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KAPITEL II

„Nach dem Osten“

Der erste Transport aus Frankreich nach Auschwitz stand im Zeichen von „Sühnemaßnahmen“, die der deutsche Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel als Antwort auf Attentate der kommunistischen Widerstandsbewegung im Dezember 1941 verhängt hatte. Mangels Transportmöglichkeiten wurde die angekündigte „Abschiebung“ von zunächst 1.000 Juden „nach dem Osten“ bis zum Frühjahr 1942 zurückgestellt, am 27. März – zeitgleich mit der dritten Deportationswelle aus dem Reichsgebiet, aber fast vier Monate früher als im übrigen Westeuropa – begann die erste Phase der Deportation der französischen Juden. An diesem Tag verließ der Sonderzug 767 den Pariser Vorortbahnhof Le Bourget-Drancy; nach Zwischenhalt auf dem Bahnhof Compiègne wurden insgesamt 1.112 jüdische Männer über Reims und Neuburg/Mosel (Reichsgrenze) nach Auschwitz verbracht, zur Hälfte Juden verschiedener, zumeist polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Lager Drancy bei Paris, die am 20. August 1941 Opfer einer Razzia geworden waren, zur anderen Hälfte Häftlinge des Lagers Compiègne, überwiegend Juden französischer Nationalität, die die Deutschen am 12. Dezember 1941 festgenommen hatten. Bei der Ankunft in Auschwitz am 30. März 1942 wurden die Deportierten registriert und noch keiner Selektion unterzogen, 1.008 von ihnen kamen innerhalb der ersten fünf Monate im Lager ums Leben. Die Massentötung von Juden aus Frankreich in Gaskammern begann erst mit dem siebten Transport vom 19. Juli 1942, aber die Funktion des Lagers Auschwitz als zentrale Vernichtungsstätte der europäischen Juden war schon im Frühjahr 1942 beschlossene Sache. Zwischen dem 5. Juni und dem 17. Juli folgten die nächsten fünf Transporte, die gleichfalls unter dem Vorwand militärischer „Sühnemaßnahmen“ zusammengestellt wurden, und unmittelbar darauf setzte die zweite Phase der „Endlösung“ in Frankreich ein, die der Massendeportationen in den Tod.

Das Faktum des zeitlich frühen Beginns der Deportationen aus Frankreich wirft eine Reihe von Forschungsfragen auf, die sich aufgrund der verfügbaren Dokumente und sonstigen Quellen nicht vollständig beantworten lassen, die jedoch wegen ihrer Bedeutung für die anhaltende Diskussion um die Entschlußbildung und die Etappen der Realisierung des Genozids so genau wie möglich geklärt werden müssen. Ich werde im folgenden Kapitel die Verantwortung der deutschen Militärverwaltung in Paris für die Einleitung von Deportationen und die Vorgeschichte des ersten Transports vom 27. März 1942 näher untersuchen. Der Schwerpunkt liegt auf den historischen Ereignissen, beginnend im Frühjahr 1941. Anhand einer chronologischen Rekonstruktion soll gezeigt werden, in welchem größeren Kontext der Militärbefehlshaber Ende des Jahres 1941 den Vorschlag machte, statt zur Bekämpfung der Widerstandsbewegung Massenerschießungen französischer Geiseln im Lande selbst zu verhängen, künftig Juden und Kommunisten „zu Zwangsarbeiten nach dem Osten“ zu deportieren.

Die unmittelbare Konsequenz dieses Vorschlags war, daß die Repressionspolitik im besetzten Frankreich in ein vorgezogenes Deportationsprogramm umschlug, das in jenem kurzen Zeitraum zwischen März und Juni/ Juli 1942 realisiert wurde, der durch zwei entscheidende Daten markiert ist – die Wannsee-Konferenz und den Beginn der „Endlösung“ in Westeuropa: Am 20. Januar 1942 wurde die „Evakuierung der Juden nach dem Osten“ als „Lösungsmöglichkeit“ festgeschrieben und beschlossen, daß „im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung [...] Europa vom Westen nach Osten durchgekämmt“ werden sollte, wie es im Wannsee-Protokoll wörtlich hieß. Am 11. Juni 1942 fand im Reichssicherheitshauptamt eine Besprechung zwischen Eichmann und den Judenreferenten aus Brüssel, Den Haag und Paris statt, bei der man die Zahlenvorgaben, Richtlinien und technischen Modalitäten für die Ingangsetzung von Massendeportationen aus allen drei westeuropäischen Ländern vereinbarte. Über die genozidale Zielsetzung dieser Massendeportationen besteht kein Zweifel, aber es stellt sich die Frage, welchen Charakter die frühen Transporte aus Frankreich hatten, ob sie – da in Verbindung mit „Sühnemaßnahmen“ des Militärbefehlshabers angeordnet – noch unabhängig vom Projekt einer planmäßigen Vernichtung der Juden zu sehen sind oder ob die Initiative der Militärverwaltung nicht vielmehr als beschleunigender Faktor innerhalb eines komplexen Entscheidungsprozesses auf dem Weg zur „Endlösung“ wirkte.

In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, in welchem Umfang die deutschen Stellen in Paris zu diesem Zeitpunkt – zwischen Ende 1941 und Frühjahr 1942 – über die Massenvernichtung in Osteuropa und über den Stand der Entscheidungen zum Mord an den europäischen Juden informiert waren – oder präziser gefragt: Was war gemeint, als der Militärbefehlshaber erstmals Deportationen „nach dem Osten“ anordnete? Hierzu ziehe ich wiederum Vernehmungsaussagen heran, und zwar solche, die seit Beginn der sechziger Jahre im Zusammenhang von Ermittlungen westdeutscher Justizorgane gegen ehemalige Angehörige der deutschen Militärverwaltung in Frankreich protokolliert wurden.

Täter im Verhör

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