Читать книгу Gute Welt, böse Welt - Andie Cloutier - Страница 7

5.Kapitel

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Veronika Lohbach stand am Fenster ihres Büros und blickte hinaus auf das Firmengelände. Sie beobachtete das geschäftige Treiben. Nur wenige Leute waren draußen unterwegs und wegen des kalten Regens hatten sie es eilig wieder in eines der Gebäude zu kommen, um dem Regen und der Kälte zu entfliehen. Veronika mochte das Wetter. Auch nach Jahren konnte sie dem Sommer nichts abgewinnen. Sie bevorzugte die kalte, ungemütliche Jahreszeit. Für ihren Geschmack lag ihr Büro nicht hoch genug. Die 2. Etage bot ihr nicht genügend Überblick. Das war etwas, was sie im Rahmen des Firmenausbaus ändern wollte. Sie brauchte ein höher gelegenes Büro und das würde sie auch bekommen.

Wieder huschte ein Mitarbeiter über den Hof. Heute Morgen hatte sie einige Unmutsbekundungen bezüglich des Wetters mithören müssen. Sehr zu ihrem eigenen Missfallen. Man konnte den Gesprächen der Mitarbeiter zwar aus dem Weg gehen, aber ihnen nie gänzlich entkommen. Jedenfalls nicht, so lange sie ihre Zungen hatten. Es war ihr ein Rätsel, warum die Menschen immer nur am Jammern waren und ständig nach mehr verlangten. Sie konnten nie glücklich sein, mit dem was sie hatten. Es musste immer mehr sein. Dabei war ihre Lebenszeit sehr überschaubar. Jeder einzelne von ihnen war nicht mehr als ein Wimpernschlag in einer unendlichen Geschichte. Trotzdem wollten sie stetig Dinge anhäufen, deren Nutzen nicht von langer Dauer war. Natürlich hatte auch sie selbst Ziele. Im Gegensatz zu denen da draußen hatte Veronika sehr viel verloren.

Hinter ihr öffnete sich die Tür. Auch ohne nachzusehen, wusste sie wer gerade ihr Büro betrat. Auf ihre Sinne war weiterhin Verlass, auch wenn sie manchmal befürchtete, sie würden allmählich verkümmern. „Hallo Lena.“

„Störe ich dich?“

Veronika kehrte dem Fenster ihren Rücken zu und schenkte der Abteilungsleiterin der Buchhaltung ihre volle Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu ihr war Lena geradezu winzig. Allerdings gab es auch nicht viele Frauen hier, die eine Körpergröße von 1,86 Meter erreichten. Heute standen Lena ihre naturkrausen Haare wieder besonders wirr vom Kopf. Ganz gleich was Lena auch versuchte oder wie kurz sie ihre Frisur auch hielt, gegen ihre krausen Haare konnte sie nicht gewinnen. Das hatte Veronika in den vergangenen Monaten, die ihre Beziehung nun schon andauerte, gelernt.

„Hast du schon von Thomas Geistesblitz erfahren?“ fragte Lena und schob ihre herunterrutschende Brille wieder auf die richtige Position.

„Wenn dieser Geistesblitz dich jetzt zu mir führt, kann es nur wieder irgendein dämlicher Mist sein“, stellte Veronika fest.

„Er bezahlt eine Beerdigung“, brachte Lena es gleich auf den Punkt.

Veronika sah sie erstaunt an. „Er bezahlt eine Beerdigung? Warum?“

„Manfred Groß wurde gestern Abend erschossen“, meinte Lena, als würde das irgendetwas erklären.

„Was soll mir das sagen?“ erkundigte sich Veronika irritiert.

„Manfred Groß war einer unserer Leute. Er wurde gestern erschossen, als er seiner Zweitbeschäftigung nachging“, erklärte Lena ihr nun.

Veronika verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn der Mann zwei Beschäftigungen nachging, warum muss Thomas die Beerdigung bezahlen? Wie kann man selbst nach dem Tod noch derart gierig sein?“

Lena zog die Nase kraus. Das tat sie immer, wenn sie Veronikas Gedankengang nicht ganz folgen konnte. Und das passierte häufig, dessen war sich Veronika durchaus bewusst.

„Der Mann brauchte das Geld für seine kranke Frau. Weißt du noch, diese ständigen Diskussionen um Gehaltserhöhungen oder Tarifverträge? Die Gehaltspolitik der Lohbach GmbH ist nicht ganz optimal“, erklärte Lena ihr und schien dabei zu schrumpfen. Es schien fast, als hätte Lena Angst vor ihr.

„Also zahlt Thomas die Beerdigung, damit alle sehen, was für ein großzügiger Arbeitgeber er ist“, stellte Veronika fest. „Das ist nicht auf seinem Mist gewachsen.“

„Nein. Eric Richter hat ihn wohl davon überzeugt.“

Veronika lehnte sich gegen die Fensterbank. „Glaubt er wirklich das reicht, um aus den negativen Schlagzeilen herauszukommen?“

Lena zuckte mit den Schultern.

Veronika wusste, dass es nicht reichen würde. Die Presse war unnachgiebig, lauerte förmlich auf Fehler, die sie umgehend anprangern konnte. Das Thema Löhne und Gehälter wird sie sehr bald wieder im Nacken haben. Vielleicht nicht heute und vielleicht auch noch nicht morgen, aber spätestens nach der Beerdigung. Dann kommt dieses leidvolle Thema wieder auf und die Kritik an ihrer Gehaltspolitik. Das letzte Mal war noch nicht sehr lange her. Sie konnte nicht sagen, wie oft sie sich den Spruch anhören musste: ‚Wie kann man das Geld für einen großen Ausbau haben, aber nichts für die Angestellten?‘ Darauf hatte sie keine Lust. Sie mochte es nicht, sich erklären zu müssen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihr kam eine Idee. Sie lächelte wohlgefällig. „Lena, schick mir den Betriebsratsvorsitzenden umgehend vorbei.“

Julia wartete geduldig, bis Rebecca am Straßenrand geparkt hatte, bevor sie aus ihrem Wagen stieg. Sie war sehr überrascht gewesen, als Rebecca vorhin anrief und die Geschichte von dem Hauserbe berichtete. Natürlich war Julia sofort bereit gewesen, sich das Erbe gemeinsam mit Rebecca anzuschauen. Und nun stand sie hier und starrte auf ein rostiges Gartentor, das nur noch von der oberen Angel gehalten wurde. Der Vorgarten, in den das Tor führte, war nicht minder eindrucksvoll oder bedauernswert, je nachdem wie man es sehen mochte. Zwei riesige Trauerweiden flankierten den Weg zum Haus. Obwohl es bereits Spätherbst war, wucherte Unkraut zwischen vermutlich einst gepflegten Pflanzen. Ein Dickicht aus vereinzelten, farbigen Blättern, dornigen Ästen und vertrocknetem, hüfthohen Gras. Selbst vor den Steinen, die den Weg zum Haus bildeten, hatte die Natur nicht haltgemacht. Aus sämtlichen Ritzen spross es grün und braun. Das Haus selbst war aus grauen Steinen erbaut worden, die nie verputzt worden waren. Die Ziegel auf dem Dach des einstöckigen, verfallen wirkenden Bauwerks waren alt, ihre Farbe mittlerweile undefinierbar. Direkt hinter dem Haus erhob sich ein Felsen zu einem Berg empor. Felsstein in der gleichen Beschaffenheit wie das Gemäuer des Hauses.

Julia räusperte sich. „Also, das ist bei weitem das hässlichste Haus, das mir je untergekommen ist.“

Zweifelnd schaute Rebecca auf den Haustürschlüssel in ihrer Hand. Der Schlüssel hatte mit den heutigen Exemplaren seiner Art nicht viel gemein. Er war zu klobig, zu schwarz und mit einer Vielzahl von Gebrauchsspuren in Form von Kratzern gezeichnet. Julia beobachtete, wie Rebecca erst tief durchatmete, dann vorsichtig das wackelige Gartentor öffnete und langsam einen Fuß vor den anderen setzte, um nicht mit ihren Absätzen in einer der Steinritzen hängen zu bleiben.

„Ich habe keine Hausnummer gesehen. Vielleicht ist es ja das falsche Haus“, meinte Julia erzwungen optimistisch. Etwas strich durch ihr Haar. Erschrocken schrie sie auf.

„Was ist los?“ wollte Rebecca wissen.

Wütend funkelte Julia die Äste der Trauerweide über sich an. „Der gruselige Baum hat meine Haare durchwühlt!“

Rebecca wandte sich wieder der Haustür zu. Sie steckte den Schlüssel in das Schloss der dunklen, massiven Holztür und drehte ihn um. Die Frauen hörten den Entriegelungsvorgang klar und deutlich.

Julia hielt den Atem an. Der Vorgarten war ein Chaos, doch ein anständiger Gärtner konnte daran schnell etwas ändern. Als erstes müssten natürlich die beiden unheimlichen Bäume gefällt werden, dann fiel auch mehr Licht in den Garten. Aber das Haus, erbaut aus dem Gestein des direkt angrenzenden Felsen, war eine ganz andere Nummer. Das sollte man am besten abreißen, um Platz für etwas Neues, etwas Schönes zu schaffen. Julia starrte auf die hässliche Figur, die als Türklopfer diente, während Rebecca das Ungetüm aus Holz öffnete. Erleichtert stellte Julia fest, dass nichts geschah. Nichts krachte über ihren Köpfen zusammen und niemand stürzte sich ihnen aus dem Inneren des Hauses entgegen. Die letzte Befürchtung schallt sie als albern und folgte Rebecca in das Haus.

Wo Rebecca sofort wie angewurzelt stehen blieb.

„Oh. Mein. Gott“, brachte Julia mühsam hervor. Es gab keinen besseren Kommentar für den Anblick, der sich ihnen bot.

Die von schweren Vorhängen gesäumten bodenlangen Gardinen der Fenster ließen nicht viel Tageslicht herein und doch reichte es in diesem Moment vollkommen aus. Der Boden bestand aus dunkelbraunem Parkett, zweifellos viele Jahre alt. Die cremeweißen Wände zierten endlose, goldene Rocaille Motive, die einen förmlich zu erschlagen drohten. Aufgelockert wurde das bizarre Muster nur durch ein paar Messingwandlampen, deren s-förmige Arme aufwendig verziert waren. Die Kerzen waren dank des technischen Fortschritts wohl durch kerzenförmige Glühbirnen ersetzt worden. Unter einem geschwungenen, goldlackierten Dielenspiegel stand ein dreitüriges Sideboard aus Palisander mit Wurzelholzfurnier. Hinter den beiden seitlich gewölbten Glastüren konnte man auf Spiegelflächen sehen. Die Anrichte des Sideboards bestand aus rotem Marmor. Eine kleine Statue aus weißem Marmor stand nicht ganz mittig auf der Anrichte, schien die beiden Neuankömmlinge neugierig anzusehen. Nur ein paar Meter neben dem Sideboard stand ein breiter Hocker. Das goldene Grundgestell war mit geschnitzten Voluten versehen. Der leicht verschlissene, cremefarbene Bezug passte sich farblich der Wand im Hintergrund an.

Rebecca fehlten offenbar die Worte.

„Nicht ganz dein Stil“, stellte Julia trocken fest und traf damit den Nagel, wenn auch stark untertrieben, auf den Kopf.

Nur zögerlich ging Rebecca weiter den Flur bis zu einer geschlossenen Zimmertür entlang. Es war still, als sie die Tür öffnete und in den Raum blickte. Es handelte sich eindeutig um ein Schlafzimmer. Ein goldfarbenes Himmelbett dominierte den Raum. Die Verzierungen, der Baustil des Bettes stammten ebenso wie der handbemalte Wäscheschrank aus einem anderen Jahrhundert. Auch vor den Schlafzimmerfenstern hingen bodenlange Gardinen, gesäumt von schweren, goldenen Vorhängen. Neben den beiden riesigen, alten Möbelstücken vereinnahmte nur noch ein großer, offener Kamin dieses Zimmer.

Das zweite Schlafzimmer war nicht viel besser als das Erste. Es war deutlich kleiner, das Bett wirkte geradezu winzig im Vergleich zu dem gewaltigen Himmelbett des Hauptschlafzimmers. Der Raum war in einem sehr gewöhnungsbedürftigen Grün gehalten.

Das Badezimmer erschien Julia schon fast modern. Allerdings ließ sich schwer einschätzen aus welchem Jahrzehnt die sanitären Anlagen stammten. Wenigstens schien es sich um die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu handeln und im Vergleich zu dem, was sie bisher gesehen hatte, war es tatsächlich modern.

Das gleiche galt für die Küche. Obwohl die Farbzusammenstellung der Schränke und Arbeitsplatten hart an Körperverletzung grenzte. Selbst der große Kühlschrank war grell orange.

„Sieh es positiv: du hast es geschenkt bekommen und musstest keinen Cent dafür ausgeben“, murmelte Julia und vergrub ihre Hände tief in den Taschen ihres Mantels. Im Haus war es kalt.

„Ich kann mir beim besten Willen auch nicht vorstellen, dass irgendjemand hierfür Geld ausgeben würde“, fand Rebecca und öffnete die letzte geschlossene Tür.

Das Wohnzimmer war ein Albtraum aus lila. Die Wände ganz in Flieder gestrichen, nur unterbrochen nur von einem weiteren großen Kamin, der von einer mächtigen Bücherwand eingerahmt wurde, die bis unter die Decke reichte. Die Couch war dunkellila, bedeckt mit vielen weißen Kissen in unterschiedlichen Größen.

„Es erinnert mich ein klein wenig an ein Barockschloss. Ohne die Größe eines Schlosses, natürlich“, sagte Julia.

Da an diesem Abend auf der Wache nicht viel los war, entschloss sich Leon während seiner Pause dazu eine alte Bekannte zu besuchen. Wenig später schaute er unschlüssig auf eine Eingangstür. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er das Lokal betreten oder es lieber seinlassen sollte. Seit Jahren machte er nun schon einen großen Bogen um dieses Gebäude. Aber irgendwann musste er sich mal überwinden. Warum also nicht heute? Da Dr. Brandt ihm nicht aus dem Kopf ging war es vermutlich keine schlechte Idee in Erfahrung zu bringen warum genau seine letzte Beziehung scheiterte. Leon atmete tief durch und betrat das Restaurant. Die freundliche Einrichtung des Speiseraums überraschte ihn nicht. Janine hatte schon immer einen ausgezeichneten Geschmack besessen. Zumindest was diese Dinge betraf. Die Möbel waren aus hellem Holz, farblich abgestimmte Decken lagen auf den Tischen. Neben neuen Kerzen standen kleine Blumenvasen auf den Tischen. Überhaupt waren im Speiseraum zahlreiche Pflanzen vorhanden. Leon wusste, dass es sich dabei um echte Blumen und Pflanzen handelte. Janine konnte die pflegeleichten Imitate nicht leiden und sie besaß einen grünen Daumen. Er konnte sich noch daran erinnern, wie Janine damals aus anfänglich langweiligen Blumenkästen wahre Blütenmeere zauberte. Die Kästen hingen noch immer an Ort und Stelle. Allerdings hatten die Blumen seine mangelnde Zuwendung nicht lange überlebt. Hätte Trude sich nicht ihrer angenommen würde dort nur noch getrocknetes, unansehnliches Geäst herumhängen. Hinter dem Tresen polierte eine junge Frau, wahrscheinlich eine Auszubildende dem Alter nach geschätzt, Gläser mit einem Tuch.

Sie erblickte ihn, legte Glas und Tuch aus ihren Händen und kam auf ihn zu: „Guten Abend. Möchten Sie einen Tisch für eine Person?“

„Nein, danke. Ich möchte bitte mit Janine sprechen. Ist sie da?“

Kaum hatte Leon ausgesprochen, öffnete sich eine Tür hinter dem Tresen und Janine betrat den Raum. Sie war immer noch wunderschön. Selbst mit dem unachtsam zusammengebundenen Zopf und ihrem anscheinend weiterhin fehlendem Interesse an dekorativer Kosmetik. Sein Blick glitt an ihrem Körper hinab und blieb an ihrem sehr gewölbten Bauch hängen.

„Na, sieh mal einer an, wen der Wind hereingeweht hat. Oder ist die andere Straßenseite wegen Bauarbeiten gesperrt?“ Trotz des Sarkasmus klang Janine erfreut.

Leon schaute wieder in ihr Gesicht.

Sie lächelte, ihre Augen strahlten. „Du siehst aus als könntest du etwas zu Essen vertragen.“

Er fühlte sich sehr unbehaglich, als er ihr durch die Tür in die Küche folgte. „Dein Restaurant ist großartig. Es freut mich, dass du deine Pläne umgesetzt hast. Läuft es gut?“ Als sie noch ein Paar waren, hatte sie von ihrem eigenen Restaurant geträumt und nun besaß sie tatsächlich eines.

Janine begann in der Küche zu hantieren. „Die Mittagszeit ist unrentabel. Ich muss mir überlegen, wie ich meinem Mittagsstammgast und oft einzigem Gast zur Mittagszeit, beibringen soll, dass ich demnächst erst ab dem Spätnachmittag öffnen werde.“

„Sag es einfach gerade heraus“, riet Leon ihr. „Das konntest du doch schon immer gut.“

„Wenn es denn so einfach wäre. Aber es ist schon komisch, wenn sich eine Köchin überlegt, wie sie einer Therapeutin schlechte Nachrichten überbringen soll“, fand Janine lächelnd.

Leon wurde hellhörig. Therapeutin? Das konnte nicht sein, oder? Sicher, ihre Praxis lag quasi um die Ecke, aber Janines Mittagsstammgast war doch sicher nicht Rebecca Brandt. Die sich übrigens, seit er eine Nachricht bei ihr hinterlassen hatte, immer noch nicht bei ihm gemeldet hatte.

Janine bemerkte nichts von Leons gedanklicher Abwesenheit. Sie sah nicht zu ihm rüber, war ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt. „Was führt dich zu mir, Leon?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich wollte mal nach dir sehen. Sag mal, diese Therapeutin…“, er traute sich nicht den Satz zu beenden.

„Rebecca“, Janine sah ihn erstaunt an. „Kennst du sie etwa?“

Leon war fassungslos. Rebecca ging also täglich bei seiner Ex-Freundin Mittagessen. Was für ein Zufall war das denn?

Diesmal erkannte Janine, dass etwas nicht stimmte. „Kann es sein, dass du dich nach langer Abstinenz endlich wieder für Frauen interessierst? Und ganz speziell für Rebecca? Das wäre wirklich seltsam. Ausgerechnet eine Therapeutin. Na ja, auf jeden Fall habt ihr eine Gemeinsamkeit: ihr musstet beide um einen geliebten Menschen trauern.“

Das war etwas, was Leon überhaupt nicht gerne hörte. „Ich trauere nicht um Daniel. Er ist irgendwo da draußen!“

Janine holte tief Luft. „Das ist und bleibt ein Reizthema für dich, nicht wahr? Rebecca wird wohl wissen, wie man mit so etwas umgeht.“

Leon war aufgebracht. „Ich weiß nicht, was du meinst! Was soll das Ganze? Daniel ist nicht tot! Er ist dort draußen und ich werde ihn finden!“

Janine hielt inne und blickte ihn ernst an. „Genau das war unser Problem. Du kannst nicht loslassen. Du hast dich in die Suche verbissen. Nichts anderes zählte mehr. Wir hatten nur noch Streit, weißt du noch?“

Leon bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Ich muss los. Meine Pause ist vorbei.“ Ohne sich noch einmal umzusehen, marschierte er geradewegs zurück raus auf die Straße.

Rebecca versuchte tief und ruhig durchzuatmen. Sie stand im Vorgarten unterhalb der Trauerweiden und versuchte den Schock abzuschütteln, den sie während ihres Rundgangs durch das Haus erhalten hatte. Wie konnte man nur die wenigen vorhandenen Zimmer eines Hauses derart missgestalten? Und welcher seltsamer Verwandter hatte ihr die Bruchbude überhaupt vererbt? Einen Namen hatte sie in dem Dokument jedenfalls nicht finden können. Die Sache war rätselhaft.

„Mit etwas Fantasie, na gut, mit sehr viel Fantasie lässt sich aus dem Haus was machen“, meinte Julia neben ihr und las erneut eine Nachricht, die sie vor wenigen Minuten auf ihrem Smartphone erhalten hatte.

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Rebecca. Bei dem Anblick von Julias Smartphone fiel ihr etwas ein. Sie hatte ihr eigenes völlig vergessen. Hatte sie einen wichtigen Anruf verpasst? Mit vor Kälte halbtauben Fingern holte sie ihr Handy aus der Manteltasche. In dem Haus war es furchtbar kalt. Anscheinend gab es keine Zentralheizung, nur die paar offenen Kamine. Wer heizte heutzutage noch so? Mit einem kurzen Blick auf das Display stellte sie fest, dass sie tatsächlich einen Anruf verpasst hatte. Hoffentlich handelte es sich dabei nicht um einen akuten Notfall. Rebecca hörte die hinterlassene Nachricht ab: „Zimmermann. Vielen Dank für Ihre Nachricht. Es beruhigt mich zu wissen, dass Sie den Vorfall gut überstanden haben. Allerdings würde ich mich gerne selbst davon überzeugen. Haben Sie vielleicht demnächst Zeit für eine Tasse Kaffee? Falls Ihnen Kaffee nicht liegen sollte, ließe sich auch ein gemeinsames Essen einrichten. Das können Sie entscheiden. Rufen Sie mich einfach an.“ Rebecca musste grinsen.

Julia musterte sie misstrauisch. „Gute Nachrichten?“

„Er lädt mich zum Kaffee ein. Oder zum Essen. Das kann ich mir aussuchen“, berichtete Rebecca immer noch lächelnd.

Julia sah sie sprachlos an. Doch das währte nur kurz. „Du hast ihn angerufen?“

Schon fand sich Rebecca in einer festen Umarmung wieder.

„Ich bin so stolz auf dich!“ Julia beendete die Umarmung. „Ruf ihn an. Geht heute noch essen. Du musst ihn nicht mal mit zu dir nach Hause nehmen, wenn es gut läuft. Jetzt hast du eine Ausweichmöglichkeit mitsamt einem riesigen Himmelbett.“

Allein der Gedanke an das große Himmelbett ließ Rebecca erschaudern. „Ja, wenn ich ihn schnellstmöglich loswerden möchte, bringe ich ihn hierher. Bei dem Anblick des Hauses ergreift ja jeder die Flucht.“

„Ruf ihn an. Treff dich mit ihm. Heute“, befahl Julia ihr.

„Heute schon? Das ist ein wenig überstürzt, findest du nicht?“ Rebecca wollte nichts übereilen.

„Überstürzt? Ihr kennt euch doch schon seit zwei Tagen. Überstürzt handeln ist anders“, fand Julia.

„Ich dachte eher an Montag. Ein gemütliches Essen bei Janine“, gestand Rebecca.

Julia schüttelte den Kopf. „Das ist doch Quatsch. Warum aufschieben? Leider muss ich jetzt los. Hast du schon eine Idee, was du mit dem Haus machen wirst?“

„Dasselbe wie der Eigentümer vor mir.“ Rebecca hob einen großen, kantigen Stein in der Nähe der Haustür hoch.

„Und was soll das sein?“ fragte Julia.

„Es verfallen lassen.“ Rebecca legte den klobigen Schlüssel auf den erdigen Boden und setzte den Stein darauf.

Julia fuhr eine verlassene Straße entlang. Nur die Scheinwerfer ihres Wagens erhellten einen Teil der Umgebung. Die Bäume am Straßenrand warfen unheimliche Schatten. Sie freute sich auf das Treffen. Seit sie endlich eine Nachricht von ihm erhalten hatte, freute sie sich auf das Treffen. Eine Nachricht von ihm zu bekommen, war alles andere als befriedigend. Ein Treffen mit ihm kam der Sache schon viel näher. Der von ihm gewählte Treffpunkt behagte ihr allerdings nicht. Sie wusste, dass sie sich nur heimlich sehen konnten. Immerhin war er ein stadtbekannter Mann und zu allem Überfluss verheiratet. Aber warum musste es ausgerechnet eine solch einsame Gegend sein? Wenn sie jetzt eine Panne hätte, dann wäre sie aufgeschmissen. Kamen Pannenhelfer überhaupt hier raus? Sie folgte Erics Wegbeschreibung durch den düsteren Wald und parkte schließlich vor einem Gebäude. Was sich einst in diesem Gebäude befunden hatte, wusste Julia nicht. Es war ein Bestandteil eines seit Jahren verlassenen, ehemaligen Militärgeländes. Ein dunkler, ungemütlicher Ort, aber wenigstens war sie nicht alleine. Auf dem Parkplatz stand bereits ein großer, schwarzer BMW.

Julia stieg aus und sah sich um: „Eric?“

Er antwortete nicht. Mit aufgeregt pochendem Herzen näherte sie sich dem Gebäude. „Eric?“

Falls das ein Spiel sein sollte, so mochte sie es nicht. Ihre zitternde Hand legte sich auf den Türgriff. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag laut in ihren Ohren klopfen. Die Tür war nicht verschlossen. Julia öffnete sie vorsichtig einen Spalt weit. „Eric?“

Der Türgriff entglitt ihrer Hand, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Zwei Hände packten sie grob, zogen sie in das dunkle Innere des Gebäudes. Panik breitete sich in Julia aus. Ihr Rücken machte unsanft Bekanntschaft mit einer Wand, dabei blieb ihr Herz vor Schreck stehen. Der Schmerz ließ sie laut aufstöhnen und im nächsten Moment drang eine Zunge tief in ihren Mund ein.

Nur einige hundert Meter von dem verlassenen Gebäude entfernt, lehnte Robert Kurkov an der Beifahrertür seines Geländewagens und schaute in die Dunkelheit hinaus. Für seinen Geschmack war hier an diesem Abend viel zu viel los. Normalerweise war es um diese Uhrzeit ruhig und still. Zwei Autos waren kurz hintereinander von dem Hauptweg in die Einfahrt zum alten Lager abgebogen. Keines der beiden Fahrzeuge gehörte zu ihm. Dabei mochte Robert gerade die Abgeschiedenheit dieses Ortes. Es war ideal um Personen zu treffen, mit denen man nicht gesehen werden wollte oder sollte. Offenbar war er jedoch nicht der Einzige, der auf die Idee gekommen war. „Hey, Frank. Ich will wissen, wer das ist.“

Frank, sein langjähriger und verlässlichster Mitarbeiter, warf ihm einen kurzen Blick zu. „Kein Problem.“ Im nächsten Augenblick war Frank schon im Wald verschwunden.

Robert beschränkte diese Art von Treffen auf ein absolutes Minimum. Es gab Dinge, die erledigte er nicht gerne. Deswegen vermied er solch unangenehme Sachen weitestgehend. Aber manchmal war eine Vermeidung einfach nicht möglich. Manchmal war es eben unumgänglich. Wie an diesem Abend. Er erwartete einen Geschäftspartner, mit dem er alles andere als glimpflich umgehen würde. Leider blieb ihm nichts anderes übrig. Die, von dem windigen Geschäftsmann gelieferte Ware hatte sich als Mangelware von katastrophalem Ausmaß erwiesen. Nicht ein Produkt war tatsächlich einsatzfähig. Genau genommen hatte man es gewagt ihm, Robert Kurkov, einen Haufen lebensgefährlichen Schrott anzudrehen. Und das konnte er nicht auf sich sitzenlassen. Er musste ein Exempel statuieren, zeigen, dass man ihn besser nicht betrügen oder hintergehen sollte. Dieser unfähige Trottel von Geschäftsmann hatte sich umgehend zu einem weiteren Handel bereit erklärt. Wie dumm konnte der sein? Natürlich war das neue Geschäft nur ein Vorwand, aber der gierige Trottel war zu dämlich um das zu begreifen. Oder vielleicht war er einfach zu überheblich? Wer wusste das schon? Wie dem auch sei, die Bezahlung, die Robert vorgesehen hatte, war sicher nichts was der Idiot erwartete. Und für die Aktion konnte Robert keine Zeugen gebrauchen.

In der Ferne konnte er wieder Scheinwerfer erkennen. Sie kamen stetig näher, bis ein Lieferwagen einige Meter von ihm entfernt stehenblieb. Zufrieden verschränkte Robert seine Arme vor der Brust. Der Typ wird nie wieder Waffen verkaufen, die dem Benutzer um die Ohren flogen. Der Motor wurde ausgeschaltet. Noch bevor sich die Türen öffneten, zersplitterten die Scheiben. Die Insassen bekamen keine Chance auszusteigen oder sich zur Wehr zu setzen. Plötzlich war es wieder still, als wäre nie etwas geschehen. Aus den Büschen hinter Robert, trat ein dunkel gekleideter Mann hervor. Über seinem Rücken hing eine PSG 1. „Exzellente Arbeit, Ingo“, sagte Robert anerkennend.

„Vier Idioten auf dem Präsentierteller. Keine große Sache, Boss.“ Ingo schritt an seinem Chef vorbei zu dem beschossenen Lieferwagen. Er zog eine Pistole, öffnete nach und nach alle Türen und überprüfte den Innenraum des Lieferwagens. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Die Insassen waren tot. Schließlich traf Ingo immer sein Ziel, fand Robert.

Frank kehrte zurück. „Der neue Bürgermeister hat ein Schäferstündchen.“

Robert zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Tatsächlich? Ist es ganz bestimmt Eric Richter?“

„Ganz sicher. Es sein denn, er lässt sonst jemanden seinen geliebten BMW fahren“, entgegnete Frank, wohl wissend, dass das nicht der Fall war.

Ein Abschleppwagen tauchte aus der Dunkelheit auf. Frank und Robert beobachteten wie der Lieferwagen von mehreren Männern vertäut wurde.

„Wer ist die Unglückliche?“ fragte Robert weiter.

„Das kann ich noch nicht sagen. Aber Dank des Autokennzeichens, werden wir es in Kürze wissen“, fand Frank zuversichtlich.

„Kümmere dich darum. Es ist nie verkehrt etwas zu wissen, was niemand wissen soll.“ Robert wandte sich an seine fleißigen Mitarbeiter. „Lasst den Wagen mitsamt den Insassen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“ Er stieg in seinen Geländewagen und ließ die normalerweise sehr verlassene Gegend schnell hinter sich. Denn zuhause wartete seine Frau auf ihn. Und mit etwas Glück waren vielleicht sogar die Kinder noch wach und er konnte ihnen eine Geschichte zum Einschlafen vorlesen. Das war etwas, was er sehr gerne tat.

Gute Welt, böse Welt

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