Читать книгу Gute Welt, böse Welt - Andie Cloutier - Страница 4

2.Kapitel

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Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann hielt die halbvolle Kaffeekanne in seiner rechten Hand und goss die schwarze, aromatische Brühe in eine Tasse während sein PC hochfuhr. Mit diesem Ritual begann er jedes Mal seinen Dienst. Den bröckelnden Wandputz oberhalb der Kaffeemaschine beachtete er nicht. Überhaupt hatte er keinen Blick für den traurigen, renovierungsbedürftigen Zustand der Inspektion. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er konnte es kaum erwarten, dass sein PC endlich einsatzbereit war. Die Überprüfung gewisser Bankdaten gehörten auch zu seinem täglichen Ritual. In dieser Kleinstadt verlief der Dienst meistens eher ruhig. Was einer der Vorteile gegenüber einer Großstadt war. Zwar war es nie wirklich langweilig, aber die hiesigen Einsätze beschränkten sich auf kleinere Delikte, wenn man mal von der Einbruchserie absah, deren Täter einfach nicht beizukommen war. Leon ging zu seinem Schreibtisch und blickte auf den Monitor. Er stellte seine Tasse auf den Tisch, setzte sich und gab einige Daten ein. Egal wie lange er auch auf die Kontendaten starrte, sie änderten sich nicht. Seit nun mehr fünf Jahren tat sich nichts. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fünf Jahre lang nicht auf sein Konto zu griff? Selbst wenn es mittlerweile leicht ins Soll abgerutscht war, weil es keinerlei Einzahlungen gegeben hatte. Frustriert schloss er die Seite mit einem heftigen Fingerdruck.

"Was genau erwartest du auf dem Konto zu finden?" erklang die Stimme seines Kollegen Dieter Erhardt, dessen Schreibtisch nur wenige Meter von seinem entfernt stand.

Leon ging nicht auf die Frage ein. "Gibt es was Neues von der Krankenkasse?"

Dieter schüttelte seinen Kopf. "Nein. Falls sich daran etwas ändern sollte, melden sie es umgehend."

Leon sah zu Dieter rüber. Dieter war ein Urgestein der Inspektion. Obwohl er seit einer Ewigkeit hier war, hatte er niemals die Ambitionen auf der Karriereleiter empor zu steigen. Er könnte die Inspektion mit Leichtigkeit leiten, aber daran hatte Dieter kein Interesse. Seine Position, sein Job, reichte ihm völlig und der hatte Spuren hinterlassen. Wenige graue Haare zierten seinen Kopf, umgaben die blanke Platte seines Schädels wie einen Ring. Dieter behauptete gerne, dass das am ständigen Raufen der Haare lag. Mit den Jahren hatte er seine durchtrainierte Figur verloren, war deutlich fülliger geworden. Trotz seiner nicht unbedingt optimalen körperlichen Verfassung war er ein hervorragender Polizist und der leitende Ermittler in dem Vermisstenfall, der Leon keine Ruhe ließ.

Menschen verschwanden zwar täglich, aber sie konnten sich nicht in Luft auflösen. Irgendwo musste Daniel sein. So ungern Leon die Möglichkeit in Betracht zog, er musste es wissen: "Gab es in letzter Zeit eine Prüfung bei der Bank? Ist Geld verschwunden?"

Dieter schüttelte den Kopf. "Es gab in den letzten zwei Jahren sogar zwei Prüfungen und nein, dein Bruder hat kein Geld von seinem Arbeitgeber abgezweigt. Das Thema hatten wir bereits mehrfach, Leon."

Leon runzelte die Stirn. "Er war in den letzten fünf Jahren nicht krank und er hat kein Geld. Das ergibt keinen Sinn."

Dieter stand auf, ging zu Leon rüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es ergibt Sinn, wenn..."

"Er tot wäre", unterbrach Leon ihn. "Aber selbst dann muss es doch irgendwo sterbliche Überreste geben. Hast du nicht alles absuchen lassen?"

Bevor Dieter antworten konnte, streckte ihr Chef Müller seinen Kopf in ihr Büro. "Es gab eine Schießerei in der Hauptstraße 442. Ein Opfer, der Schütze ist tot. Erhardt, Zimmermann, übernehmen Sie das!"

Tack, tack, tack, machte der Absatz eines schwarzen Damenstiefels, als der in ihm steckende Fuß ungeduldig auf dem Linoleumboden des Fahrstuhls trippelte. Ein manikürter, in auffälligem Rot lackierter Finger drückte die Taste zu der dritten Etage. Die Tür schloss sich begleitet von einem leisen Brummen. Der Fahrgast kramte in einer Handtasche nach einem Lippenstift. Den Spiegel im Inneren des Lifts nutzend, zog sich die Frau ihre Lippen nach. Die Farbe war exakt auf ihre Nägel abgestimmt.

Julia Sommer legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Schließlich konnte man ja nie wissen, wem man wann und wo begegnete. Selbst um diese Uhrzeit in einem wahrscheinlich fast menschenleeren Haus konnte es durchaus Überraschungen geben. Ihr Fuß begann erneut zu trippeln, begleitet von ihrem knurrenden Magen. Wieso konnte Rebecca nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Denn wenn sie es wäre, würden sie bereits ihre Vorspeise bei ihrem Lieblingsitaliener genießen können. Aber nein, Rebecca war natürlich noch in ihrer Praxis und hielt es nicht für nötig, auf Julias Nachrichten zu antworten. Selbstverständlich könnte Julia einfach im Restaurant auf Rebecca warten, aber sie wusste, dass Rebecca ihre Verabredung durchaus schlichtweg vergessen haben konnte und somit gar nicht auftauchen würde. Deswegen entschied sich Julia ihre Freundin höchstpersönlich zum Essen zu geleiten.

Regentropfen glitzerten wie kleine Edelsteine auf der Oberfläche ihres schwarzen Mantels als sich die Fahrstuhltür öffnete und Julia den Flur betrat. Der unerwartete Anblick ließ sie jäh mitten in der Schrittbewegung innehalten.

Auf dem Boden vor der Praxis, besser gesagt, unter dem Türrahmen lag ein Mann. Sein Körper wurde von einem zweiten Mann, der neben ihm kauerte, geschüttelt.

„Manny! Manny!“ rief er verzweifelt flehend.

Julia schüttelte sich kurz. Die Regentropfen flogen von ihrem Mantel. Das war keine Art von Überraschung, die sie erwartet hatte. Energisch ging sie auf die beiden Männer zu. Sie tastete nach dem Puls des am Boden liegenden. „Das Rufen können Sie sich sparen. Er hört Sie nicht mehr. Er ist tot. Rufen Sie lieber die Polizei.“

„Das habe ich“, murmelte der Mann.

Ohne weiter auf den Trauernden einzugehen, richtete Julia sich wieder auf, schritt vorsichtig an dem Toten vorbei in die Praxis. Unter ihrem Fuß erklang ein knackendes Geräusch, als sie doch auf etwas trat. Julia blickte hinunter. Der Absatz ihres rechten Stiefels steckte im Display eines Handys. Sie hob ihren Fuß an, schüttelte das Handy ab, als wäre es ein lästiges Insekt und ging weiter. Julia fand ihre Freundin im Sprechzimmer.

Rebecca hockte auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gezogen, umschloss sie fest mit ihren Armen und starrte ins Leere. Ihre rechte Wange war knallrot.

Julia warf nur einen kurzen Blick auf dem im Sprechzimmer am Boden liegenden Mann. Nach seinem Puls brauchte sie nicht zu fühlen. Das hatte sich eindeutig erübrigt. Wozu brauchte jemand ohne Gesicht einen Puls? Anstelle eines Gesichts gab es nur zerfetzte Masse zu sehen.

„Wenn ich irgendetwas im Magen hätte, würde ich jetzt kotzen.“

Leon und Dieter betraten mitsamt einer ganzen Schar von Beamten das mehrstöckige Gebäude in der Hauptstraße 442.

"Du nimmst dir Etage für Etage vor", sagte Dieter zu Leon.

Leon blickte ihn erstaunt an. "Wozu? Der Schütze ist tot."

Dieter holte tief Luft. "Woher wissen wir, dass es ein Einzeltäter ist? Vielleicht gibt es einen Komplizen, der uns irgendwo im Gebäude auflauert."

Leon schüttelte den Kopf. "Das ist doch recht weit hergeholt, findest du nicht? Unsere Informationen besagen etwas völlig anderes."

"Auf wie vielen solcher Einsätze warst du bisher, Leon? Richtig, auf keinem. Also tu was ich dir als Vorgesetzter sage und sichere Etage für Etage." Dieter ließ nur sehr selten den Chef raushängen, doch wenn er es tat, richtete sich Leon danach. Wenn auch überaus unwillig. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf, gefolgt von einigen Kollegen. Der Flur der ersten Etage war ruhig und verlassen. Im zweiten Stock sah es nicht anders aus. Nun näherte er sich dem Tatort. Dementsprechend war es im Flur der dritten Etage alles andere als ruhig. Zwei Streifenpolizisten kümmerten sich um einen Mann mit von Tränen überströmten Gesicht. Die Arbeitskleidung, die der Mann trug, wies ihn als Mitglied einer Putzkolonne aus. Wie der Tote auch, bemerkte Leon, als er an dem Kollegen der Spurensicherung vorbeiging, der die Leiche im Eingangsbereich einer Praxis näher in Augenschein nahm. Ein sonderlicher roter Punkt auf dem Schriftzug der Eingangstür zog Leons Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf sich, bevor er den Anmeldebereich passierte. Er hörte Dieters Stimme und folgte ihr in ein Sprechzimmer.

Die zahlreich anwesenden Personen ließen den Raum trotz seiner nicht gerade geringen Größe regelrecht klein wirken. Zwei uniformierte Kollegen, Dieter, eine weitere Leiche und zwei Frauen füllten das Zimmer aus. Der Umriss des Toten wurde eingezeichnet, die Leiche fotografiert. Dieter hockte neben einer der beiden Frauen, die zusammengesunken vor einem Schreibtisch auf dem Boden saß. Das musste eine Zeugin sein, vermutete Leon. Die Frau umklammerte ihre Beine fest mit ihren Armen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, wodurch ihr das lange, dunkle Haar wie ein Vorhang vor das Gesicht fiel. Dieters Fragen beantwortete sie sehr leise und geradezu apathisch. Die offensichtlich unter Schock stehende Frau tat Leon leid, selbst wenn es sich bei ihr um Dr. Rebecca Brandt persönlich handeln sollte. Den Namen hatte Leon an der Tür gelesen und er hatte keine guten Erfahrungen mit Psychotherapeuten gesammelt. Seine letzte Begegnung mit einem Exemplar der Sorte hatte ihm unerwünschten Urlaub und eine Therapie zur Aggressionsbewältigung eingebracht. Wie genau der sogenannte Doktor zu der Zeit zu der Erkenntnis gelangte, blieb ihm ein Rätsel. Der Therapeut hatte das Gespräch auf Daniel gelenkt und dabei war Leon ein klein wenig aufbrausend geworden. Aber wer ließ sich schon gerne sagen, dass man seinen vermissten Bruder loslassen musste? Er jedenfalls nicht und genau das hatte er dem Therapeuten nicht gerade höflich mitgeteilt. Seitdem stand Leon mit den Psychofritzen auf Kriegsfuß. Dennoch konnte er in diesem Moment nicht anders, als für das am Boden sitzende Häufchen Elend Sympathie zu empfinden.

Die zweite anwesende Frau unterbrach ein nerviges Trippeln mit dem Fuß und schob sich direkt in Leons Blickfeld. "Hi", hauchte sie mitsamt einem verführerischen Augenaufschlag. "Julia Sommer." Sie streckte ihm ihre perfekt manikürte Hand entgegen.

Leon betrachtete die Hand kurz, ergriff sie aber nicht. "Sind Sie eine Zeugin?"

"Nein. Glücklicherweise war schon alles vorbei, als ich dazu kam. Dennoch, falls ich Ihnen helfen kann, ganz gleich wobei...", sie hatte ihre Hand zwischenzeitlich zurückgezogen und hielt ihm jetzt eine Visitenkarte hin. "...rufen Sie mich an. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Tag und Nacht.“ Perplex nahm Leon die Karte entgegen. Sie befanden sich an einem Tatort mit zwei Leichen und diese Rothaarige hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzubaggern? Ernsthaft?

Dieter richtete sich auf, kam zu Leon herüber und zog ihn etwas von der aufdringlichen Julia Sommer weg. "Bei dem Toten hier handelt es sich um Ulrich Pauly. Seine Tochter Natalie wurde vor drei Jahren von einem Betrunkenen ohne Führerschein überfahren. Das war eine schlimme Geschichte damals, erinnerst du dich? Anfang dieser Woche wurde der Unfallfahrer aus der Haft entlassen. Dr. Brandt ist die Therapeutin des Fahrers. Pauly tauchte hier bewaffnet auf und bedrohte Dr. Brandt mit der Pistole. Als die Männer von der Putzkolonne die Praxis betreten wollten, hat Pauly geschossen. Er hat den armen Kerl direkt ins Herz getroffen. Dr. Brandt versuchte Pauly die Waffe zu entreißen, wodurch sich ein weiterer Schuss löste. Der dann so endete." Dieter wies auf den toten Pauly. Leon konnte sich kaum vorstellen, wie die zierlich wirkende Frau mit Pauly um die Pistole gerungen hatte. Pauly war ein großer Mann. Leon tippte auf 1,90 Meter. Er ging vor ihr in die Hocke, ähnlich wie Dieter es kurz zuvor noch getan hatte. Erst jetzt konnte er durch den Vorhang der Haare ihr Gesicht sehen. Sie war verletzt. Ihre Wange schimmerte leuchtend rot. Ein Hämatom begann sich zu bilden. Irritiert spürte er das Bedürfnis sie in seine Arme zu nehmen, um sie zu trösten. "Sie müssen ins Krankenhaus", sagte er stattdessen und klang dabei vielleicht etwas ruppig.

"Mir geht es gut." Sie starrte an ihm vorbei, schien ihn nicht wirklich zu registrieren.

"Sie haben da einen bösen Schlag abbekommen und Sie stehen unter Schock. Ich rate Ihnen dringend dazu, sich ärztlich untersuchen zu lassen", versuchte Leon es erneut, aber diesmal in einem sanfteren Ton.

Sie war eine schöne Frau mit geradezu perfekt symmetrischen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einer zart wirkenden Haut, die unter normalen Umständen sicherlich nicht derartig blass war. Ihr langes, dunkelbraunes Haar erinnerte ihn an Seide. Er frage sich, ob es sich auch wie Seide anfühlte. Der Wunsch seine Arme um sie zu legen, sie an sich zu drücken und fest umschlossen zu halten wurde schier übermächtig.

"Das ist nicht nötig. Mir geht es gut", wiederholte sie.

Er mochte den Klang ihrer Stimme. "Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben oder es könnte etwas gebrochen sein." Leon war nicht bereit aufzugeben, obwohl er selbst nicht genau wusste, wieso ihm das wichtig war. Wenn sie nicht ins Krankenhaus wollte, war das schließlich ganz allein ihre Sache, oder etwa nicht? Jetzt blickte sie ihn zum ersten Mal direkt an.

Die Frau hatte unglaubliche Augen, leicht mandelförmig und dunkelbraun. "Es ist ein Bluterguss, der in den nächsten Tagen nicht nur schmerzen, sondern auch verschiedene Farben annehmen wird. Mit meinem Gebiss und meinen Gesichtsknochen ist alles in Ordnung. Darf ich jetzt nach Hause?" fragte sie nun mit erstaunlich fester Stimme.

"Ich kann Sie nicht zu einem Krankenhausbesuch zwingen", stellte Leon fest, so gerne er sie auch zu einem Arzt verfrachtet hätte. "Aber Sie sollten sich auf keinen Fall selbst hinter das Steuer setzen."

"Kein Problem. Ich bringe sie nach Hause", schaltete sich Julia Sommer plötzlich ein und kam näher.

Die Frau versuchte aufzustehen, was ihr nicht leichtfiel. Leon hielt ihr seine Hand entgegen, um ihr zu helfen. Sie ignorierte die Hand und kämpfte sich alleine auf die Füße.

In dem Moment wusste Leon mit Sicherheit, dass es sich bei der Frau um Dr. Rebecca Brandt höchstpersönlich handelte. Sie war stur und wusste alles besser, das war eindeutig ein Psychofritze. Julia Sommer half ihr in den Mantel.

Leon steckte Rebecca seine Karte in die Manteltasche und sagte leise: "Falls Sie sich doch anders entscheiden und Hilfe benötigen, melden Sie sich." Die Worte waren heraus, bevor er überhaupt nachgedacht hatte. Fehlte bloß, dass er wie die Rothaarige kurz zuvor, Tag und Nacht hinzufügte. Aber nun waren seine unbedachten Worte nicht zu ändern. Obwohl er sich darüber ärgerte, denn es klang selbst für ihn wie eine Anmache. Nicht nur für ihn, bemerkte er durch Julias missbilligenden Blick. Sie legte ihren Arm um Rebeccas Schulter und führte sie hinaus.

Leons Blick folgte ihnen, bis sie im Gang verschwunden waren. "Was zum Teufel war das denn?" erkundigte sich Dieter neben ihm verblüfft.

"Nichts", entgegnete Leon kurz. Also hatte sogar Dieter seinen erbärmlichen Anmachversuch mitbekommen. Das war ja ganz großartig.

„Meinst du, wir können uns unterwegs noch etwas zu Essen besorgen?“

Der Klang von Julias Stimme riss Rebecca aus ihren Gedanken. Erst jetzt erkannte sie Häuser in den schemenhaften Umrissen, die an dem Autofenster vorbeizogen. Obwohl sie die bisherige Fahrtzeit damit zugebracht hatte aus dem Fenster zu schauen, hatte sie nichts wirklich gesehen. Der Verlauf dieses Abends war unfassbar. Wie lange war es her, dass sie sich nach einer Massage gesehnt hatte? Nach etwas so Belanglosem. Waren es Minuten? Oder waren es Stunden? Sie wusste es nicht. Zwei Menschen starben heute in ihrem Beisein. Und für einen Tod war sogar sie selbst verantwortlich. Sie wagte es nicht sich auszumalen wie alles verlaufen wäre, wenn die Putzkolonne nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufgetaucht wäre. Nach Paulys Tod war Rebecca in eine Leere gestürzt. Sie war einfach auf dem Boden zusammengesunken, unfähig sich zu bewegen. Alles erschien ihr unwirklich und realitätsfremd. Julias Ankunft hatte sie kaum wahrgenommen und die Fragen der Polizisten in einem Automatismus beantwortet. Von einer Sprachfunktion, die quasi im Autopilotenmodus funktionierte hatte sie zwar schon gehört, aber es noch nie selbst erlebt. Bis zum heutigen Abend. Etwas selbst zu erleben war immer vollkommen anders, als es in der Theorie dargestellt wurde. Sie wusste nicht einmal, was die Polizisten sie gefragt hatten oder was sie ihnen antwortete. Die Beharrlichkeit, die Stimme des zweiten Kommissars befreite sie letztendlich irgendwann aus ihrer Starre. Sein mehrmaliger Versuch sie zu einem Krankenhausbesuch zu überreden, war ihr alles andere als willkommen. Ihr ging es gut. Zumindest was ihre körperliche Verfassung betraf. Erstaunlicherweise hatte sie durch den Schlag keine Brüche erlitten, sondern nur einen Bluterguss. Die Krankenhausärzte konnten dagegen nicht mehr unternehmen als sie selbst. Der Kommissar hatte ihr zwar eindringlich zu einer ärztlichen Untersuchung geraten, aber nicht angeboten sie zu begleiten. Wie hätte sie reagiert, wenn er es getan hätte? Sie erinnerte sich an seine Augen, in der Farbe eines strahlend klaren Himmels an einem Sommermorgen. Das war ein schöner Anblick. Wie der ganze Kommissar überhaupt. Was wäre geschehen, wenn er ihr seine Begleitung angeboten hätte? Wäre sie dann ins Krankenhaus gegangen? Es gab viele Dinge, die schlimmer waren, als jetzt mit ihm in einem Krankenhaus warten zu müssen. Worüber würden sie sich während der Wartezeit unterhalten? Den Schusswechsel? Die Aussicht trübte den Gedanken daran. Gab es keine anderen möglichen Themen über die sie sprechen würden? Rebecca seufzte. Vielleicht litt sie doch an einer Gehirnerschütterung. Warum sonst beanspruchte der Kommissar derartig ihr Denken? Das war zu klischeehaft für ihren Geschmack. So etwas passte nicht zu ihr, dafür umso mehr zu Julia.

„Im Notfall gebe ich mich mit Fastfood zufrieden“, meinte diese.

Für einen Moment hatte Rebecca den Faden verloren. Dann fiel ihr Julias Frage wieder ein. „Ich habe keinen Hunger. Setz mich bitte einfach Zuhause ab.“

„Bist du dir sicher?“ fragte Julia zweifelnd und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

„Ja“, antwortete Rebecca und beobachtete wieder durch das Fenster die Welt, wie sie an ihr vorbeizog.

„Ich fasse nicht, dass er dir einfach so seine Karte gegeben hat“, brummte Julia nun. „Rufst du ihn an?“

Rebecca dachte kurz darüber nach. Die Karte hatte sie für den Notfall bekommen. Jedenfalls hatte sie es so verstanden. „Vermutlich nicht“, antwortete sie. Wer wollte schon gerne ein Notfall sein? Sie jedenfalls nicht.

„Gut, dann gib sie mir“, schlug Julia vor. „Ich rufe ihn an.“

„Nein“, erwiderte Rebecca prompt. Natürlich hatte Julia Interesse an dem Kommissar. Sie hatte ein Interesse an allen gutaussehenden Männern.

„Das finde ich sehr egoistisch von dir“, teilte Julia ihr schnippisch mit.

„Ich habe die Karte im Falle eines Notfalls und nicht damit du deiner Sammlung eine weitere Trophäe hinzufügen kannst“, stellte Rebecca klar.

„Hast du ihn dir denn genau angesehen? Vielleicht hattest du während deiner Freakshow nicht die Zeit dafür? Der Kerl ist heiß. Er ist heiß und er hat Handschellen. Wenn du ihn nicht willst, gib mir die Karte. Ich bin gerne ein Notfall“, forderte Julia.

„Nein“, wiederholte Rebecca erneut, was ihr einen finsteren Blick von Julia einbrachte.

Ihre Freundin nahm ihr das wirklich übel, stellte Rebecca fest. Sie kannten sich seit Jahren, hatten sich während ihrer Studienzeit sogar eine Wohnung geteilt und sich noch nie wegen eines Mannes gestritten. Vielleicht lag es daran, dass Rebecca sich kurz nach dem Studienbeginn verliebt hatte und wenig später eine feste Beziehung einging. Julia hingegen, beanspruchte damals alle anderen Männer für sich.

„Ich kann es nicht fassen. Du weigerst dich tatsächlich?“ Julias Stimme klang etwas schrill. Sie regte sich sehr über die Sache auf. Was nicht erstaunlich war. Julia war nun einmal eine sehr egoistische Person, die immer bekam was sie wollte. Dazu war ihr jedes Mittel recht. Das galt sowohl für die Anwältin als auch für die Privatperson Julia Sommer. Rebecca sehnte sich nach ihrer Wohnung, nach Ruhe und dem Ende dieser Diskussion. Warum wollte diese Heimfahrt nicht enden? Julia bestrafte sie nun mit Schweigen. Erleichtert stieg Rebecca aus, als der Wagen endlich vor dem Mehrfamilienhaus hielt, in dem sich ihre Wohnung befand. Kaum hatte sie die Wagentür hinter sich geschlossen, rauschte Julia mit quietschenden Reifen davon. Kopfschüttelnd schloss Rebecca die Haustür auf. Ihre Wohnung lag im Parterre. Sie musste nur wenige Schritte durch den Hausflur, um an ihre Wohnungstür zu gelangen. Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, ging sie in die Küche zum Kühlschrank, nahm eine Packung Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach und schmiegte es an ihre schmerzende Wange. Mit der freien Hand nahm sie ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. In dem schwachen Lichtschein, der durch die Tür von dem hell erleuchteten Flur ins dunkle Wohnzimmer schien, betrachtete Rebecca das Bild. „Ach, Ben“, seufzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das Bild fest an ihre Brust drückte.

Leon parkte seinen Wagen im Carport, stieg aus und ging zur Tür seiner Einliegerwohnung. Trude, seine Vermieterin, fischte gerade die Tageszeitung aus dem Briefkasten und winkte ihm mit der Zeitung in der Hand freudig zu. "Guten Morgen, Leon. Ich habe dir gestern Abend etwas zu Essen in den Kühlschrank gestellt. Es gab Schmorbraten mit Klößen und Rotkohl. Ich habe wieder viel zu viel gekocht. Lass es dir schmecken!" Leon winkte zurück. Er mochte das alte Vermieterehepaar, obwohl er sich an Trudes Eigenart ihm etwas zu Essen in seinen Kühlschrank zu stellen, nicht recht gewöhnen konnte. Sie spazierte dazu einfach durch seine Wohnung, während er nicht zu Hause war. Unter Privatsphäre verstand er etwas anderes. Diese Unart hatte Trude sich mit der Zeit angewöhnt. Offensichtlich brauchte der arme Junge etwas Anständiges zu Essen. Von dieser Meinung war sie nicht abzubringen. Die eigentliche Abmachung war, er zahlte eine relativ geringe Miete und dafür mähte er ein paar Mal im Jahr den Rasen. Irgendwann war in einem merkwürdigen Automatismus noch Teilverpflegung dazu gekommen. Er wusste, dass Trude es nur gut mit ihm meinte. Deswegen hatte er das Schloss auch nicht ausgetauscht. Leon sperrte die Tür auf. Selten hatte er sich seinen Dienstschluss so sehr herbei gewünscht wie heute. Nach ihrem Einsatz in der Praxis waren sie zur Inspektion zurückgekehrt, um sich mit der lästigen, aber dazu gehörenden Schreibarbeit zu befassen. Die machte leider einen großen Teil seines Berufs aus. Und Dieter, clever wie er nun mal war, überließ den, seiner Meinung nach, unsinnigen Schreibkram natürlich gerne ihm. Da Leon angeblich noch die Übung fehlte. Als ob das Schreiben von Berichten jahrelange Übung erforderte. Sein Partner nutzte den höheren Dienstgrad aus und schob die unliebsame Arbeit auf Leon ab. Und als wäre das nicht schon Strafe genug gewesen, musste er Sticheleien über sich ergehen lassen. Die winzige Tatsache, dass er Rebecca Brandt seine Hilfe angeboten hatte wurde von seinen Kollegen offenbar sehr amüsiert aufgenommen. Leons Begründung, dass er nur ein anständiger Freund und Helfer sein wollte, bot weitere Gründe für wilde Spekulationen. Na gut, da empfand er ausnahmsweise Sympathie für eine Frau, das letzte Mal war schon Jahre her, und womit bekam er es gedankt? Mit den Sticheleien seiner Kollegen. Er erinnerte sich an seine vielleicht etwas übertriebene Reaktion auf einen Kommentar eines nicht sehr beliebten Kollegen. "Hey Zimmermann. Falls du die Adresse des reizenden Docs brauchst um dich ausgiebig um sie zu kümmern, kann ich sie dir geben. Immerhin wäre es im Interesse von uns allen, wenn du etwas entspannter wärst."

"Wenn du meine Faust in deinem Gesicht brauchst, kann ich sie dir geben", hatte Leon erbost erwidert, doch Dieters fester Griff an seiner Schulter hatte ihn von allem weiterem abgehalten.

Leon verzichtete auf das Einschalten des Lichts und drückte auf den Knopf seines Anrufbeantworters, dessen beharrliches Aufleuchten auf den Eingang von Nachrichten hinwies.

"Leon, dein Vater wird morgen siebzig Jahre alt. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Aber es wäre wirklich schön, wenn du ihn besuchen kommen könntest. Er würde sich so freuen", erklang die Stimme seiner Mutter vom Band. Müde rieb sich Leon die Augen. Geburtstag hin oder her, er konnte seine Eltern nicht besuchen. Zu schwer lastete die Tatsache auf ihm, dass er seinen Bruder einfach nicht finden konnte. Er, der die ideale Ausbildung und alle Möglichkeiten dazu hatte, versagte kläglich. So konnte er seinen Eltern nicht vor die Augen treten. Eines Tages, wenn Daniel endlich wieder da war, würden sie zu zweit heimkehren. Das war jedenfalls Leons Plan. Außerdem liebte sein Vater es, Geschichten über Daniel zu erzählen. Geschichten darüber, wie Daniel einen Vertrag bei einem Bundesligisten ergattert hatte. Und was für ein erfolgreicher Nationalspieler Daniel heute sein könnte, wenn er nicht einfach verschwunden wäre. Nein, das ertrug Leon einfach nicht. Er löschte die Nachricht und ging ins Badezimmer. Das war eine wirklich miese Nacht gewesen. Mal abgesehen davon, dass er eine Therapeutin getroffen hatte, die er nur zu gerne näher kennenlernen würde. Eine Therapeutin, um Himmels willen! Was für eine miese Nacht. Er schaltete das Badezimmerlicht ein, zog sich aus und stellte sich unter das fließende, warme Wasser der Dusche.

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