Читать книгу Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung - Andreas Kannicht - Страница 7

1.2.1 Die vier »Klassiker«

Оглавление

Theorie, Technik, Haltung und Kontextsensibilität stellen vier grundlegende Dimensionen dar, mit denen man den systemischen Ansatz charakterisieren kann. Die in diesem Buch beschriebenen Selbststeuerungskonzepte können als die fünfte Dimension bezeichnet werden.

Die systemische Therapie und Beratung entwickelte sich vor dem Hintergrund theoretischer Paradigmen, die in den 1950er-Jahren entstanden sind und neue Perspektiven auf die Wirklichkeit eröffnet haben. Stichworte für diese Entwicklung sind »Kybernetik« und »Systemtheorie«. Sie war eine interdisziplinäre Bewegung, interessanterweise mit vielen Wissenschaftlern aus naturwissenschaftlichen Bereichen und somit keine originäre Entwicklung im Bereich von Psychotherapie und Beratung. Physiker, Biologen und Ethnologen waren federführend, und erst in der Folge griffen Psychotherapeuten in den USA (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1969), in Italien (Selvini Palazzoli et al. 1977) und anschließend auch in Deutschland (Stierlin 1982) die Kybernetik, Systemtheorie und die Theorie der Autopoiese, wenig später auch den radikalen Konstruktivismus und weitere Theoriegebäude wie Chaostheorie und Synergetik auf. Diese Hintergrundtheorien prägen nach wie vor das Denken von systemischen Beratern und Psychotherapeuten.

Um den neuen Perspektiven auf die Wirklichkeit durch neue Zugangsweisen zu entsprechen, musste man im Bereich der Psychotherapie alternative Vorgehensweisen und Techniken entwickeln. So ersannen die systemischen Pioniere Vorgehensweisen, die dem systemisch-zirkulären Wirklichkeitsverständnis entsprachen. Psychische Krankheit bzw. psychische Probleme sollten nicht mehr primär im Kontext der Entstehungsgeschichte innerer Wirklichkeiten, sondern im Kontext der sozialen Systeme, in denen sie entstanden waren und aufrechterhalten wurden, näher untersucht werden. Deshalb wurde das Setting verändert und nicht mehr der »Indexpatient« alleine, sondern gemeinsam mit seiner Familie eingeladen. Spezifische Frage- und Interventionstechniken für die »Familientherapie« entstanden und etablierten sich zunehmend als eigenständige Methodik.

Weitere Methoden des systemischen Vorgehens ermöglichten zunehmend, dass sich systemisches Arbeiten von dem Setting »Familientherapie« abkoppelte. Es bedurfte (durch spezifische Fragetechniken) nicht mehr unbedingt der realen Anwesenheit der Systemmitglieder, da sie durch hypothetische Fragen auch bei Abwesenheit einbezogen werden konnten. Die systemische Therapie ohne Familie (Weiss 1988) war geboren. Einige dieser neuen Methoden knüpften an psychotherapeutische Konventionen an (z. B. die Arbeit mit Genogrammen), andere entwickelten sich zu einer eigenständigen, innovativen Methode. Das zirkuläre Fragen, die Abschlussintervention, positive Konnotation, Arbeit mit der »inneren Familie« und Arbeit mit dem »Reflecting Team« sind Beispiele.

Zeitgleich wurde deutlich, dass mit diesen neuen Paradigmen und methodischen Vorgehensweisen eine veränderte Haltung der Berater bzw. Therapeuten verbunden war. Neutralität als eine Haltung, die jedem Mitglied des Systems gerecht werden sollte, war ein wichtiger Grundsatz für die Arbeit in dem neuen Setting der Familientherapie. Manche Autoren fanden, dass Vielparteilichkeit und humorvolle Distanz, also eine insgesamt unparteiliche Haltung, sich besser mit Bezogenheit kombinieren ließen. Konstruktivistische Einflüsse brachten systemisch orientierte Praktiker auf die Idee, pathologieorientierte Konzepte infrage zu stellen und nach anderen Sichtweisen Ausschau zu halten. Es wurde als hilfreicher angesehen, Klienten mit einer ihre Kompetenzen hervorhebenden und wertschätzenden Haltung zu begegnen. Neutralität, Ressourcen- und Lösungsorientierung galten anfänglich als typische Haltungen für systemische Theorie und Praxis.

So entstand ein für den systemischen Ansatz charakteristisches Repertoire an Theorien, Techniken und Haltungen. Durch die Übertragung der systemischen Vorgehensweisen in andere als psychotherapeutische Arbeitsfelder nahmen systemische Berater zunehmend verschiedene Kontexte in den Blick, in denen beraterische Gespräche stattfinden. Sie begannen, nicht etwa »nur« die Klienten und deren Kontexte zu beobachten, sondern beobachteten sich jetzt auch selbst. Es machte einen Unterschied, ob der Berater in einer medizinischen Institution arbeitet oder in freier Praxis. Die Frage, wer den Klienten vermittelt hat, kann den gesamten Beratungsprozess entscheidend prägen. Wenn Beratungen in Freiwilligkeit stattfanden, wurden andere Muster und Dynamiken identifiziert als in einem Zwangskontext. Aus diesen Überlegungen ergab sich eine zusätzliche vierte Dimension, mit der sich der systemische Ansatz schnell auf ganz unterschiedliche Arbeitsfelder ausdehnen konnte. Modelle, die unterschiedliche Arbeitsfelder und Arbeitskontexte berücksichtigen, wurden entwickelt. Konzepte und Modelle wie das Auftragskarussell, die Unterscheidung von Besucher-, Klagenden- und Kundendynamiken, der Dreiecksvertrag und die Unterscheidung von Hilfearten sowie von Freiwilligkeit und Zwang standen für diese Perspektive. Die vierte Dimension systemischen Denkens war geboren: die Kontextsensibilität.

Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung

Подняться наверх