersteigt. Wie sonst hätten Piloten Bomben über Hiroshima und Dresden abwerfen können, wie sonst kann man gewissenhaft Dienst in einer Raketenbasis tun oder immer umfassendere atomare Sprengköpfe entwickeln – ohne daß darüber die ethische Grundauffassung ins Wanken (oder gar zum Zusammenbruch) käme (die Unsichtbarkeit der Opfer war sicherlich auch für Milgrams berühmte Experimente eine wichtige Voraussetzung). Bedenkt man die Unsichtbarkeit der Opfer, begreift man besser, wie es zu der schrittweisen Vervollkommnung der Vernichtungsethik des Holocaust kommen konnte. Die Einsatzgruppen* trieben die Opfer vor den Maschinengewehren zusammen und erschossen sie aus relativ kurzer Entfernung; der Abstand zu den Gräben, in die die Ermordeten dann fielen, wurde zwar relativ groß gehalten, die Schützen konnten jedoch die Folgen ihres Tuns nicht übersehen. Die Organisatoren der Vernichtung hielten diese Methode daher auch für primitiv, ineffizient und potentiell schädlich für die Moral der Ausführenden. Andere Mordmittel wurden gesucht, bei denen der Sichtkontakt zwischen Mörder und Ermordeten unterbrochen war: zunächst die Gaswagen, dann die Gaskammern. Die Gaskammer reduzierte – in der von den Nazis prefektionierten Form – die Rolle des Mörders auf die eines »Sanitätsoffiziers«, der lediglich einen Sack »Desinfektionsmittel« in einen dafür vorgesehenen Schacht auf dem Dach des Gebäudes schüttete, ohne es jemals selbst betreten zu müssen.

Die technisch-administrative Effizienz des Holocaust erklärt sich zum Teil auch aus der geschickten Verwendung »moralischer Beruhigungsmittel«, wie sie die moderne Bürokratie und Technokratie bereithalten. Die mangelnde Transparenz von Kausalzusammenhängen in komplexen Interaktionsnetzen und die »Distanzierung« abstoßender und moralisch verwerflicher Konsequenzen bis hin zur Nichtsichtbarkeit für die Täter spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die Nazis entwickelten eine dritte, vielleicht noch raffiniertere Methode, die sie zwar ebenfalls nicht selbst erfunden hatten, die sie jedoch zu einem bis dahin unbekannten Grad perfektionierten: die Dehumanisierung der Opfer. Die sozio-psychologischen Faktoren, die für die furchtbare Effizienz dieser Methode ausschlaggebend waren, sind weitgehend in Helen Feins Konzept eines »Bezugssystems von Verpflichtungen« (universe of obligation) enthalten. Fein definiert dieses als »Kreis von Personen, die eine wechselseitige Schutzverpflichtung haben, hergeleitet aus der speziellen Beziehung zu einer Gottheit oder geheiligten Quelle der Macht«35. Dieses »Bezugssystem« ist ein soziales Terrain, innerhalb dessen moralische Regeln Gültigkeit haben, die außerhalb dieser Grenzen jedoch ebenso ihre Verbindlichkeit verlieren wie Gewissensentscheidungen ihre Legitimation. Um die Menschlichkeit der Opfer zu zerstören, genügt es, diese aus dem »Bezugssystem« auszugrenzen.

Nach den Maßstäben des alles überragenden Wertes der nationalsozialistischen Weltanschauung, des Rechts auf Deutschsein, ließen sich die Juden aus dem »universe of obligation« ausgrenzen, indem man ihnen die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft aberkannte. Hilberg formuliert schneidend: »In dem Augenblick, als Anfang 1933 ein Beamter erstmalig die Definition für ›Nicht-Arier‹ in einer Verordnung niederlegte, war das Schicksal der europäischen Juden besiegelt.«36 Um aber die Kooperation (oder auch nur Passivität oder Gleichgültigkeit) der europäischen Staaten zu erlangen, bedurfte es anderer Mittel. Der Ausstoß der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft mochte für die SS hinreichen, weckte jedoch selbst bei den Nationen, die insgeheim mit den Zielen der neuen Beherrscher Europas sympathisierten, Furcht und Mißtrauen. Als nicht mehr Deutschland allein, sondern ganz Europa judenfrei* werden sollte, mußte der Ausstoß aus der Volksgemeinschaft ersetzt werden durch die Entmenschlichung an sich. Franks Vorliebe für das Bild vom »jüdischen Ungeziefer« und der Wandel in der rhetorischen Behandlung der »Judenfrage« vom »Schutz der Rasse» zur »Säuberung» und »politischen Hygiene« gehörten ebenso dazu wie die vor Typhus warnenden Plakate an den Mauern der Ghettos und der Name der Firma, die das Gift für die Massenvernichtung lieferte: Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung*.

Dialektik der Ordnung

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