Читать книгу Gute Welt, böse Welt - Andie Cloutier - Страница 6

4.Kapitel

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Leon schaute durch das Seitenfenster seines Wagens an dem Gebäude hoch, das während seines letzten Dienstes zu einem Tatort geworden war. Das prasselnde Geräusch auf dem Autodach und der Windschutzscheibe zu ignorieren war schwer. Der Regen wollte einfach nicht aufhören. In der Ferne hörte er ein Martinshorn. Die Feuerwehr. Das klang nach vollgelaufenen Kellern. Was bei den Sturzfluten, die seit Tagen vom Himmel fielen, nicht weiter überraschend war. Leon hatte keine Ahnung, warum er auf seinem viel zu frühen Weg zur Wache ausgerechnet hier vorbeigefahren war und sein Auto am Straßenrand direkt vor diesem Gebäude geparkt hatte. Die Praxis lag so gar nicht auf seiner normalen Route. Aber doch, er wusste es nur zu genau. Es machte keinen Sinn sich selbst zu belügen. Er machte sich Sorgen. Sie hatte ihn nicht angerufen. Dabei hatte er wirklich darauf gehofft. Warum er sich ausgerechnet über eine Psychotherapeutin, die wohl von Natur aus alles besser wussten, sorgte, das war das eigentliche Rätsel. Genauso rätselhaft wie die Tatsache, dass er viel zu oft an sie dachte. Denn er dachte ständig an sie und das setzte ihm ziemlich zu. Sie war eine Ablenkung, die er nicht gebrauchen konnte. Nun gut, aber da er schon mal vor Ort war, konnte er kurz nach ihr sehen. Und sobald er wusste, dass es ihr gut ging, konnte er das Thema endgültig abhaken. Oder er lud sie zum Mittagessen ein. Immerhin war es jetzt gerade Mittagszeit. Von daher wäre es ein durchaus nachvollziehbarer Vorschlag. Schließlich musste jeder mal etwas essen. Ja, das war keine schlechte Idee. Ein gemeinsames Essen mit ihr gab ihm die Zeit sicher zu gehen, dass es ihr tatsächlich auch gut ging. Und er hätte nebenbei die Möglichkeit sie besser kennen zu lernen. Was selbstverständlich nicht der Grund war, sie einzuladen. Die Angestellte an der Anmeldung sah ihn erwartungsvoll an, als er die Praxis wenig später betrat. "Kann ich Ihnen helfen?"

Leon blieb an der Anmeldung stehen. „Oberkommissar Leon Zimmermann, ist Dr. Brandt zu sprechen?"

Die Angestellte schenkte ihm einen sehr auffälligen Augenaufschlag. "Haben Sie einen Termin, Le-on?"

Sie zog seinen Vornamen auf ungewohnte Art in die Länge. Das klang merkwürdig. Entweder litt sie unter einem Sprachfehler oder sie flirtete mit ihm. Was stimmte mit den Frauen in dieser Praxis bloß nicht? Gestern diese komische Frau Sommer und jetzt die Sprechstundenhilfe. "Nein, das habe ich nicht."

"Nun, dann schauen wir mal, was ich für Sie tun kann, Le-on." Die Angestellte beugte sich unnötig weit über den Terminkalender und bot ihm damit einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee. Leon nahm das nur sehr flüchtig zur Kenntnis bevor er sich auf das Landschaftsbild an der Wand hinter der Anmeldung konzentrierte.

"Nun, Dr. Brandt ist gerade außer Haus. In ungefähr einer Stunde wird sie zurück sein, wenn Sie solange warten möchten." Leon dachte über den Vorschlag nach. Er hätte mehr als genug Zeit, bevor sein Dienst begann. Aber eine Stunde lang hier warten, obwohl es durchaus im Bereich des Möglichen wäre, vielleicht könnten sie sogar noch nach ihrer Rückkehr essen gehen. Im nächsten Moment verwarf er den Gedankengang wieder. Hier eine Stunde lang auf Rebecca Brandt zu warten war schlichtweg absurd. So wichtig war es schließlich nicht. Nein, dazu sollte er keinesfalls bereit sein. Immerhin arbeitete sie anscheinend schon wieder und wenn sie arbeitete ging es ihr offenbar gut. "Nein, danke. Eher nicht", antwortete Leon. Es war höchste Zeit von hier zu verschwinden, bevor er es sich doch noch anders überlegte und sich brav im Wartebereich hockend wiederfand.

"Einen schönen Tag noch, Le-on", rief die Sprechstundenhilfe ihm nach und er konnte ihren Blick auf dem Weg zur Tür förmlich auf sich ruhen spüren.

Eric rollte genervt mit den Augen. Alle waren aus dem Haus, Sophia, die anstrengenden Kinder. Endlich könnte er in Ruhe arbeiten, wenn nicht jemand vor der Tür stände und beharrlich die Türklingel betätigen würde. Er stand auf, verließ sein Arbeitszimmer und ging zur Haustür. Eric war nicht überrascht, Thomas Lohbach vor seiner Tür vorzufinden. „Thomas, schön, dass du es so kurzfristig einrichten konntest. Komm doch herein.“ Er führte seinen Gast umgehend in das Arbeitszimmer. Die Tür musste er ausnahmsweise Mal nicht schließen. Außer ihnen war ja niemand im Haus. „Sag mal, gibt es etwas Wertvolleres als gute Schlagzeilen, Thomas?“

Lohbach zog seinen nassen Schurwollmantel aus, bevor er unaufgefordert Platz nahm. „Es gibt durchaus wertvollere Dinge, aber gegen gute Schlagzeilen habe ich nichts einzuwenden.“

Eric setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und schaute auf Thomas herab. „Das, mein Freund, habe ich mir gedacht.“ Er unterdrückte ein Schaudern. Lohbach war ganz sicher nicht sein Freund, aber er war eine nützliche Bekanntschaft und die sollte man sich bekanntlich vorsichtshalber warmhalten. Also fuhr er mit seiner kleinen Ansprache fort: „Gestern Abend hat sich eine schlimme Tragödie in unserer schönen, kleinen Stadt ereignet.“

„Eine Schießerei in einer Arztpraxis. Davon habe ich gehört.“ Thomas sah ihn neugierig an. „Inwiefern siehst du da gute Nachrichten für mich?“

„Nun, das Opfer, ein gewisser Manfred Groß, war dort als Gebäudereiniger tätig“, erklärte Eric ihm. Er genoss es auf Thomas herunterzublicken.

„Ich kann nicht behaupten, dass mich das interessiert“, meinte Thomas irritiert.

„Das sollte es aber, mein Lieber. Diese Reinigungstätigkeit übte Groß nur als Nebenjob aus. Er hatte bereits einen Vollzeitjob in deiner Fabrik“, teilte Eric ihm mit.

Thomas zuckte mit den Achseln. „Ich werde die Personalabteilung informieren. Und natürlich die Buchhaltung. Ein Toter braucht schließlich keinen Lohn.“

Eric sah ihn amüsiert an. Wie dämlich konnte ein Mensch bloß sein? Gab es denn keine Grenzen? „Ich bin noch nicht fertig. Weißt du, Groß war ein armer Mann. Er konnte es sich nur so leisten, die Therapie für seine Frau zu vereinfachen. Seine Frau ist an Krebs erkrankt.“

Er beobachtete, wie Thomas jetzt nervös im Stuhl hin und her rutschte. „Keine Sorge. Ich mische mich nicht in deine Gehaltspolitik ein. Du zahlst den Leuten eben was du kannst. Das weiß ich doch“, beruhigte Eric ihn und fuhr fort: „Jedenfalls ist es ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch lebt. Die Tumore müssten sie längst dahingerafft haben. Der einzige Nachkömmling des Paares ist vor Jahren nach Kanada ausgewandert, hat dort eine Familie gegründet.“

Thomas Blick glitt nun durch das Arbeitszimmer. „Wirklich tragisch, Eric. Aber was hat das mit mir zu tun?“

„Ich lasse den Sohn pünktlich zur Beerdigung seines Vaters einfliegen. Eine glückliche Familienzusammenführung unter weniger glücklichen Umständen. Allerdings fehlt der Familie noch eine Kleinigkeit. Und jetzt kommst du ins Spiel. Du wirst die Beerdigung finanzieren. Denn wer wäre dafür besser geeignet, als der von der Tragödie außerordentlich betroffene Chef?“ Eric kam auf den Punkt.

Thomas wirkte nicht begeistert. „Was kostet so eine Beerdigung denn? Ich weiß nicht, ob…“

Eric unterbrach ihn. „Erinnerst du dich noch an die Schlagzeilen, die du letzte Woche gemacht hast? Der geplante Fabrikausbau in einem Naturschutzgebiet?“

Thomas seufzte tief. „Gut, ich komme für die Beerdigung auf. Die Presse wird von unserer Hilfsbereitschaft erfahren?“

Eric grinste breit. „Selbstverständlich! Vergesse nicht, wir müssen auch an der Beerdigung teilnehmen. Dabei können wir uns im Glanz der Aufmerksamkeit etwas sonnen.“

Wie jeden Wochentag um die Mittagszeit, saß Rebecca auf ihrem Stammplatz in ihrem Lieblingsrestaurant direkt am Fenster. Auf dem Tisch lag ihr Notebook. Ein fast leerer Teller stand daneben. Sie blickte über die Grünpflanzen auf der Fensterbank hinaus auf die Straße. Das machte sie nun schon seit einigen Wochen. Es war Teil eines Rechercheprojekts. Die auftraggebende Firma würde die Resultate sicherlich für ihre eigenen fragwürdigen Zwecke nutzen. Aber Rebecca fand das Thema interessant und sie erhielt Geld dafür. Anfangs wollte sie die Geschehnisse auf der Straße noch mit Video aufzeichnen, was aber leider verboten war. Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden. Es geschah auch nur selten etwas, das eine Videoaufzeichnung lohnenswert machte. Das Verhalten der Menschen dort draußen war immer das gleiche. Sie wirkten vollkommen desinteressiert an ihrer Umgebung, gingen eilig ihrer Wege. Viele von ihnen hielten Smartphones in ihren Händen oder am Ohr. Manch einer blendete selbst die Geräusche mit Hilfe von winzigen und ab und zu auch größeren Kopfhörern aus. Hin und wieder begrüßten sich Leute. Bei diesen eher wenigen Ausnahmen handelte es sich wahrscheinlich um Menschen, die sich bereits kannten. Da war wenigstens ein Mindestmaß an Höflichkeit gefragt. Ansonsten galt eine spürbar egoistische Ausstrahlung. Lächelnde Gesichter gab es selten zu sehen. Befürchteten sie, ihre Gesichter würden bei einem Lächeln zerspringen? Langsam war Rebecca den Anblick von finsteren, emotionslosen Mienen leid.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

Rebecca wandte ihren Blick vom Fenster zu der jungen Bedienung, die an ihrem Tisch stand. „Die Rechnung, bitte.“

„Ich bringe Sie Ihnen sofort“, antwortete die junge Frau und machte sich eifrig auf den Weg zu der Kasse hinter dem Tresen.

Rebecca mochte das Restaurant. Die Atmosphäre war angenehm und freundlich. Die Speisen waren exzellent und nicht teuer. Außerdem war die Lage, an der Straße zwischen Fußgängerzone und Parkplatz, optimal für ihre Recherche. Um die Mittagszeit war im Restaurant nie viel los. Oftmals war Rebecca der einzige Gast um diese Zeit. Sie hoffte, dass es abends besser für das Restaurant lief.

Ein lautes Krachen, Metall traf hart auf Metall, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Unweit vom Restaurant ereignete sich ein Auffahrunfall. In unglaublich kurzer Zeit bildete sich eine Menschentraube. Die beteiligten Fahrzeuge und Personen wurden von den Zuschauern regelrecht umzingelt. Rebecca schüttelte den Kopf. Da kümmerte sich jeder stoisch um seinen eigenen Kram, bis es etwas zum Glotzen gab. Plötzlich war der eigene Kram uninteressant, man konnte mit anderen Menschen kommunizieren und man hatte Interesse an etwas anderem als sich selbst. Jetzt standen sie dort draußen und unterhielten sich angeregt. Manche machten fleißig Fotos mit ihren Smartphones. Rebecca machte sich einige Notizen bezüglich des Vorgehens auf der Straße.

„Hier ist deine Rechnung.“

Der kleine Zettel wurde vor Rebecca auf den Tisch gelegt. Janine, die Restaurantbesitzerin und Köchin, setzte sich wegen ihres hochschwangeren Zustands recht unbeholfen auf einen Stuhl gegenüber von Rebecca und amtete tief aus. Rebecca verstand beim besten Willen nicht warum Janine ein Kind in diese kalte Welt brachte und auch noch glücklich über diesen Umstand war, aber sie mochte Janine. „Wie geht es dir?“

Janine seufzte. „Ich fühle mich wie ein Elefant. Nein, eher wie ein Nilpferd. Ach, keine Ahnung. Lassen wir das. Wie geht es dir? Du siehst so bescheiden aus, wie ich mich fühle.“

Janine war direkt. Eine Eigenschaft, die Rebecca sehr sympathisch fand. „Es geht mir gut. Das sage ich heute ständig.“

„Liegt vielleicht daran, dass du vor ein paar Stunden mit einer Waffe bedroht wurdest und mitansehen musstest, wie zwei Menschen starben. Mir würde es dann nicht gut gehen“, fand Janine. „Wieso bist du heute nicht mit deinem Hintern Zuhause geblieben?“

Rebecca rollte mit den Augen. „Um was zu machen? Nichts, außer über gestern nachzudenken? Was alles hätte passieren können, aber nicht passiert ist?“

„Nee, ich sehe schon. Lass das mit dem Nachdenken lieber. Du denkst sowieso schon viel zu viel nach“, meinte Janine und erhob sich mühsam. „Damit ist mein Ausflug in die schöne Welt des Speiseraums beendet. Die Küche ruft.“

„Das Essen war super“, rief Rebecca ihr noch nach.

„Ich weiß“, erwiderte Janine selbstbewusst, bevor sie hinter der Küchentür verschwand.

Rebecca musste darüber lächeln. Sie packte ihr Notebook ein, zog ihren Mantel über, bezahlte die Rechnung bei der jungen Angestellten und machte sie auf den kurzen Fußweg zu ihrer Praxis.

Natascha erwartete sie bereits ungeduldig. „Du hattest Besuch.“

Rebecca sah sie erstaunt an. „Besuch? Meinst du einen Patienten?“

„Nein. Ein Kommissar war hier und wollte dich sprechen“, erzählte Natascha. „Ein gewisser Leon Zimmermann.“ Irgendwie brachte sie es fertig den Namen schnurrend auszusprechen.

Das irritierte Rebecca. „Vermutlich hat er weitere Fragen bezüglich gestern abend.“ Sie ging in ihr Sprechzimmer und legte ihren Mantel ab.

„Fragen wegen gestern Abend, das wäre wirklich zu schade“, fand Natascha. „Das ist ja schon ein Schnuckelchen.“

„Mach Feierabend, Natascha“, antwortete Rebecca. Sie holte ihren Geldbeutel hervor. Hinter dem Foto, auf dem sie gemeinsam mit ihrer Mutter in die Kamera lächelte, hatte sie etwas verstaut. Jetzt zog sie es aus dem Versteck und betrachtete die kleine Karte nachdenklich.

„Übrigens, die Magersucht hat abgesagt.“ Natascha schaute kurz ins Zimmer. „Ich mach dann jetzt Mittagspause.“

„Unsere Patienten haben Namen“, rügte Rebecca sie noch. Aber Natascha war schon zur Tür hinaus.

Rebecca sah die Karte in ihrer Hand fragend an. Aus welchem Grund war er hier gewesen? Gab es noch Fragen wegen gestern? Aber wenn es sich um etwas Wichtiges handeln sollte, meldete er sich doch bestimmt wieder. Allerdings könnte sie ihn auch kurz anrufen und ihm sagen, dass es ihr gut ging. So würde sie vielleicht erfahren, was es mit seinem Besuch auf sich hatte. Und es beanspruchte nicht viel Zeit. Mit dem Smartphone in der einen und der Karte in der anderen Hand saß sie eine Weile lang unentschlossen an ihrem Schreibtisch.

Sophia stieg in den Bus, bezahlte ihr Ticket bei dem Fahrer und suchte sich einen Sitzplatz. Davon gab es in dem Linienbus reichlich. Sie hatte sich gegen ein Taxi und für den Bus entschieden. Ihr stand nicht der Sinn nach einem geschwätzigen Taxifahrer oder der Einsamkeit eines einzelnen Passagiers. Eine Busfahrt inmitten vieler Menschen erschien ihr angenehmer. Vielleicht fühlte sie sich dann ausnahmsweise mal nicht vollkommen allein. Leider setzte genau das Gegenteil ein. Kinder alberten miteinander herum, freuten sich darüber, dass die Schule für heute beendet war und sie nun ihre Freizeit genießen konnten. Eine junge Mutter sah voller Liebe in einen Kinderwagen hinein. Ein Rentnerehepaar tuschelte miteinander.

Sophia fühlte sich einsamer als je zuvor. Vor Jahren hatte sie an eine glückliche Zukunft mit Eric geglaubt. Sogar davon geträumt wie es wäre mit ihm alt zu werden. Wie sich Dinge ändern konnten. Was sie zum zweiten Grund brachte, weshalb eine Scheidung unmöglich war. Ein wohlbehütetes Geheimnis von dem sie nicht einmal Dr. Brandt erzählt hatte. Erics Eltern waren nicht mit ihr einverstanden gewesen. Sie wünschten sich eine standesgemäße Frau für ihren Sohn. Kein junges Mädchen aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Doch Eric wollte sie und keine andere und Eric bekam immer was er wollte. Das hatte zu einem bösen Streit mit seinen Eltern geführt. Sogar von Enterbung war die Rede gewesen. Zwei Monate vor der Hochzeit starben Erics Eltern bei einem Autounfall. Der Unfallverursacher wurde nie gefasst. Es war eine schwere Zeit für Eric gewesen. Trotz des Streits waren es schließlich seine Eltern und sie war verständnisvoll und hatte ihn unterstützt, so gut es ihr möglich war. Sie hatte ihm sogar angeboten die Hochzeit zu verschieben. Wer wollte schon so kurz nach dem Tod der Eltern eine Hochzeit feiern? Aber davon wollte Eric nichts wissen und hielt an dem angesetzten Termin fest. Sie waren gleichermaßen geschockt, als sie erfuhren, dass Eric doch der alleinige Erbe war. Sophia hatte ihn für seine Stärke bewundert. Was er in der kurzen Zeit alles durchmachen musste. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte! Wenige Wochen nach der Hochzeit veränderte sich alles. Weil sie sich seit Tagen unwohl fühlte, war sie nachmittags beim Arzt gewesen. Sie konnte Erics Heimkehr kaum erwarten, wollte ihm die Neuigkeiten vom Arzt unbedingt mitteilen. Gab es denn eine schönere Nachricht, als die ein Kind zu erwarten? Ein Paar, das sich liebt und ein Kind erwartet? Bei Erics Ankunft stürmte sie zu seinem Arbeitszimmer. Die Tür war geschlossen, aber sie hörte Stimmen im Zimmer. Eric war nicht allein. Er stritt sich mit einem anderen Mann. Jemandem, der eine Menge Geld von ihm verlangte, um weiterhin zu Schweigen. Sie hörte unheimliche Geräusche, die Erinnerung daran versetzte sie heute noch in Grauen. Schnell machte sie kehrt, ging die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Starr vor Schreck saß sie eine Weile lang auf dem Bett. Sie holte tief Luft und ging zum Fenster. Damals hatte sie gehofft, dass der schöne Garten, selbst wenn er im Dunklen vor ihr lag, sie etwas beruhigen konnte. Doch leider sah sie im Garten, wie ihr Mann eine Leiche vergrub.

Eric würde einer Scheidung niemals zustimmen. Er hatte jemanden bezahlt, der seine Eltern ermordete und im Anschluss daran den Mörder selbst getötet. Sophia konnte sich vorstellen, was mit ihr geschehen würde, wenn sie das Thema Scheidung auch nur ansprechen sollte.

Endlich war ihre Haltestation erreicht. Sie war froh, als der Bus anhielt und sie aussteigen konnte. Um sich gegen den eisigen Regen zu wappnen, schlug Sophia ihren Kragen so hoch wie möglich und machte sich auf den Weg zur Apotheke. Von Dr. Brandt stärkere Tabletten zu verlangen, war Erics Wunsch gewesen, nicht ihrer. Da Erics Wunsch ihr allerdings Befehl war, hatte sie Dr. Brandt darum gebeten. Die Therapeutin war alles andere als begeistert, aber sie hatte Sophias Bitte schließlich nachgegeben. Sophia hatte das Rezept und sie holte die Tabletten auch in der Apotheke ab. Aber es bedeutete nicht, dass sie diese auch einnehmen würde. Das hatte sie nämlich auf gar keinen Fall vor. Sie war Mutter von zwei Kindern. Sie konnte und wollte ihren Kindern keine Mutter zumuten, die von Medikamenten völlig benebelt war.

Als sie endlich ihr Zuhause erreichte, zitterte sie vor Kälte am ganzen Körper. Ihre Kleidung war bis auf die Haut durchnässt und Sophia fror erbärmlich. Den dunkelgrauen Jaguar in der Einfahrt bemerkte sie gar nicht. Sie schloss die Haustür auf und betrat das Haus. Die angenehme Wärme konnte sie nur auf dem Gesicht spüren. Alle anderen Körperteile fühlten sich taub an. Sophia ging zur Treppe, wollte hinauf in das Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sich vielleicht kurz unter die heiße Dusche stellen, um die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.

Erics Stimme ließ sie innehalten. „Da bist du ja endlich! Bring unserem Gast doch bitte einen heißen Kaffee. Den kann man bei diesem furchtbaren Wetter heute gut gebrauchen“, schallte es aus dem Arbeitszimmer.

Leon starrte das vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Handy missmutig an. Er hatte den Anruf verpasst. Warum war er auch trainieren gefahren? Ausgerechnet heute. Körperliche Fitness war wichtig, aber heute hätte er einen großen Bogen um das Studio seines besten Freundes machen müssen. Er hatte das völlig vergessen, was ein Indiz für seine momentane Unzurechnungsfähigkeit war. Eindeutiger ging es seiner Meinung nach jedenfalls nicht. Die vorwurfsvolle Stimme von Katrin, der Frau seines besten Freundes Milo, hallte immer noch in ihm nach. "Milo ist nicht da. Er ist auf der Geburtstagsfeier deines Vaters."

Das hätte Leon wissen müssen. Als sie noch Kinder waren, lebte Milo mehr bei ihnen daheim als bei sich zu Hause. Selbstverständlich stattete Milo heute Leons Vater zum Geburtstag einen Besuch ab. Milo war eindeutig der bessere Sohn, auch wenn er gar nicht der leibliche Sohn war. Zu allem Überfluss stand Leon just in dem Moment unter der Dusche, als der Anruf einging. Er war erstaunt und höchstens ein kleines bisschen erfreut über die Nachricht auf seiner Mobilbox. Leon hatte die kurze Nachricht gleich mehrmals abgehört. Natürlich nicht, weil er ihre Stimme mochte. Das hatte rein gar nichts damit zu tun. "Hallo. Hier ist Rebecca Brandt. Ich wollte Ihnen nur kurz mitteilen, dass es mir gut geht."

Das war eine sehr kurze Nachricht. Die wichtigste Information im Kurzformat. Er wollte zurückrufen, aber vielleicht war es besser erst etwas Zeit verstreichen zu lassen. Sonst wirkte er womöglich noch aufdringlich. Oder sie machte sich falsche Hoffnungen bezüglich seines Interesses an ihrer Person. Was selbstverständlich rein beruflicher Natur war. Wenn er sich das nur oft genug selbst sagte, glaubte er es vielleicht endlich bald selbst. Nur wie viel Zeit musste überhaupt vergehen damit es angemessen war? Sie sollte natürlich auch nicht denken, dass es ihm egal war. Ein paar Stunden? Leon sah auf seine Uhr. Zwei Stunden waren nun schon vergangen. Er könnte aber auch morgen zurückrufen.

"Ich finde das richtig gut", erklang Dieters Stimme.

Leon verstand den Zusammenhang nicht. "Was findest du gut?"

"Weißt du eigentlich wie ich meine Frau kennengelernt habe?" begann Dieter zu erzählen. "Ich war überhaupt nicht auf der Suche. Hatte doch gerade erst meine Ausbildung beendet und konnte solche Komplikationen wirklich nicht gebrauchen. Zum ersten Mal traf ich sie bei einer Friedensdemo. Da dachte ich mir noch, was für eine bekloppte Friedensaktivistin sie sei. Immerhin war das einer meiner ersten Einsätze. Und die Frau war so störrisch. Bei ihrem Anblick dachte ich erst an einen vom Himmel gefallenen Engel, aber wie kann man nur so störrisch sein. Ein Wunder, dass sie nicht verhaftet worden ist. Es dauerte nicht lange, da traf ich sie wieder. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes versuchte sie mein Auto zu klauen. Na gut, sie wollte es nicht wirklich klauen. Sie hatte das gleiche Modell, in derselben Farbe und ihr Wagen stand meinem direkt gegenüber. Was ihr aber nicht aufgefallen war. Sie hatte sich nur gewundert, warum der Schlüssel nicht passte und war drauf und dran die Scheibe mit einer Bratpfanne einzuschlagen. So kamen wir ins Gespräch. Oh Gott, das ist schon fast vierzig Jahre her." Leon runzelte irritiert die Stirn. Was versuchte Dieter ihm mitzuteilen?

Aber Dieter wechselte bereits das Thema. "Die Frühschicht hat in dem Gruselhaus einen Toten gefunden."

Leon sah ihn verwirrt an. "Was?"

"Das Gruselhaus in der Bergstraße? Da wurde ein Toter gefunden", wiederholte Dieter langsam, als wäre Leon schwer von Begriff.

Ausnahmsweise war Leon das auch. Aber wer konnte bei diesem Themenwechsel auch folgen? Allmählich begann er zu realisieren, was Dieter ihm da gerade mitteilte. Das Gruselhaus in der Bergstraße war ihm leider nur allzu bekannt. "Natürliche Todesursache?"

"Na ja. Verdacht auf Herzinfarkt. Das kann bei einem Mann Mitte dreißig vorkommen. Mal sehen was die Obduktion ergibt." Dieter stellte ein Sparschwein vor Leon auf den Schreibtisch.

"Wofür ist das?" wollte Leon verblüfft wissen und kratzte sich unbewusst am Kinn. Sein Dreitagebart hatte die Angewohnheit immer dann einem Juckreiz zu verfallen, wenn sich etwas Schlechtes anbahnte.

Dieter tippte auf den mit den Worten "Scheißwand" beschrifteten Aufkleber. "Steht doch drauf."

Leon schaute ihn verständnislos an, was Dieter zu einem tiefen Seufzer veranlasste. "Leon, wirklich. Hast du dir die Wände hier in letzter Zeit mal angesehen? Das gesamte Kollegium sammelt, um einen neuen Putz zu finanzieren."

"Und wieso wollen wir das selbst finanzieren?" fragte Leon verwundert.

Dieter rollte mit den Augen. "Dank der Etatkürzungen ist eine solche Kleinigkeit nicht drin. Wenn man bedenkt wie viel Zeit wir hier verbringen, sollten wir es doch zumindest ein bisschen schön haben. Und nebenbei auch verhindern, dass uns Bruchstücke auf den Kopf fallen, was diesen Wänden durchaus zuzutrauen ist."

Leon kramte seinen Geldbeutel heraus. "Wenn wir schon eine interne Spendenaktion machen, sollten wir uns auch gleich eine neue Kaffeemaschine leisten. Die Brühe aus dem antiken Ding schmeckt lausig."

Dieter seufzte erneut auf. "Eure Ansprüche sind einfach unglaublich. Du willst eine neue Kaffeemaschine, Theo einen neuen Streifenwagen. Darf es sonst noch etwas sein?"

"Hey, mein Streifenwagen ist diese Woche schon zum zweiten Mal in der Werkstatt", ertönte eine Stimme aus dem Nachbarzimmer.

"Was an deinen Fahrkünsten oder eher an deinen mangelnden Fahrkünsten liegt, Theo", rief Dieter grinsend zurück. "Und wenn dir der Kaffee hier nicht schmeckt, bring dir doch eine Thermoskanne voll von daheim mit oder steige gleich auf Tee um." Dieter wartete bis Leon einen Schein in den Schlitz des Schweins geschoben hatte und nahm das alberne rosafarbene Ding wieder an sich.

Leon ignorierte Dieters Rat bezüglich des Kaffees, ging zur Maschine und goss sich eine Tasse ein. Sein Bart juckte heute besonders stark.

Dieter setzte sich an seinen Schreibtisch, stellte das Schwein auf der Platte ab und warf Leon einen genervten Blick zu. "Kannst du dich bitte endlich mal rasieren? Das ist ja nicht zum Aushalten."

Leon fuhr sich mit der Hand durch die Stoppeln. "Das bringt nichts. Es ist ein Vorzeichen."

Dieter holte tief Luft. "Ein Vorzeichen? Wofür? Einen Serienkiller?"

Die Sprechstundenzeit war längst vorbei. In der Anfangszeit hatte Rebecca ihre Praxis auch Freitagsnachmittags noch geöffnet. Aber mittlerweile war sie froh über Nataschas Idee, die Praxis freitags ab Mittag zu schließen. So konnte sie sich jede Woche einen ganzen Nachmittag lang nur um den liegengebliebenen Papierkram kümmern. Davon gab es so einigen. Das brachte das Führen einer Praxis leider mit sich. Vertieft in Dokumenten erschrak sie, als Nataschas Stimme durch die Sprechanlage erklang. „Rebecca, hier will dich jemand unbedingt sprechen.“

Rebecca seufzte. „Vereinbare einen Termin.“

„Das würde ich, aber es scheint um etwas Privatem zu gehen.“

Warum war Natascha überhaupt noch hier? Sie hatte schon längst Feierabend. Widerwillig erhob sich Rebecca und ging in das Vorzimmer.

Ein Mann, dessen sehr eigenwillige Erscheinung Rebecca wohl niemals vergessen würde, stand am Empfang. Er musste ihr Eintreten trotz des dicken Teppichs gehört haben, denn er wandte sich ihr sofort zu. „Dr. Rebecca Brandt?“ Der Mann war klein. Um in sein Gesicht zu blicken, musste Rebecca herabschauen. Sein Gesicht war mit Falten überzogen. Sie registrierte seinen buschigen, weißen Schnurbart, die wuchernden Augenbrauen in der gleichen Farbe und die wild abstehenden, weißen Haare.

„Ja, wie kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann stieß tief Luft aus. „Können wir uns einen Augenblick unter vier Augen unterhalten?“

„Ich bin schon weg,“ meinte Natascha und verschwand in der kleinen Küche, die sich hinter der Wand verbarg.

„Mein Name ist Albert Stein. Es obliegt meiner Aufgabe, Ihnen Ihr Erbe zu übermitteln.“ Sein Blick war fest auf Rebecca gerichtet.

„Was?“ Sie war verwirrt. Wovon sprach dieser eigenartige Mann?

Er schloss kurz seine Augen. Dann öffnete er sie schwerfällig wieder. „Dr. Brandt, Sie haben ein Haus geerbt. Steinweg 12.“

Er reichte ihr ein Kuvert. „Das entsprechende Dokument und den Schlüssel entnehmen Sie bitte diesem Umschlag. Ich muss Sie jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Haus weder vermietet noch verkauft werden kann.“

In einem Reflex nahm Rebecca das Kuvert entgegen.

„Ich wünsche Ihnen viel Glück, Dr. Brandt“, teilte er ihr noch mit, bevor er schlurfend davon schritt.

Rebecca sah zu Natascha, deren Kopf hinter der Wand hervorlugte und sie überrascht anschaute. Dann glitt ihr Blick wieder zu dem Umschlag in ihrer Hand.

Gute Welt, böse Welt

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