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1 Kinder in der Frühförderung

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Nach den Erhebungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik ISG erhalten in Deutschland ca. 2,3 % der Vorschulkinder Frühförderung, dies entspricht einer Gesamtzahl von rund 112.000 Kindern (Stand: 2010; ISG, 2012). Diese Versorgungsquote von bundesweit 2,3 % weicht regional zum Teil erheblich vom bundesdeutschen Durchschnittswert ab.

Im Schulkindalter wird aktuell im Bundesdurchschnitt bei 6,6 % aller Kinder ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt (Bertelsmannstudie, 2015). Insofern erscheint bei der Frühförderung in Deutschland eine aktuelle Versorgungsquote von 2,3 % im gesamten Vorschulalter eher niedrig.

Das Gesamtsystem der Frühförderung war und ist auch aktuell deutschlandweit immer noch sehr unterschiedlich entwickelt. Neben den (heilpädagogischen und interdisziplinären) Frühförderstellen sowie Sozialpädiatrischen Zentren sind in Deutschland an vielen Orten auch niedergelassene Praxen als Leistungserbringer und/oder Kooperationspartner für Frühförderstellen tätig. Spezielle Frühförderstellen für Kinder mit Sinnesbeeinträchtigungen erbringen überwiegend mobile heilpädagogische Leistungen als Einzelförderung. Der Anspruch auf Frühförderung ist im § 46 Sozialgesetzbuch IX verankert. Als Interdisziplinäre Frühförderung erfolgt eine gemeinsame Finanzierung der beteiligten Rehabilitationsträger (Krankenkasse und Träger der Eingliederungshilfe). Umfasst die Leistung ausschließlich heilpädagogische Leistungen, so werden diese im Rahmen der Eingliederungshilfe finanziert. Auch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe können als Rehabilitationsträger solche Leistungen erbringen. Werden ausschließlich medizinisch-therapeutische Leistungen im SPZ erbracht, werden diese nur von der Krankenkasse finanziert.

Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ein komplexer Umgestaltungsprozess des SGB IX und der Frühförderungsverordnung in Gang gesetzt worden. In den kommenden Jahren ist deshalb ein Wandel in der Versorgungs- und Organisationsstruktur zu erwarten, damit die Zielsetzungen des BTHG aus der Perspektive der Interdisziplinären Frühförderung erreicht werden können (Krinninger, 2020).

Tab. 1: Altersverteilung von Kindern in der Frühförderung. N = 904, davon Jungen 580 (64,2 %) und Mädchen 324 (35,8 %) (ISG 2008)


Anteil in %

Im Rahmen der Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG 2008) wurden auch soziodemographische Merkmale von Kindern in der Frühförderung erhoben (Tabelle 1). Dabei zeigte sich deutlich, dass die meisten Kinder im Frühfördersystem 3 Jahre und älter sind; fast die Hälfte der Kinder sind über 5 Jahre alt. Die in der Tabelle 1 genannten Anteile unterschieden sich zwischen den Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren nur geringfügig. Die Altersmerkmale werden durch die Daten der Sozialhilfestatistik im Verlauf bestätigt: Bei Kindern von 0 bis 7 Jahren werden ca. 11 % der Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen für unter 3-Jährige aufgewendet, während für Kinder von 3 bis 7 Jahren 89 % der Aufwendungen genutzt werden (Statistisches Bundesamt 2015). Der Anteil der einzelnen Altersgruppen der Frühförderkinder unterscheidet sich regional zum Teil deutlich. Beispielsweise werden in Bayern (FranzL-Studie 2011) im Vergleich zur Altersschichtung, die die ISG-Studie ermittelt hat, anteilsmäßig mehr Säuglinge und deutlich weniger ältere Kindergartenkinder im Frühfördersystem betreut. Gerade im Hinblick auf die niedrig erscheinende Versorgungsquote von bundesweit 2,3 % und die Altersstruktur der Frühförderkinder stellt sich die Frage, warum insbesondere nicht mehr Säuglinge und jüngere Kleinkinder in Frühförderermaßnahmen einbezogen sind. Ein Erklärungsansatz wäre, dass die (drohende) Behinderung bei vielen Kindern im Vorschulalter erst im Entwicklungsverlauf entsteht und deshalb erst im späteren Kleinkindalter (vor der Einschulung) offensichtlich und diagnostizierbar wird. Eine andere Erklärung könnte sein, dass Säuglinge und junge Kleinkinder mit Entwicklungsrückständen und Teilhabebeeinträchtigungen nicht frühzeitig dem Frühfördersystem zugewiesen werden.

Die Störungsbilder und Diagnosen der Kinder, die Frühförderung erhalten, haben sich in den letzten dreißig Jahren deutlich verändert. Während noch in den 1980er Jahren die Kinder mit klassischen Störungsbildern und Diagnosen wie Störungen der Sinneswahrnehmung, Zerebralparese, Down-Syndrom oder sogenannten Mehrfachbehinderungen im Vordergrund standen, repräsentieren diese Störungsbilder heute weniger als 20 % der Diagnosen in der Frühförderung. Bei den weitaus meisten Kindern werden heute allgemeine Entwicklungsstörungen (der Kognition, der Sprache, der Motorik, der Wahrnehmung) sowie psychosoziale und emotionale Auffälligkeiten (als Störungen des Verhaltens oder der psychosozialen Entwicklung) als Indikation für eine solche Frühförderung beschrieben. Abbildung 1 zeigt die Verteilung und Häufigkeit der erfassten Diagnosen in Thüringer Frühförderstellen im Jahr 2010. Allgemeine Entwicklungsverzögerungen, Störungen der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, der Sprache sowie Auffälligkeiten der psychosozialen Entwicklung sind die am häufigsten genannten Diagnosen.


Abb. 1: Verteilung der in den Frühförderstellen erfassten Diagnosen (alle Angaben in %) in Thüringen im Jahr 2010; Anteil der Jungen: 65,1 %, Mädchen: 34,9 %. N = 2868, Mehrfachnennungen möglich (Sohns et al. 2015).

Diese Verteilung von Diagnosen und Störungsbildern wird durch andere Untersuchungen (z. B. ISG-Bericht oder die FranzL-Studie) bestätigt. In den Statistiken der Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) finden sich für Vorschulkinder ähnliche Häufigkeiten bei den Diagnosen nach der ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation) mit einer deutlichen Dominanz der sogenannten umschriebenen kombinierten Entwicklungsstörung. Die kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (mit dem ICD Code F83) hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ursprünglich als eine Restkategorie für Störungen, bei denen eine gewisse Mischung von umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, schulischer Fertigkeiten und motorischer Funktionen vorliegt, von denen jedoch keine dominiert, definiert. Meist sind die Störungen auch mit einem gewissen Grad an allgemeiner Beeinträchtigung kognitiver Funktionen verbunden. Andere häufige Diagnosen bei Vorschulkindern in den SPZ sind:

Sprachentwicklungsstörungen (ICD-Code F80.-)

Koordinationsstörungen (F82.-; hierunter werden auch sogenannte Wahrnehmungsstörungen oft kategorisiert) sowie

Auffälligkeiten und Störungen im Bereich des Verhaltens und der sozial-emotionalen Entwicklung.

Diese Veränderungen im Auftreten der Störungsbilder in der Frühförderung bilden einen Trend bei der Beschreibung der Kindergesundheit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland ab und werden als »neue Morbiditäten«, »new epidemics« oder »neue Kinderkrankheiten« bezeichnet. Damit ist allgemein eine Verschiebung der Störungsbilder von akuten zu chronischen Krankheitsbildern sowie von primär körperlich bedingten Krankheiten zu funktionellen und psychischen Entwicklungsstörungen gemeint (Schlack et al. 2008). »Neue Morbiditäten« beschreiben also die Zunahme chronischer Erkrankungen und die Zunahme verschiedener Formen von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen im Kindesalter, wie motorische Entwicklungsstörungen (Koordinationsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen), verzögerte Sprachentwicklung (Sprachentwicklungsstörungen), Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne Hyperaktivität und weitere psychische Auffälligkeiten wie zum Beispiel Depressionen oder Aggressivität. Die Entstehung dieser »neuen Morbiditäten« ist fast immer multifaktoriell bedingt, bei denen genetische und verschiedene Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Die Zunahme dieser Störungsbilder und Diagnosen lassen sich vor diesem Hintergrund am ehesten durch veränderte Umweltfaktoren verstehen. Damit sind die veränderten und sich weiter rasch ändernden Lebenswelten von Kindern gemeint (Familie, Gesellschaft). Diese Umweltfaktoren stellen wahrscheinlich besondere Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben heranwachsender Kinder. Dabei ist anzunehmen, dass insbesondere soziale und einstellungsbezogene Faktoren bei den Kontextfaktoren in der Pathogenese der »neuen Morbiditäten« von Bedeutung sind. So treten diese Entwicklungsstörungen bei Kindern, die aus einer Familie mit einem niedrigen sozioökonomischen Status kommen, häufiger auf als bei Kindern, die aus Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status stammen. Es wird deshalb auch einem sozialen Gradienten bei den »neuen Morbiditäten« gesprochen (Schlack et al. 2008).

Besonders gefährdet sind dabei die Kinder, die eingeschränkte kognitive Fähigkeiten haben und/oder weniger resilient sind. Resilient sein bedeutet dabei eine gewisse (psychische) Widerstandsfähigkeit zu haben, um besondere Anforderungen und Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern.

Bei allen Untersuchungen zur Gesundheit und zur Entwicklung von Kindern wird der Stellenwert sozioökonomischer und sozialer Daten deutlich. Kinder mit Frühförderbedarf sind sehr viel häufiger durch soziale und familiäre Problemlagen multifaktoriell belastet. Die Häufigkeiten für das Auftreten von Entwicklungsauffälligkeiten im Kindesalter folgen deutlich erkennbar einem sozialen Gradienten. Dies zeigt sich bei den Ergebnissen der KiGGS-Studie sowie durch ein schlechteres Abschneiden bei den Befunden in den Schuleingangsuntersuchungen, z. B. bei den schulrelevanten Fertigkeiten und den Befunden zur Sprachentwicklung (Langenbruch, 2014; Kuntz et al. 2018).

Die Gesundheit, und damit auch die Entwicklung der Kinder, variiert auch z. B. mit der Familienform, in der sie aufwachsen. So hat die Reduktion der Familie auf eine Eltern-Kind-Dyade Auswirkungen auf das psychosoziale Wohlbefinden von Kindern (Klocke, 2012). Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, deren Eltern niedrigere Bildungsabschlüsse haben und/oder die in benachteiligten Sozialräumen heranwachsen, erzielen im Altersvergleich deutlich schlechtere Ergebnisse im Bereich der Gesundheit, Entwicklung oder Bildung (Gross & Jehles, 2015). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich für Kinder aus Migrantenfamilien sowie für Kinder mit anderen Risikofaktoren, zum Beispiel Frühgeborene. Bei Kindern aus Migrantenfamilien ist zu berücksichtigen, dass diese häufiger mit einem niedrigeren Sozialstatus korrelieren. Dies gilt besonders für Kinder, die einen beidseitigen Migrationshintergrund haben. Nach der KiGGS-Definition verfügen über einen beidseitigen Migrationshintergrund solche Kinder, die selbst aus einem anderen Land zugewandert sind und von denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist oder von denen beide Eltern zugewandert und/oder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sind. Dies ist aktuell bei etwa 17 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland der Fall. Etwas mehr als 8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen einseitigen Migrationshintergrund, d. h. sie sind in Deutschland geboren und ein Elternteil ist aus einem anderen Land zugewandert und/oder nichtdeutscher Staatangehörigkeit. Insgesamt weisen also derzeit mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland einen ein- oder beidseitigen Migrationshintergrund auf. Kinder und Jugendliche mit beidseitigem Migrationshintergrund leben nach den KiGGS-Untersuchungen zu einem beträchtlich höheren Ausmaß in sozial benachteiligter Lage, verglichen mit Kindern und Jugendlichen ohne bzw. mit einseitigem Migrationshintergrund (RKI, 2008; Santos-Hövener et al. 2019).

Aus den oben genannten Inhalten leitet sich ab, dass Umweltbedingungen, also Kontextfaktoren, das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern entscheidend beeinflussen. Damit wird auch deutlich, dass eine kontextorientierte resp. familien- und sozialraumorientierte Betrachtung bei der Diagnostik und der Umsetzung von Inhalten aus Förder- und Therapieplänen für entwicklungsgestörte Kinder notwendig ist.

In allen Untersuchungen von Frühförderkindern in den letzten zwanzig Jahren zeigt sich, dass Jungen insgesamt häufiger von Entwicklungsverzögerungen und betroffen sind; diese Jungenwendigkeit liegt bei ungefähr 2/3 zu 1/3 ( Tab. 1 und Abb. 1). Eine ebensolche Geschlechtsverteilung im Vorschulalter zeigen Analysen der Inanspruchnahme von Leistungen des medizinischen Systems (zum Beispiel in der Sozialpädiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie), der Jugendhilfe sowie die Ergebnisse von Schuleingangsuntersuchungen in den verschiedenen Bundesländern (Langenbruch, 2014; Rommel et al., 2018).

Ein weiteres Beispiel für die oben beschriebenen Phänomene sind die Ergebnisse bei den psychischen Auffälligkeiten in der KiGGS-Studie ( Tab. 2). Als Untersuchungsinstrument für diese Untersuchungen wurde der SDQ (Strenghts and Difficulties Questionaire)-Fragebogen eingesetzt. Der SDQ-Fragebogen zur Erhebung von Verhaltensauffälligkeiten und -stärken von Kindern wird international genutzt und ist in verschiedenen Sprachen kostenlos im Internet verfügbar (https://www.sdqinfo.com/).

Die psychischen Auffälligkeiten sind bei den Jungen deutlich stärker ausgeprägt als bei den Mädchen. Dies gilt für das erfasste Vorschulalter der 3–6-Jährigen, aber auch für die gesamte in der Studie erfasste Kinder- und Jugendzeit (3–17 Jahre). Je niedriger der soziale Status der Herkunftsfamilie, desto höher ist der Anteil der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten (Klipker et al., 2018). Dabei ist das Risiko für solche Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus mehr als dreimal so hoch als bei Kindern, deren Familien einen hohen Sozialstatus aufweisen. Diese Zusammenhänge zwischen Sozialstatus und Entwicklungsauffälligkeiten gelten sowohl für Mädchen als auch für Jungen ( Tab. 2).

Tab. 2: Bedeutung des Geschlechts sowie des Sozialstatus: Anteil der 3–6 Jahre alten Kinder und der Gesamtgruppe (3–17 Jahre) mit psychischen Auffälligkeiten (SDQ-Gesamtproblemwert, Elterneinschätzung; weitere Informationen zum Fragebogen unter http://www.sdqinfo.com/) in Abhängigkeit vom Sozialstatus. Der Sozialstatus bezieht sich auf die Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3–17 Jahren (Quelle: KiGGS, 2014).


SDQ-Gesamtproblemwert in % (95 % Konfidenzintervall)MädchenJungen

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