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Der Holocaust als Test der Moderne

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Vor einigen Jahren interviewte ein Journalist von Le Monde ehemalige Geiselopfer. Einer seiner bemerkenswertesten Befunde war eine besonders hohe Scheidungsrate unter Ehepaaren, die eine Geiselnahme gemeinsam als Opfer durchlitten hatten. Irritiert befragte der Journalist die Beteiligten nach den Gründen für ihren Schritt. Nur in wenigen Fällen war die Scheidung bereits vor der Geiselnahme in Erwägung gezogen worden.

Die Befragten beschrieben ihre Erfahrungen unter den alptraumhaften Bedingungen der Geiselnahme jedoch als »augenöffnend«, weil sie den Partner in einem »gänzlich neuen Licht« erlebt hatten. Brave Ehemänner »entpuppten« sich als selbstsüchtige Individuen, die nur die eigene Haut retten wollten; dynamische Geschäftsleute wurden zu erbärmlichen Feiglingen; souveräne »Männer von Welt« verfielen der Lethargie und bejammerten ihr nahes Ende. Der Journalist stieß auf eine heikle Frage: Welche Inkarnation dieser im Sinne des Wortes janusköpfigen Individuen sollte man das »wahre Gesicht« und welches die Maske nennen? Er erkannte, daß die Fragestellung falsch war. Keine Ausprägung war »wahrer« als die andere. Als Möglichkeiten schon immer im Charakter des einzelnen enthalten, zeigten sie sich nur zu unterschiedlicher Zeit und unter andersartigen Umständen. Das »gute« Gesicht schien nur deshalb normal zu sein, da es durch normale Umstände begünstigt wurde. Dennoch war auch die dunkle Seite immer präsent, wenn auch unter der Oberfläche. Der faszinierendste Aspekt dieser Recherchen ist, daß das »andere Gesicht« ohne die Geiselnahme vermutlich für alle Zeit verborgen geblieben wäre. Die Partner hätten ihr Eheglück weiter genießen können, ohne sich der unangenehmen Eigenschaften dessen, den sie zu kennen meinten, je bewußt zu werden. Erst unerwartete und außergewöhnliche Umstände waren imstande, diese ans Licht zu bringen.

Die oben zitierte Stelle aus der Studie von Nechama Tec endet mit folgender Beobachtung: »Ohne den Holocaust hätten die meisten dieser Helfer ihren Lebensweg relativ ungestört fortgesetzt, vielleicht mit sozialem Engagement, jedoch im allgemeinen ein unauffälliges Leben führend. Wir hätten es mit verkappten Helden zu tun gehabt, die von ihren Mitmenschen nicht zu unterscheiden gewesen wären.« Eine der wichtigsten (und überzeugendsten) Schlußfolgerungen ihrer Untersuchung: Es sei unmöglich, Anzeichen, Symptome oder Indikatoren für individuelle Hilfs- und Opferbereitschaft, oder auch Feigheit, angesichts einer Gefahr zu »isolieren«; mithin unmöglich, auch die Wahrscheinlichkeit solcher Manifestationen unabhängig vom »auslösenden« Kontext statistisch zu ermitteln.

John R. Roth hat diesen Gedanken einer Opposition von Potentialität und Realität (zusammenhängenden Modi, von denen nur der eine manifest, d. h. empirisch faßbar wird) in direkten Zusammenhang mit unserem Thema gebracht:

Hätte das Nazi-Regime obsiegt, wäre kraft seiner Autorität befunden worden, im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte vermutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationalen Kriterien getroffen hätte.

Insgeheim wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust (und geradezu ursächlich auch die Furcht vor der Konfrontation mit dessen historischer Realität) von der Horrorvision und dem nagenden Verdacht überlagert, der Holocaust sei vielleicht gar keine Verirrung vom geraden Weg des Fortschritts, kein Krebsgeschwür am gesunden Organismus der zivilisierten Gesellschaft. Wenn nun der Holocaust gar nicht die Antithese zur modernen Zivilisation (und all dessen, was wir damit verbinden) wäre? Der uneingestandene Verdacht lautet, der Holocaust könne ein verborgenes Antlitz derselben modernen Gesellschaft zutage gefördert haben, deren Erscheinungsbild uns so vertraut ist. Als hätten wir es mit zwei Gesichtern eines einzigen Organismus zu tun. Keine Vorstellung ist unerträglicher als die, daß keins der beiden ohne das andere existiere: wie die zwei Gesichter einer Münze.

Viele wagen nicht den letzten Schritt bis zu dieser schrecklichen Wahrheit. Henry Feingold z. B. besteht darauf, der Holocaust sei ein Bruch in der langen und insgesamt makellosen Entwicklungsgeschichte der modernen Gesellschaft. Der Schritt dorthin sei ebensowenig vorhersehbar gewesen wie etwa der gefährliche neue Stamm eines bezwungen geglaubten Virus.

Die »Endlösung« bezeichnet die Bruchstelle innerhalb der industriellen Entwicklung Europas, die, statt in ein besseres Leben – ursprünglich das Ziel der Aufklärung – in Selbstvernichtung mündete. Es war dasselbe industrielle System und Ethos, das Europa ursprünglich die Vorherrschaft in der Welt gebracht hatte.

Hier wird postuliert, das Rüstzeug für die Weltherrschaft sei qualitativ verschieden von den instrumentalen Voraussetzungen einer funktionierenden »Endlösung«. Und doch verkennt Feingold die Tatsachen nicht:

[Auschwitz] war auch eine sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabriksystems. Statt Güter zu produzieren, wurden hier aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern festhalten konnte. Die Schornsteine, Inbegriff der Fabrikproduktion, stießen den beißenden, für Verbrennung von Leichen typischen Rauch aus. Über das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde der neuartige Rohstoff herangeschafft wie normales Frachtgut. In den Gaskammern starben die Opfer im Blausäuregas der weltweit führenden deutschen Chemieindustrie. Ingenieure entwarfen die Krematorien; die Bürokratie arbeitete mit einem Elan und einer Effizienz, um die rückständige Länder sie hätten beneiden können. Und selbst das Projekt insgesamt wurde bestimmt von modernem, wenn auch fehlgeleitetem wissenschaftlichen Geist. Das Ganze war im Grunde ein monströser Entwurf sozialen ›Engineerings‹ …9.

Die Wahrheit ist, daß die einzelnen »Elemente« des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren – »normal« nicht im Sinne vertrauter, gründlich beschriebener und klassifizierter Phänomene (dazu war die Erfahrung des Holocaust zu neu), sondern weil diese sich dem Begriff der Zivilisation und ihrer Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärenten Visionen unterordneten – allen voran dem Streben nach menschlichem Glück und der perfekten Gesellschaft. Stillman und Pfaff schreiben dazu:

Es besteht ein gewiß nicht zufälliger Zusammenhang zwischen der angewandten Technologie der industriellen Massenproduktion, die auf schier unerschöpfliche Ressourcen gestützt ist, und der Tötungsmaschinerie des Konzentrationslagers und dem hemmungslosen Umgang mit dem Leben. Man mag jeden Zusammenhang bestreiten, aber Buchenwald gehört zur westlichen Zivilisation wie »River Rouge« in Detroit – wir dürfen Buchenwald nicht als Verirrung einer sonst heilen industriellen Welt hinstellen.10

Erinnern wir uns an die Schlußfolgerung, zu der Raul Hilberg in seiner unübertroffenen, vorbildhaften Studie zum Holocaust gelangt ist: »Die Vernichtungsmaschinerie unterschied sich grundsätzlich nicht von der gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands insgesamt. Die Vernichtungsmaschine war eine spezifische Ausprägung dieser Ordnung.«11

Richard L. Rubenstein formuliert die meiner Ansicht nach fundamentale Lehre aus dem Holocaust: »Er trägt die Signatur des zivilisatorischen Fortschritts.« Ein janusköpfiger Fortschritt, wie man hinzufügen sollte: In der Endlösung haben das industrielle Potential und das technologische Know-how, dessen sich unsere Zivilisation brüstet, eine Aufgabe nie dagewesener Größenordnung gefunden und diese gemeistert. Und in der Endlösung offenbarte die moderne Gesellschaft erstmalig, welcher Taten sie fähig ist. Nachdem technische Effizienz und perfekte Planung zum Maß aller Dinge erhoben worden sind, müssen wir nun einsehen, daß wir über dem Lobpreis materiellen Fortschritts, den wir der Zivilisation verdanken, dieses wahre Potential sträflich unterschätzt haben.

Die Welt der Konzentrationslager und der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, enthüllt eine eskalierende dunkle Seite der jüdisch-christlichen Zivilisation. Zivilisation bedeutet Sklaverei, Krieg, Ausbeutung und Todeslager. Zivilisation bedeutet aber auch Heilkunst, religöses Ethos, Kunst und Musik. Man hüte sich, Zivilisation und barbarische Grausamkeit als Antithese zu denken … In unserer Zeit wird Grausamkeit, wie fast alle anderen Aspekte des Lebens, nur wesentlich effizienter verwaltet als je zuvor. Grausamkeit ist nicht verschwunden und wird nie verschwinden. Kreativität und Destruktivität sind untrennbare Aspekte dessen, was wir Zivilisation nennen.12

Hilberg ist Historiker, Rubenstein Theologe. Wo sind die soziologischen Studien, in denen ein vergleichbares Problembewußtsein anklingt, in denen der Holocaust als eine Herausforderung für das Selbstverständnis und die Forschungsarbeit der Soziologen begriffen wird? Gemessen am Maßstab der Untersuchungen von Historikern und Theologen wirkt der Beitrag der Soziologie überwiegend wie ein Akt kollektiven Vergessens und Verdrängens.

Im großen und ganzen gesehen hat die Lektion des Holocaust kaum Spuren in der soziologischen Lehrmeinung hinterlassen. Deren bekannte Axiome postulieren die heilsame Vorherrschaft der Vernunft über die Emotionen; die Überlegenheit des Rationalen über irrationales Handeln (als verstünde es sich von selbst); oder sie konstatieren den unvermeidlichen Konflikt zwischen Zweckrationalismus und den moralischen Anforderungen, die eine problembelastete Domäne »persönlicher Beziehungen« sind.

Mir sind nicht viele offizielle Anlässe bekannt, bei denen sich Soziologen in ihrer Eigenschaft als Soziologen mit dem Faktum Holocaust auseinandersetzten. Eine dieser (wenn auch recht kleinen) Veranstaltungen war das Symposium »Western Society after the Holocaust« des »Institute for the Study of Contemporary Social Problems« 1978.13 Bei diesem Symposium unternahm Richard L. Rubenstein den phantasievollen, vielleicht überemotionalen Versuch einer Neuinterpretation der wesentlichen Weberschen Befunde über die Tendenzen der modernen Gesellschaft, und zwar vor dem Hintergrund der Holocaust-Erfahrung. Rubenstein fragte, ob die uns bekannten Tatsachen mit dem theoretischen Instrumentarium Max Webers (von diesem selbst oder seinen Rezipienten) hätten vorausgesehen werden können. Rubenstein meinte diese Frage bejahen zu können, zumindest suggerieren dies seine Thesen: innerhalb der Weberschen Begrifflichkeit von moderner Bürokratie, rationalem Geist, wissenschaftlicher Mentalität, Auslagerung von Werten in den Bereich der Subjektivität sei kein einziger Mechanismus isoliert worden, der nicht auch die Möglichkeit zu Nazigreueln in sich trüge; und mehr noch: aus der von Weber vorgeschlagenen Idealtypik heraus seien die Taten der Nationalsozialisten nicht notwendigerweise als Greuel zu bezeichnen. Beispiel: »Kein von deutschen Medizinern oder Technokraten verübtes Verbrechen steht im Widerspruch zu der Auffassung, daß moralische Werte an sich subjektiv und die Wissenschaft rein instrumenteller Natur und wertfrei sei.« Guenther Roth, bedeutender Weberianer und zurecht anerkannter Soziologe, reagierte mit unverhohlenem Mißfallen: »Ich stimme mit Professor Rubenstein absolut nicht überein. Seine Darlegungen enthalten keinen einzigen Satz, den ich unwidersprochen lassen würde.« Erbost vermutlich über diesen vermeintlichen Angriff auf das Webersche Vermächtnis (provoziert durch die Frage nach der Vorhersehbarkeit) erinnerte Guenther Roth die Versammelten daran, daß Max Weber ein Liberaler gewesen sei, der die Verfassung geliebt und das Wahlrecht für Arbeiter befürwortet habe (wohl um auf diese Weise die Nennung Webers in Zusammenhang mit einer so abscheulichen Angelegenheit wie dem Holocaust ad absurdum zu führen). Roth unterließ es indes, sich inhaltlich mit der These Rubensteins auseinanderzusetzen, und begab sich damit zugleich der Möglichkeit, die »unvorhersehbaren Folgen« jener zunehmenden Herrschaft der Rationalität einer strengen Analyse zu unterziehen, die Weber als wichtigstes Merkmal der Moderne identifiziert und für deren Analyse gerade er so viel geleistet hatte. So verstrich eine Chance ungenutzt, sich mit der furchtbaren »Kehrseite« der scharfsichtigen Theoreme eines Klassikers der Soziologie zu befassen; dabei brauchen wir die Reflexion darüber, ob nicht gerade unser schmerzvolles Wissen vom Holocaust, das wir den Gründervätern der Soziologie natürlich voraushaben, neue Einblicke in früher allenfalls zu erahnende Zusammenhänge und Konsequenzen erlaubt.

Man darf erwarten, daß Guenther Roth unter Soziologen nicht allein dasteht, wenn es darum geht, geheiligte Wahrheiten der Soziologie angesichts erdrückender Fakten zu verteidigen. Die meisten Soziologen werden jedoch kaum je so aus der Reserve gelockt.

Man kann sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Herausforderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufsstand hat den Holocaust nahezu vergessen oder an »Spezialgebiete« delegiert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Diskussion droht. Wenn der Holocaust überhaupt soziologisch untersucht wird, gilt er als tragisches Exempel für das, was ungezähmte, angeborene Aggression des Menschen anzurichten vermag. Man verlangt daher, dieses Potential durch Steigerung des Zivilisationsdruckes zu bändigen, und mahnt unermüdlich fachmännische Problemlösungen an. Bisweilen wird der Holocaust gar als Einzelschicksal der Juden, als Konflikt zwischen Juden und Judenhassern abgehandelt (»Fürsprecher« des Staates Israel haben diese Tendenz zur »Privatisierung« häufig gefördert, nicht immer aus eschatologischen Gründen).14

Dieser Stand der Dinge ist nicht nur, und keinesfalls in erster Linie, beunruhigend aus fachlicher Sicht – wenngleich hier natürlich der Intelligenz und gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie beträchtlicher Schaden droht. Viel schwerer wiegt eine andere Dimension des Holocaust: »Was in einem solchen Maßstab passieren konnte, kann überall wieder passieren. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten – Auschwitz, ob wir es wollen oder nicht, hat das menschliche Bewußtsein um einen ebenso entscheidenden Schritt erweitert wie die Landung auf dem Mond.«15 Eine entsetzenerregende Vorstellung, da die gesellschaftlichen Bedingungen für Auschwitz eigentlich nicht verschwunden sind. Keine wirksamen Schritte wurden unternommen, die potentiell und prinzipiell mögliche Wiederholung einer Auschwitz-artigen Katastrophe zu verhindern. Leo Kuper schrieb erst kürzlich, daß »souveräne Nationalstaaten ihren Hoheitsanspruch, wenn sie wollen, auf die Verübung von Genozid, Massakern an bestimmten Volksgruppen und ihrem Staatsvolk ausdehnen können …, wobei die UNO dieses Recht sogar noch verteidigt.«16

Wenn uns der Holocaust posthum doch wenigstens diesen Dienst erweisen könnte: einen Einblick in die sonst ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien zu geben, die in die Entwicklung der Moderne eingebettet sind. Meiner Ansicht nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.

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