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1.2.2 Die fünfte Dimension – Steuerung

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Um die Gesamtsicht auf die sich weiter und weiter verzweigende systemische Bewegung zu erhalten, benötigen wir noch eine fünfte Dimension. Sie wurde insbesondere vor dem Hintergrund der Übertragung systemischer Konzepte auf den Kontext von Organisationsberatung, Teamentwicklung und Coaching erarbeitet. Schmid (1992) nannte sie »Metakonzepte« bzw. »Selbststeuerungskonzepte«. Sie wurden bislang nur unsystematisch in die systemische Theoriebildung integriert. Dies systematischer anzugehen ist das Anliegen dieses Buches. Zunächst können Metakonzepte für den Praktiker nicht so wichtig oder nicht leicht zugänglich erscheinen, wirken sie doch auf den ersten Blick recht abstrakt. Doch halten wir dem das Bonmot von Kurt Lewin entgegen: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!« Steuerungskonzepte haben sich in unzähligen Supervisionen und Falldiskussionen als ordnende Kraft bewährt. Wichtig ist, sich mit ihnen so auseinanderzusetzen, dass sie in die professionelle Intuition übergehen. Am besten nähert man sich dem Verständnis von Steuerungskonzepten daher durch eine Metapher:

Wenn ein Künstler ein Bild malen möchte, braucht er Wissen über Techniken. Wie geht man mit dem Pinsel um? Welche Farben (Aquarell, Öl, Acryl …) gibt es, und wie wende ich sie an? Welche Untergründe muss man wie bearbeiten? Wie erzeuge ich Licht und Schatten? Wie teile ich ein Bild auf, welche Ausschnitte wähle ich …? Aber alle diese Fertigkeiten machen ihn noch nicht zum Künstler. Wenn er zusätzlich Wissen über Kunstgeschichte hat, über Kulturepochen und Stilrichtungen, hilft ihm dies auf seinem Weg. Aber auch dies gibt ihm keine Orientierung, wenn er vor der weißen Leinwand steht. Gut ist es, wenn er sich auf das Malen einstimmt, sich sammelt, nicht aus der Hektik des Alltags oder mit den Gedanken an den nächsten Hausputz an die Arbeit macht. Aber wie soll er nun anfangen, welche Farbe, welches Motiv, welche Technik einsetzen? Zu groß ist die Anzahl der Möglichkeiten, und mit dem ersten Strich sind schon Vorgaben gesetzt. Was er zusätzlich benötigt, ist eine Idee von dem, was er ausdrücken möchte, und die Bereitschaft, sich dann von dem Prozess des künstlerischen Gestaltens leiten zu lassen. Diese innere Suche nach dem Motiv und nach der damit zusammenhängenden sinnvoll auszuwählenden Technik, dieses Erspüren dessen, welche Striche Sinn erzeugen und welche übermalt werden sollten, dieses Fokussieren und Wiederloslassen von Fokussierungen – das kann als Selbststeuerung verstanden werden.

Übertragen wir diese Metapher auf den beraterischen Prozess, so wird deutlich, dass wir als systemische Berater gut daran tun, die Techniken zu erlernen und zu üben. Wir werden auch sicherer, wenn wir nützliche Haltungen dem Klienten gegenüber einnehmen. Und wir profitieren davon, wenn wir uns kundig gemacht haben, wie Systemtheorie Wirklichkeitsphänomene als rekursiv und kontextbezogen begreift, wie der radikale Konstruktivismus von Perspektivenvielfalt ausgeht, wie das Anerkennen der Eigengesetzlichkeit lebender Systeme die Möglichkeit von instruktiver Interaktion infrage stellt. Dies alles hilft mir als Berater, und doch stellt sich die Frage, wann ich welche Technik einsetze, wann welche der Haltungen, wann welche der vielen möglichen Wirklichkeitskonstruktionen nützlich sind. An dieser Frage setzen die Steuerungskonzepte an. Bateson sagte, die Kategorie »Stuhl« sei kein weiterer Stuhl. Techniken geben Orientierung im praktischen Vorgehen, erklären aber nicht aus sich heraus, wann ihr Einsatz sinnvoll ist. Um die Frage zu entscheiden, wann ich welche Technik einsetze, brauche ich Konzepte auf einer logisch nächsthöheren Stufe.

Insofern bieten Steuerungskonzepte keine weiteren Techniken, sondern sie sind Metakonzepte für das Navigieren in komplexen Beratungsprozessen. Sie sind abstrakt, da sie nicht beantworten, wie ich in der Beratung konkret vorgehe. Sie helfen aber, die Frage zu beantworten, welche Wirklichkeitsbeschreibungen und Techniken wann sinnvoll eingesetzt werden können. Zugleich verdeutlichen sie, welche Wirklichkeitsvorstellungen mit welcher Technik implizit eingeführt werden und welche Konsequenzen dies haben kann. Sie können Orientierung anbieten angesichts der überwältigenden Komplexität und Möglichkeiten, die sich in Beratungsprozessen ergeben. So helfen sie, einerseits Komplexität zu reduzieren, wo wir in Orientierungslosigkeit versinken würden, und andererseits Komplexität in Situationen zu erhöhen, in denen wir sonst Scheuklappen aufhätten. Deshalb beinhalten viele dieser Konzepte eine Auswahl von Perspektiven. Welche Perspektive nehme ich gerade ein? Habe ich überhaupt eine Perspektive? Welche anderen Perspektiven könnte es noch geben? Welche der möglichen Perspektiven koppelt bei dem Klienten an? Welche ergibt für mich als Berater am meisten Sinn? Habe ich gewohnheitsmäßige Perspektiven, bei denen ich typischerweise lande? Wie kann ich sie wieder verlassen?

In diesem Buch wird eine Vielzahl solcher Metakonzepte beschrieben. Diese Konzepte nähren schöpferische Beraterkraft auf sinnvolle, rationale Art. Sie sollen aber nicht eine zweite Quelle unserer schöpferischen Beraterkraft, die kreative Inspiration, vergessen machen. Deshalb fügen wir zunächst einen Abschnitt über Intuition an. Die Kraft der Intuition wird im Verständnis der Steuerungskonzepte gleichsam als Pendant zur Kraft der rationalen Metatheorie verstanden. Erspüren und Denken sind in diesem Konzept kein Widerspruch, sondern hilfreiche Ergänzungen.

Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung

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