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2.2.1.2 Formen mittelalterlicher Liturgieerklärung

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Die übliche Methode der mittelalterlichen Liturgiedeutung ist die allegorische Liturgieerklärung. Sie ist eng mit dem Namen Amalar von Metz (775–ca. 850; Liber officialis [StT 138–140]) verbunden, war im Westen aber schon vor ihm bekannt. Als weitere bedeutende Zeugen für dieses Verfahren der Liturgieerklärung sind Rupert von Deutz (1075/76–1129; Liber de divinis officiis [CChr.CM 7; FC 33]), Sicard von Cremona (1150/55–1215; Mitrale [PL 213, 9–436]) und Durandus von Mende (um 1230–1296; Rationale divinorum officiorum [CChr.MC 140. 140A. 140B; LQF 107]) zu nennen (Schaefer/403).

Der Verbreitung dieser Methode gingen tiefgreifende Veränderungen der Liturgie gegenüber der Alten Kirche voraus. Liturgiegeschichtlich war die Gemeindeliturgie der Klerikerliturgie gewichen und zudem die Betonung des doxologischen Moments hinter eine Sicht von Liturgie zurückgetreten, die vor allem nach der gnadenhaften Wirkung von Liturgie fragte und mehr an einzelnen Formeln und Riten als am Gesamtritus interessiert war. Dennoch musste das vielfältige Ritual beispielsweise einer Messfeier den Gläubigen gedeutet werden. Das leistete die allegorische Liturgieerklärung, indem sie die Liturgie vor dem Hintergrund der Passion Christi auslegte.

Die Allegorie ist in unterschiedlicher Weise auf Christus bezogen, wie einige Beispiele aus dem »Liber de divinis officiis« des Rupert von Deutz sehr deutlich zeigen. An den ausgewählten Stellen wird die Eucharistie ausgelegt. So ist der Canon missae (bei Rupert »secreta« genannt, heute als »Hochgebet« bezeichnet) eine Erinnerung an das Leiden Christi (»memoria dominicae passionis« [2,5]). Einzelne Abschnitte des Kanons werden auf Ereignisse der Passion bezogen: Vom »Te igitur« bis zum »Qui pridie«, Gebetsabschnitten im Kanon, wird der Zeit vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zum Verrat durch Judas gedacht. Das fünffache Kreuzzeichen des Priesters über Brot und Wein weist hin auf die Wunden des Gekreuzigten (2,12). Dass der Priester die Worte »nobis quoque peccatoribus« leise spricht, deutet Rupert als Erinnerung an das Schuldbekenntnis des mitgekreuzigten Schächers und an die Antwort Christi (2,14). Drei anschließende Kreuzzeichen kommemorieren die Vollendung der Passion. Das Korporale, das ursprünglich zur Bedeckung des Altares und des Kelches dient, wird hochgehoben, weil der Tempelvorhang zerriss (2,15). Solche Erläuterungen können variieren.

Vergleichbaren Deutungen wird die gesamte Liturgie unterzogen. Dabei lassen sich systematisierend vier verschiedene Arten der Deutung unterscheiden, die in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden können:

Deutung Definition Beispiel
Rememorative Deutung Erklärung der Liturgie als Gedächtnis des Lebens Jesu Der Altar bedeutet das Kreuz, der Kelch das Grab, die Patene den Stein vor dem Grab, das Korporale das Leichentuch Christi usw. [Reichert/244: 103]
Typologische Deutung Erfüllung des Alten Bundes in der Liturgie des Neuen Bundes Segensgestus über Brot und Wein: Segen des Melchisedek über die Opfergaben Brot und Wein [ebd. 106]
Anagogische Deutung Eschatologische Erklärung der Liturgie Mischung von Wein und Wasser in der Gabenbereitung: die Vereinigung des Volkes mit Christus im Sakrament [ebd. 101]
Tropologische Deutung Moralische Erklärung der Liturgie Das Weiß der Hostie: die Reinheit und Lauterkeit dessen, der das Sakrament empfangen will [ebd. 99]

Dieser Deutungen – die Beispiele stammen aus der ältesten deutschen Gesamterklärung der Messe von ca. 1480 (Reichert/244) – bediente man sich je nach Autor und Region (Osten und Westen) in unterschiedlichem Umfang. Für die allegorische Liturgieerklärung steht nicht die heilsschaffende anamnetische Qualität von Liturgie im Vordergrund, sondern die Anregung, das Leben Jesu, näherhin die Passion, zu bedenken und Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen (Suntrup/407: XXIII–XXIX). Die Leistung der allegorischen Liturgieerklärung besteht darin, den verborgenen Sinn der Riten, die Bedeutungsträger sind, zu erklären. Sie wirkt heutigem Verständnis fremd, weshalb gefragt worden ist, ob es wirklich um eine Erklärung der Liturgie oder aber um eine Erklärung von Glaubensaussagen ging, die, angeregt durch den Ritus, in Erinnerung gerufen wurden. Neuere Studien interpretieren die Liturgieallegorese konsequent im historischen Kontext und heben hervor, solche Liturgieerklärung habe den anamnetischen Grundzug der Liturgie verstärkt, indem sie liturgische und biblische Handlung verknüpft habe. Die Erklärung wird als Mnemotechnik interpretiert, der Kommentar hält den Ritus in der Überlieferung lebendig (Lentes/365). Das gesamte Zeichengeschehen der Liturgie wird auf Christus bezogen und erfährt damit eine Sinnstiftung (Petersen/391). Als eine weitere Aufgabe wird u.a. auch die Erschließung von Zeichenhandlungen, die komplex und vieldeutig sind, und damit liturgische Unterweisung genannt. Diese Weise der Liturgieerklärung blieb im Mittelalter nicht unumstritten. Florus von Lyon († 860), der durch die Liturgie nicht nur Heilserkenntnis, sondern Heilswirklichkeit vermittelt sah, erreichte auf dem Regionalkonzil von Quierzy 838 die Verurteilung Amalars.

Vereinzelt finden sich andere Formen der Liturgieerklärung. So trifft man auf erste Bemühungen, die Liturgie von ihren historischen Ursprüngen her zu verstehen. Dafür stehen Walahfrid Strabo (807–848) mit seiner Schrift »Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum«, die auch als erste Liturgiegeschichte bezeichnet wird, und Radulph von Rivo (1340–1403), der sich unter anderem mit seinem Werk »De officiis ecclesiasticis« der altrömischen Liturgie verschrieben hatte.

Es gab weitere Formen der Beschäftigung mit der Liturgie. Das verbreitete, anonym verfasste Liber Quare (CChr.CM 60) (Mitte des 9. bis 11. Jahrhundert) enthält wie in einem Katechismus Fragen und Antworten zu Themen der Liturgie. Es diente der Unterrichtung des Klerus. Festzeiten, Tagzeiten, liturgische Kleidung u.a. werden behandelt. Fragen zur Messe sind in späteren Fassung nachgetragen worden. Der Name rührt daher, dass die Fragen in der Regel mit »Quare« – »Warum« beginnen.

Viele Theologen des Mittelalters haben sich zwar mit der Sakramententheologie und damit eigentlich einem liturgienahen Thema befasst, jedoch die Liturgie selbst nur am Rande berücksichtigt. Thomas von Aquin (1225–1274), der u.a. Texte für die Messfeier und Stundenliturgie an Fronleichnam geschrieben hat, ging in seinen theologischen Arbeiten, auch zu den Sakramenten, auf die Liturgie nur am Rande ein. Das gilt für viele andere bedeutende Theologen seiner Zeit ebenso. Es hat bis in die jüngere Theologiegeschichte zu einer problematischen Distanz von Sakramententheologie und Liturgie geführt.

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